22.11.2013
Benjamin-Immanuel Hoff

Schwarz-grüne Lernaufgaben für das rot-grün-rote Spektrum

Aus dem Fall Hessen können die Parteien des rot-grün-roten Spektrums nur klüger werden

Seit dem 22. September 2013 haben fast alle Parteien im Wiesbadener Landtag in unterschiedlichen Konstellationen ausführlich miteinander darüber beraten, ob die Bildung einer Landesregierung möglich sei.

Allein die FDP, in einem Gnadenakt der Wählerinnen und Wähler noch einmal in den Landtag entsendet, hatte den Schuss offensichtlich nicht gehört und verweigerte sich – wie bereits 2008 – der demokratischen Selbstverständlichkeit, sich in die Prüfung der Bildung einer Landesregierung einzubringen.

Nachdem in jeweils vier Sondierungsrunden SPD, Grüne und Linke einerseits sowie CDU und SPD bzw. CDU und Grüne andererseits Gemeinsamkeiten und Unterschiede eruierten, scheint es nun zum dritten Mal eine Landesregierung in Deutschland zu geben, die von CDU und Grünen gebildet wird.

Sollten sich Volker Bouffier und Tarek Al-Wazir tatsächlich über ein Bündnis einigen können, sprechen einige Gründe dafür, dass diese Regierung stabiler agieren wird, als die jeweils vorfristig beendete schwarz-grüne Koalition in Hamburg unter Ole von Beust bzw. die bereits in ihrer Gründung fragile Jamaika-Koalition im Saarland.

Das hessische Politiklabor

So wie Nordrhein-Westfalen im Hinblick auf seine sozio-demographische und flächenmäßige Struktur gemeinhin als kleine Bundesrepublik bezeichnet wird, kann Hessen von sich behaupten, ein bundesdeutsches Politiklabor zu sein.

Hier wurde im Dezember 1985 die erste rot-grüne Landesregierung geschlossen, die bereits 1987 scheiterte. Im Jahre 2008 verhandelte Andrea Ypsilanti in Wiesbaden, letztlich erfolglos, über ein rot-grün-rotes Bündnis und nachdem in den vergangenen Wochen durch sehr unaufgeregte Verhandlungen letztlich auch zur Enttabuisierung von rot-grün-rot beigetragen wurde, entsteht nun die nächste schwarz-grüne Landesregierung.

Angesichts des schon legendär rauhen parteipolitischen Wettbewerbs in Hessen mag dies durchaus verwundern. Doch nur auf den ersten Blick. So wie der SPD-Ministerpräsident Holger Börner im Streit um die Startbahn West die Grünen noch »mit der Dachlatte« verprügeln wollte, ließ Roland Koch 2008 die xenophob und antikommunistisch untersetzte Losung »Ypsilanti, Al Wazir und die Kommunisten verhindern« plakatieren. Letztlich hindert dies SPD und nun die CDU nicht, doch ein Bündnis mit der Öko-Partei einzugehen.

Koalitionsoptionen im Fünf-Parteien-System

Vor dem Hintergrund des strukturellen Wandels im bundesdeutschen Parteiensystem ist dies eine logische und selbstverständliche Entwicklung.

Im Zuge abgeschwächter Bedeutung ursprünglich prägender Milieu- und Wertebindungen an Parteien reduzierte sich sukzessive der Wähleranteil der Volksparteien, während die Zahl der in Parlamenten vertretenen Parteien zunahm.

Abgesehen von der Bundestagswahl 1998 bei der sie 40,9 Prozent erreicht, konnte die SPD die »magische Grenze« von 40 Prozent der Wählerstimmen seit 1983 auf Bundesebene nicht mehr überschreiten. Während die SPD-Wahlergebnisse in den 1980er Jahren in einem unmittelbarem Zusammenhang mit dem Eintritt der Grünen in den Parteienwettbewerb standen, traf der Trend abnehmender Wählerbindung mit einiger zeitlicher Verzögerung auch die CDU als zweite Volkspartei.

Während Union und SPD zwischen den Bundestagswahlen 1957 und 1983 durchschnittlich 86,9% der Wählerstimmen auf sich vereinigen, reduzierte sich dieser Anteil zwischen 1987 und 2013 auf einen Durchschnittswert von 72,9 Prozent.

Anders als im ursprünglichen Drei-Parteien-System, bestehend aus CDU, SPD und FDP, in dem alle Parteien miteinander koalitionsfähig waren, erhöhte sich mit Gründung und Etablierung der Grünen nur die Koalitionsfähigkeit der SPD. Seit der ersten hessischen rot-grünen Landesregierung wurden in Deutschland insgesamt 21 Regierungsbündnisse aus SPD und Grünen auf Bundesebene (2) und auf Landesebene (19) geschlossen.

Mit dem Eintritt der PDS und heutigen Partei Die Linke in den Parteienwettbewerb entstand das Fünfparteiensystem, das von folgenden Merkmalen geprägt ist:
- die Bildung von sogenannten kleinstmöglichen Gewinnkoalitionen aus einer größeren und einer kleineren Partei wird tendenziell schwieriger,
- während die beiden, die alte Bundesrepublik seit den 1980er Jahren prägenden Lager, schwarz-gelb versus rot-grün, an Bedeutung verlieren, steigt die Bedeutung, jenseits der klassischen Lager bündnisfähig zu werden.

Nachdem es zur Bildung einer rot-grünen Bundesregierung zum dritten Mal hintereinander nicht gereicht hat, verbreiterte der SPD-Bundesparteitag jüngst mit einer demokratischen Selbstverständlichkeit die sozialdemokratischen Handlungsoptionen verbreitert: nunmehr werden auch auf Bundesebene rot-grün-rote Bündnisse nicht mehr ausgeschlossen.

Einige Wochen zuvor konstatierten bereits die Grünen, angesichts des weit verfehlten Wahlziels, dass rot-grün zwar wünschenswert aber nicht mehr zwangsläufig mehrheitsfähig ist. Sie zogen daraus den Schluss, künftig sowohl schwarz-grüne Bündnisse als auch rot-grün-rote Koalitionen anzustreben.
Während auf der Mitte-Links-Seite des politischen Wettbewerbs die Koalitionsoptionen somit zumindest theoretisch zunehmen, drohen die Unionsparteien ins Hintertreffen zu geraten.

Will die CDU angesichts der Schwäche der FDP und der immer geringeren Wahrscheinlichkeit von absoluten Mehrheiten nicht dauerhaft auf Große Koalitionen mit der SPD angewiesen sein, bleibt ihr schlechterdings gar nichts weiter übrig, als sich gegenüber den Grünen zu öffnen.

Die Grünen wiederum sind in der komfortablen Situation, die lange postulierte »Äquidistanz« zu den demokratischen Parteien zu begraben und trotz ihrer Präferenz für rot-grüne Bündnisse diejenigen Konstellationen wählen, die in der konkreten Situation am zweckmäßigsten sind.

Schwarz-Grün – ein letztlich normales Regierungsbündnis

Wer die Debatte über Schwarz-Grün in den vergangenen Jahren verfolgt hat, wird auf eine Vielzahl von Beiträgen gestoßen sein, die einem solchen Bündnis historische Bedeutung beimessen. Wahlweise versöhnten sich die CDU, die unter Adenauer die Bundesrepublik aufgebaut hat mit den Grünen, die diese Republik als Anti-Partei umkrempeln wollten oder die APO-Kinder der Studierendenbewegung 1968 mit ihren konservativen Eltern.

Für das Feuilleton mögen diese Vergleiche und historischen Bezugspunkte geeignet sein. In der politischen Tagesarbeit gehen sie an der Sache vorbei.

Im Kern können wir feststellen, dass es möglicherweise erst zu einem späteren Zeitpunkt als ein wesentliches Verdienst von Angela Merkel und nicht Gerhard Schröder angesehen werden, tatsächlich den Übergang von der Bonner zur Berliner Republik ermöglicht zu haben. Unter ihrer Ägide wurden die gesellschaftlichen Großkonflikte der Bonner Republik, die noch die rot-grüne Bundesregierung bei den Themen Atomkompromiss und Staatsbürgerschaft mit Union ausfocht, entschärft bzw. erledigt zu haben. Der Atomausstieg ist beschlossen, die doppelte Staatsbürgerschaft wird – in irgendeinem Übergangskompromiss – eingeführt und die Gleichstellung der Homo-Ehe auch in absehbarer Zeit umgesetzt sein.

Damit sind im Wesentlichen alle Grundlagen für eine größere koalitionspolitische Flexibilität der Berliner Republik geschaffen – auch in Hessen, wo man sich nun wenigstens nur noch über den Flughafenausbau und nicht mehr über die Atommeiler Kontroversen liefern muss.

Nachdem auf Bundesebene ein schwarz-grünes Regierungsbündnis daran scheiterte, dass sich die Grünen auf dieses Experiment (noch) nicht verständigen konnten, lag es im Interesse sowohl von CDU als auch den Grünen, die nächste Gelegenheit für ein solches Bündnis zu ergreifen.

Inhaltlich sind die Schnittmengen zwischen beiden Parteien mindestens ebenso groß wie die Schnittmengen mit SPD und Grünen. Der Sondierungsbericht der grünen Verhandlungsgruppe, der am 2. November 2013 auf dem Parteirat der hessischen Grünen beraten wurde, konstatierte nüchtern:
Bei den Themen Energie, Bildungs- und Betreuungsgarantie sowie Schulfrieden ließen sich in der Summe – wenn auch mit unterschiedlichen Akzentuierungen bei den Themen und Parteien – in möglichen Koalitionsverhandlungen hinreichend viele Gemeinsamkeiten sowohl mit SPD und Linken als auch mit der CDU finden.

Beim Thema Fluglärmschutz und generell beim Thema Verkehrsinfrastruktur gäbe es große Schnittmengen mit der Linkspartei, während es hier sowohl mit SPD als auch der CDU große Differenzen gäbe.

Auf dieser Grundlage nahm der grüne Parteirat »zur Kenntnis«, dass sich im aktuellen Hessen-TREND von Infratest dimap jeweils 48 Prozent der hessischen Grün-Wähler sowohl für eine rot-grün-rote Koalition als auch für schwarz-grün erwärmen konnten.

Die hessischen Grünen, die gemeinsam mit den Parteifreunden aus Baden-Württemberg traditionell zum Realo-Flügel der Partei zählen, werden am Bündnis mit der CDU keine größeren innerparteilichen Konflikte zu erwarten haben. Die CDU wird vermutlich deutlich stärkere innerparteiliche Widerstände zu überwinden haben. Vielmehr zeigen die hessischen Grünen, wie Realpolitik unter den heutigen Bedingungen des Parteiensystems zu übersetzen ist: eigene Ziele definieren, Schnittmengen prüfen und beim besten Angebot zuschlagen. Der Vorteil dieses Bündnisses: anders als rot-grün oder rot-grün-rot werden die Erwartungen im eigenen Laden vergleichswese geringer sein.

Die Herausforderungen vor denen Schwarz-Grün in Hessen steht, werden vermutlich auf vier Themenfeldern liegen: der Schul- und Bildungspolitik, einschließlich der ausreichenden Schaffung an Kita-Plätzen, der Kontroverse um den Flughafenausbau in Frankfurt, der Umsetzung von Infrastrukturvorhaben einschließlich von Maßnahmen zur Durchsetzung der Energiewende und die Haushaltspolitik.

Die Haushalts- und Finanzpolitik wird möglicherweise das Thema sein, bei dem die künftige rot-rote Opposition und die schwarz-grüne Landesregierung die deutlichsten Konflikte auszufechten haben werden. Der Sondierungsbericht der hessischen SPD lässt dies bereits erahnen. Die Sozialdemokraten widmeten im Bericht der Finanzsituation des Landes sogar einen eigenen Abschnitt, da »im Rahmen der Gespräche deutlich wurde, dass die von der Landesregierung vorgelegte sogenannte mittelfristige Finanzplanung erheblich zu optimistische Zahlen veranschlagt (…) und sich der Konsolidierungsbedarf deutlich höher darstellt, als bislang eingeräumt wurde.« So sei die jährliche Erhöhung der Personalausgaben von lediglich 0,5 Prozent zu gering veranschlagt während die pauschale Minderausgabe von 250 Mio. Euro jährlich noch nicht gedeckt sei. Selbst wenn das Land beim Bundesverfassungsgericht mit der Klage gegen den Länderfinanzausgleich erfolgreich wäre, seien frühestens 2018 Mehreinnahmen im Haushalt zu erwarten.

Bei allen Unterschieden zwischen SPD und Linken in der Bewertung der Schuldenbremse sind sich beide Parteien jedoch grundsätzlich einig, wenn es um die Verbesserung der Einnahmeseite im Haushalt, auch durch bundespolitische Entscheidungen sowie Verbesserung der Handlungsmöglichkeiten der öffentlichen Hand, insbesondere durch eine Reform des kommunalen Finanzausgleichs geht. Die hessischen Grünen hingegen stimmen mit der CDU deutlicher überein, die Haushaltskonsolidierung nach baden-württembergischen Vorbild auch über Einsparungen im Bereich der Lehrerinnen und Lehrer sowie relevanten Personalabbau zu gewährleisten.

Lernaufgaben für SPD und Linke aus Schwarz-Grün in Hessen

Es ist eine zur Plattitüde verkommene Wahrheit, dass Koalitionen keine Liebesheiraten sondern Zweckbündnisse sind. Dass die SPD in ihrem Verhältnis zu Grünen und Linken diese Selbstverständlichkeit tatsächlich verinnerlicht hat, ist allzu oft nicht zu bemerken.

In der irrtümlichen Annahme, dass Grüne und Linke »Fleisch vom Fleische« der SPD seien, setzen die Sozialdemokraten voraus, dass sie selbst zwar aus staatspolitischer Verantwortung notfalls mit der CDU regieren könne, negieren dies jedoch für die Grünen.

Letztlich war dies zwar erfolglos richtete aber immerhin weniger Schaden auch für die SPD an, wie der Versuch, die Linke durch das Fernhalten von Landesregierungen zu marginalisieren. Statt der schwarz-gelben Bundesregierung eine Phalanx von SPD-Ministerpräsidenten gegenüber zu stellen und dadurch by the way auch die nicht allzu dicke Decke der SPD-Hoffnungsträger durch Erprobung in Landesregierungen zu verbreitern, schrumpfte sie sich als Juniorpartner in CDU-geführten Landesregierungen klein.

Bedauerlicherweise neigt auch die Linke bis heute dazu, an ihrer eigenen Vorstellung politischer Lager festzuhalten. Während in der unterkomplexen Variante die Linke das Lager der Guten und alle anderen Parteien das Lager der neoliberalen Kartellparteien bilden, wird in der Variation dieses Bildes angenommen, dass zwar größere Schnittmengen zu Rot-Grün als bestehen als zu Schwarz-Gelb, aber SPD und Grüne sich die Zugehörigkeit zu einem gemeinsamen rot-grün-roten Lager erst durch das Abschwören von allen Fehlern der rot-grünen Bundesregierung zwischen 1998 und 2005 erwerben müssen.

Möglicherweise sollte man der schwarz-grünen Regierung in Hessen sogar wünschen, dass sie stabil über fünf Jahre regiert, damit insbesondere die Linke anhand dieser Konstellation erkennt, dass für die Bildung einer Landesregierung in erster Linie nicht eine »gesellschaftliche Mehrheit« bestehen muss, sondern zunächst eine ausreichende Geschäftsgrundlage für die Umsetzung eigener politischer Ziele. Die CDU wiederum könnte der SPD im besten Falle zeigen, wie man mit einem kleineren Partner respektvoll umgeht, gerade weil man sich der Andersartigkeit bewusst ist.

Wenn diese Lernaufgabe beherzigt wird, könnten die Sondierungs- und Koalitionsgespräche, die möglicherweise zwischen zwei oder den drei Parteien des rot-grün-roten Spektrums nach den nächsten Landtagswahlen aufgenommen werden, deutlich entspannter und möglicherweise dadurch auch erfolgreicher durchgeführt werden.

Benjamin-Immanuel Hoff ist Staatssekretär a.D. und Fellow der School of Law, Politics and Sociology der University of Sussex.

Der Text erschien zuerst auf www.neues-deutschland.de