Zukunft wird aus Mut gemacht
Blogbeitrag auf www.freitag.de vom 28. Oktober 2019
Rot-Rot-Grün in Thüringen hat fünf Jahre stabil regiert. Das ist keine Selbstverständlichkeit – im Gegenteil. Das 2014 gebildete Bündnis aus LINKEN, SPD und Grünen war ein politisches Experiment in mehrfacher Hinsicht:
- in der Zusammenarbeit nicht nur von drei Parteien,
- sondern erstmals von LINKEN, SPD und Grünen,
- unter der Führung des linken Ministerpräsidenten Bodo Ramelow und
- mit einer knappen Ein-Stimmen-Mehrheit.
Das r2g-Bündnis widerlegte, wie bereits zuvor die sogenannte Küsten-Koalition in Schleswig-Holstein, die Annahme, Drei-Parteien-Bündnisse seien instabiler als die klassischen Zweier-Koalitionen. Selbst unter den Bedingungen von Fraktionswechseln blieb die Koalition über die gesamte Dauer der Wahlperiode handlungsfähig. Mehr noch: die drei Parteien haben, erstmals in der Thüringer Landesgeschichte seit 1990, einen abgestimmten Wahlkampf zur Fortsetzung des Regierungsbündnisses geführt.
Dadurch und durch die Entscheidung, die Thüringer Landtagswahl von den Urnengängen in Brandenburg und Sachsen am 01.09.2019 zeitlich abzukoppeln, lag der Fokus in Thüringen gerade nicht auf der Stärke der AfD, sondern auf der Frage, ob und in welcher Konstellation der linke Ministerpräsident Bodo Ramelow weiter regieren kann.
Regierungsauftrag für Bodo Ramelow
Die Wähler*innen haben hinsichtlich des Regierungsauftrags eine klare Aussage getroffen:
- Nach Infratest dimap sind 70 Prozent aller befragten Thüringer*innen mit der Arbeit von Bodo Ramelow zufrieden („Bodo Ramelow ist ein guter Ministerpräsident“). Auch 60 Prozent der CDU-Wähler*innen sind dieser Meinung.
- Bei der Forschungsgruppe Wahlen stimmten 73 Prozent der Aussage zu, dass Ministerpräsident Bodo Ramelow seine Sache eher gut mache. Der gleichen Auffassung waren 72 Prozent der CDU-Anhänger*innen und sogar 77 Prozent der FDP-Anhänger*innen.
- In der Bewertung der politischen Arbeit lag Bodo Ramelow an der Spitze mit 68 Prozent Zufriedenheit, gefolgt von 58 Prozent Zufriedenheit beim SPD- Spitzenkandidaten Wolfgang Tiefensee. Mike Mohring folgte mit 30 bzw. 20 Prozentpunkten Abstand auf Platz 3.
In der fiktiven Direktwahl präferierten den Ministerpräsidenten 52 Prozent bei Infratest dimap und 53 Prozent bei der Forschungsgruppe Wahlen. Je 31 Prozent bei Infratest dimap und 32 Prozent bei der FGW hätten lieber den Herausforderer Mike Mohring als Ministerpräsidenten gesehen.
Welche Ausnahmepersönlichkeit der Ministerpräsident für DIE LINKE darstellt zeigt sich darin, dass nach Infratest dimap 30 Prozent der LINKE-Wähler*innen und 40 Prozent der Neu-LINKE-Wähler*innen angaben, ohne Bodo Ramelow nie auf die Idee gekommen zu sein, DIE LINKE zu wählen.
Von den LINKE-Wähler*innen waren nach Infratest dimap
- 86 Prozent der Meinung, „Bodo Ramelow interessiert sich mehr als andere Politiker dafür, was Bürger denken“ und
- 54 Prozent der Auffassung, dass er der wichtigste Grund sei, DIE LINKE zu wählen.
Diese Daten sind in Zahlen gegossenes soziales Kapital. Gemeint ist damit eine dauerhafte fürsorgliche Präsenz für die Bürger*innen im Freistaat, die eine solche Bindungskraft hervorruft, dass diese einen Wechsel ihrer Parteipräferenz vorzunehmen bereit sind. Aus dem Ergebnis erwächst zugleich eine Herausforderung, diesem Vertrauen Rechnung zu tragen.
Nicht zuletzt auch, dafür Sorge zu tragen, dass die Partei DIE LINKE als Ganze diesem in die Person Bodo Ramelow gesetzten Vertrauen Rechnung trägt. Denn unabhängig von den hohen Persönlichkeitswerten des Ministerpräsidenten wählten 50 Prozent der von Infratest dimap befragten LINKE-Wähler*innen die Partei wegen ihres Programms - also in der Erwartung dessen Einlösung -, zu 37 Prozent wegen des Kandidaten und zu 14 Prozent aufgrund langfristiger Parteibindung.
Aus Überzeugung für DIE LINKE stimmten 72 Prozent der LINKE-Wähler*innen, das sind 16 Prozentpunkte mehr als 2014, während aus Enttäuschung über andere Parteien 23 Prozent der LINKE-Wähler*innen stimmten, was einem um 15 Prozent geringeren Anteil als 2014 entspricht.
Deutliche Koalitionspräferenz für Rot-Rot-Grün
Gefragt, welche Koalitionspräferenzen die Thüringer*innen haben, hielten 40 Prozent eine Fortsetzung der Koalition aus LINKEN, SPD und Grünen für gut, 39 Prozent für nicht gut. Keine andere Koalitionsvariante erhält so viel Zustimmung wie r2g.
Auf Platz 2 der Koalitionspräferenzen liegt das sogenannte Kenia-Bündnis (CDU, SPD, Grüne), mit 25 Prozent Zustimmung und 45 Prozent Ablehnung.
Mit je 19 Prozent Zustimmung und 48 bzw. 49 Prozent Ablehnung folgen ein sogenanntes Simbabwe-Bündnis oder eine Rot-Schwarze Koalition (LINKE + CDU) auf den weiteren Plätzen. Eine sogenannte Rojava-Koalition (LINKE, SPD, GRÜ und FDP) würde mit 18 Prozent Zustimmung bei 49 Prozent Ablehnung auf dem letzten Platz rangieren.
Aus diesen Ergebnissen wird erneut deutlich, dass die Wähler*innen in Thüringen zwar einerseits den gewählten Parteien eine erhebliche Denksportaufgabe bei der künftigen Regierungsbildung auf den Weg gegeben haben, aber dennoch an bisherigen Vorstellungen der politischen Lager festhalten, also Mitte-Links versus Mitte-Rechts.
Bündnisse, die nur der Mehrheitssicherung dienen aber auf Kosten der politischen Erkennbarkeit gehen, wie z.B. eine ostdeutsche GroKo (LINKE/CDU) trifft auf ebenso viel Ablehnung wie die koalitionäre Integration der FDP in ein erweitertes Rot-Rot-Grünes Regierungsbündnis (r2g2 oder Rojava-Bündnis).
Die Wähler*innen der bisherigen Regierungskoalition präferieren jeweils mit überzeugenden Mehrheiten die Fortsetzung des r2g-Regierungsbündnisses und zwar zu 81 Prozent (DIE LINKE), 78 Prozent (Grüne) und zu 68 Prozent (SPD).
Die CDU-Wähler*innen würden zu 54 Prozent ein Kenia-Bündnis, zu 41 Prozent Simbabwe und zu 25 Prozent die ostdeutsche GroKo befürworten, während die FDP-Wähler*innen mit 55 Prozent ein Simbabwe-Bündnis und zu 28 Prozent die Rojava-Koalition präferieren.
Die Thüringer CDU muss umdenken
Gefragt, ob DIE LINKE die nächste Landesregierung führen sollte, sprachen sich 40 Prozent der Befragten dafür aus, eine relative Mehrheit von 49 Prozent präferierte eine andere Partei als DIE LINKE.
Der Wahlkampf der Mohring-CDU war von der Fiktion einer an den politischen Rändern auseinander driftenden Gesellschaft geprägt. Mit diesem Frame versuchte Mike Mohring seine über die 6. Wahlperiode hinweg verfolgte Strategie einer weitgehenden Nicht-Zusammenarbeit über die Grenzen von Regierung und Opposition hinweg zu legitimieren. Darüber hinaus wurde damit eine Gleichsetzung von AfD und LINKEN einerseits angestrebt, um auf dieser Grundlage andererseits die vermeintliche Notwendigkeit zu betonen, die gesellschaftliche Mitte gegen Extreme verteidigen zu müssen. Dass dieses der Totalitarismustheorie verhaftete Wahlkampf-Framing jeglicher inhaltlicher sowie praktisch politischer Evidenz entbehrt und schon deshalb falsch ist, muss an dieser Stelle nicht ausgeführt werden.
Verwiesen werden muss an dieser Stelle jedoch auf Infratest dimap. Denn deren Befragungsergebnisse zeigen, dass 48 Prozent der befragten Thüringer*innen der Auffassung sind, dass DIE LINKE in Thüringen eine Partei der Mitte sei. Davon waren nach Parteien differenziert je 57 bzw. 56 Prozent der SPD- und LINKE-Wähler*innen überzeugt, 45 Prozent derjenigen, die Bündnis 90/Die Grünen wählten und selbst 40 Prozent der AfD- und 34 Prozent der CDU-Wähler*innen. Man kann Mike Mohring immerhin zugute halten, dass seine eigenen Anhänger*innen hinter dem Framing des Spitzenkandidaten standen.
Dennoch hat sich die Wahlstrategie Mohrings weder hier noch in der Frage einer populistisch geframten Klimapolitik, die im diamtralen Widerspruch zur CDU-Bundespolitik steht, ausgezahlt. Vielmehr musste die Thüringer CDU, ob weiterhin unter der Führung von Mike Mohring oder nicht, zur Kenntnis nehmen, dass
- nach Infratest dimap 69 Prozent aller befragten Thüringer*innen der Auffassung sind, dass die CDU ihre bisherige Weigerung, mit der LINKEN eine Koalition einzugehen überdenken sollte, während ein Viertel der Auffassung war, dass diese Auffassung beibehalten werden sollte.
- Interessanterweise unterschieden sich die CDU-Wähler*innen von dieser Sichtweise aller Thüringer*innen nur graduell, denn 68 Prozent plädierten für eine Neubewertung, 28 Prozent für Aufrechterhaltung der Ausschließeritis.
- Nach Zahlen der FGW fanden es 59 Prozent der Befragten nicht richtig, dass die CDU eine Koalition mit der LINKEN ausgeschlossen hatte, während 33 Prozent dies als richtig ansahen.
Hinsichtlich einer politischen Zusammenarbeit mit der AfD seitens der CDU stehen die Bürger*innen im Freistaat aber auch die Wähler*innen der Thüringer CDU deutlich reservierter gegenüber. Zwei Drittel der von Infratest dimap befragten Thüringer*innen (65 Prozent) sind der Auffassung, dass die CDU eine Koalition mit der AfD weiter ausschließen sollte, von den CDU-Wähler*innen sind mehr als vier Fünftel (81 Prozent) dieser Auffassung. Nur knapp ein Drittel der Thüringer*innen (31 Prozent) plädiert für ein Überdenken des bisherigen Umgangs der CDU mit der AfD, während weniger als ein Fünftel der CDU-Wähler*innen (17 Prozent) diese Auffassung vertritt. Bei der FGW sahen es 61 Prozent als richtig an, dass die CDU eine Koalition mit der AfD ausschließt, während etwas mehr als ein Drittel (35 Prozent) dies als nicht richtig betrachteten.
Dass Mike Mohring bereits am Tag nach der Landtagswahl eine beachtliche Wende vollzog und gegenüber der Bundespartei "grünes Licht" für Gespräche mit der LINKEN über eine Zusammenarbeit verlangte, spricht freilich weniger für einen tatsächlichen Erkenntnisgewinn als vielmehr für den ihm eigenen Hang zum Voluntarismus. Solche Volten und Alleingänge gehen auf Kosten seiner Glaubwürdigkeit innerhalb der Christdemokratie, der Mohring als Mitglied des Parteipräsidiums an hervorgehobener Stelle angehört, denn die Union hatte erst vor einem Jahr jegliche Zusammenarbeit mit der LINKEN und der AfD per Parteitagsbeschluss ausgeschlossen. Darüber hinaus scheint es innerhalb der Thüringer CDU weder vor noch nach der Wahl irgendeine Form strategischer Positionierung oder Abwägung von Varianten gegeben haben. Denn während am Montag nach der Wahl der Spitzenkandidat für Gespräche mit der LINKEN plädierte, dabei aber nicht mit der Partei, sondern nur allein mit dem Ministerpräsidenten sprechen wollte, dachte Mohrings Fraktions-Vize Michael Heym öffentlich über eine Zusammenarbeit mit der AfD nach, während der Thüringer CDU-Generalsekretär offenbar der Einzige zu sein schien, der sich noch an die Linie der Äquidistanz zu LINKEN und AfD hielt.
Schluss mit dem Stabilitätsfetisch bei Regierungen
Obwohl nach Angaben der Forschungsgruppe Wahlen zwei Drittel der Thüringer Wähler*innen (67 Prozent) eine Minderheitsregierung eher schlecht finden, während etwas weniger als ein Drittel (29 Prozent) eine solche Konstellation als gut erachtet, bietet das Wahlergebnis – auch im Lichte der Koalitionspräferenzen (s.o.) keine andere Handhabe.
In den skandinavischen Ländern sind Minderheitsregierungen ein akzeptiertes und vielfach erprobtes Modell der Regierungsführung. Auch aus der jüngsten kanadischen Parlamentswahl ging der Amtsinhaber Justin Troudeau zwar als Wahlsieger hervor, verfehlte aber die absolute Mehrheit und muss nunmehr, wie übrigens bereits sein Vater, aus einer Minderheitsposition heraus regieren. Die genannten Länder gelten trotz dessen nicht als "failed states", sondern gemeinhin als Stabilitätsanker.
In Deutschland hingegen besteht eine nur gering ausgeprägte Akzeptanz der Minderheitsregierungen. Sie gelten hierzulande als untypische Regierungskonstellationen. Ihnen haftet bereits der Geruch des Scheiterns, der Instabilität an. Für die Deutschen ist, wie Switek darlegte, „(Regierungs-)Stabilität ein hohes Gut, weshalb die Parteien einerseits nur ungern neue Experimente wagen und andererseits ‚wacklige‘ Konstruktionen, die ein ständiges Suchen nach Mehrheiten erfordern, von Medien und Wahlbevölkerung kritisch beäugt werden“. (Switek 2011: 2)
Deshalb wurden in den rund 65 Jahren deutschen Länderparlamentarismus der Nachkriegszeit auch erst zehn Minderheitsregierungen gebildet, von denen nur eine einzige, die Regierung Höppner (SPD) in Sachsen-Anhalt, über zwei Wahlperioden im Amt war.
Angesichts der unübersichtlicher werdenden Mehrheitsverhältnisse in den Ländern insbesondere aufgrund der Schwäche der Volksparteien und der größer werdenden Zahl der Parteien in den Landtagen ist es an der Zeit, die ablehnende Haltung zu Minderheitsregierungen zu überdenken und beweglicher zu werden. Insbesondere wenn Regierungsfähigkeit auf der einen Seite aber auch Erkennbarkeit der Parteien auf der anderen Seite miteinander in Einklang gebracht werden soll.
Wir müssen uns deshalb noch mal grundsätzliche Veränderungen des Parteiensystems vor Augen führen (Kahrs 2019):
- In vielen Landesparlamenten findet eine Transformation des Parteiensystems zu einem Mehrparteiensystem mit mehreren »mittleren« (15%-30%) und kleineren (5%-15%) Parteien statt.
- Dieser Wandel ist Ausdruck einer abnehmenden Parteibindung und wachsenden Wechselbereitschaft der wählenden Bürgerinnen und Bürger.
- Wachsende Ungeduld mit der Wirkungsmacht der aktuell bevorzugten Partei, anhaltende Suche nach grundlegenden Orientierungen für Gesellschaft und Alltagsleben in einer sich sozial, technologisch, demografisch und politisch rascher wandelnden Umwelt und zunehmende soziokulturelle und sozio-ökonomische Heterogenität gehören zu den Treibern der Transformation des Parteiensystems.
- Diese Transformation hat zwei unmittelbare Konsequenzen:
- Erstens wird der potentielle Wahlausgang, welche Parteien die Regierung und welche die parlamentarische Opposition stellen werden, für die Wählenden unberechenbarer, die Bedeutung taktischer Wahlentscheidungen nimmt ab bzw. sie verändert ihren Charakter, wenn mehrere Parteien in Frage kommen. Und dies wird immer häufiger der Fall, da Zweiparteienkoalitionen immer seltener erwartet werden können. Wofür eine Partei steht, gewinnt für die Orientierung wieder an Bedeutung.
- Gleichzeitig stellt zweitens die Aufgabe der Regierungsbildung die gewählten Parteien vor neue Herausforderungen, wenn eine Partei wie die AfD, die die demokratischen Spielregeln nicht zu akzeptieren bereit ist, zwecks Wahrung eines demokratischen Konsenses nicht beteiligt werden darf bzw. soll. Lagerübergreifende Koalitionsbildungen drohen die Unterscheidbarkeit der Parteien weiter zu verwässern. Andere Modelle wie Minderheitenregierungen, die nicht gestürzt werden, solange sie keine AfD-Politik betreiben, sind nicht erprobt.
Solche politischen Gemengelagen werden sich in dieser Phase der politischen Transformation vermutlich häufen. Noch werden sie eher als eine Art demokratiepolitischer Notstand und als Verlust an politischer Stabilität begriffen und nicht als die neue parlamentarisch- demokratische Normalität oder gar als Gewinn an politischer Debatte und demokratischer Qualität.
Ebenso wenig wie eine Dreier-Koalition trägt eine Minderheitsregierung zwangsläufig das Stigma des Scheiterns in sich. Ebenso sollten wir uns freilich davor hüten, Minderheitsregierungen zu idealisieren. Das derzeit beste Standardwerk zu Minderheitsregierungen in Deutschland legte Stefan Klecher 2005 für die Friedrich-Ebert-Stiftung vor. Er weist darauf hin, dass Minderheitsregierungen „mit Sicherheit für die Regierenden stressiger, schwieriger (sind) und sie müssen öfters einen etwaigen Regierungssturz als Drohkulisse gegenüber dem Landtag ins Spiel bringen. Dennoch gelingt es ihnen erstaunlicherweise selbst dann gut, sich zu behaupten, wenn eigentlich das Destruktionspotenzial der majoritären Landtagsopposition in die Hände spielen müsste. Hier spielt die Polarisierung des Parteiensystems eine wesentliche Rolle.“ (Klecha 218)
Idealistische oder naive Vorstellungen von politischen Verhandlungen im Parlament übersehen, dass jede Mehrheitsregierung wie jede Minderheitsregierung ihre Mehrheiten nicht auf dem freien Markt erarbeiten wird, sondern durch zähe Debatten und Aushandlungen im Verborgenen. (Klecha 228) Dennoch vollzieht sich - anders als in einer komplexen Mehrheitskoalition mit drei oder mehr Partnern – „der Abstimmungsprozess nicht abschließend horizontal zwischen den beteiligten Parteien, sondern eher stufenleiterförmig. Einer Willensbildung im Kabinett und in Abstimmung mit den Regierungsfraktionen folgt dann ein Interessensausgleich mit Teilen der Opposition, der seinerseits mit den Regierungsfraktionen und der Regierung rückgekoppelt wird. Möglicherweise sorgt diese Zerlegung des Mehrheitsbildungsprozesses für mehr Transparenz in Bezug auf die politischen Inhalte. Außenstehenden offen-bart das eher die politischen Gemeinsamkeiten und Dissenspunkte der Parteien. Dieses dürfte für den Wettbewerb der Parteien untereinander und damit für die politische Kultur überaus förderlich sein.“ (Klecha 229)
Fortsetzung von Rot-Rot-Grün mit Fortune
Die drei rot-rot-grünen Parteien sind die einzigen Akteure, die – realistisch betrachtet – miteinander die politischen Geschicke Thüringens auch in der 7. Wahlperiode bestimmen können. Dass SPD und Grüne durch die spezifische Dynamik der Wahlkämpfe im sich transformierenden Parteiensystem Federn lassen mussten, von denen jede einzelne wertvoll ist, steht außer Frage.
Dennoch spiegelt sich im Wahlergebnis die Grundlage und das Erfordernis der drei Parteien wider, miteinander über die Fortsetzung der Regierungsarbeit zu verhandeln und parallel Gespräche mit CDU und FDP über die Duldung einer Rot-Rot-Grünen Koalition bei Einflussnahme auf diejenigen Vorhaben, bei denen die Koalition auf Mehrheiten angewiesen ist, also wenigstens vier Stimmen aus der demokratischen Opposition benötigt.
Richtig ist, dass eine Wahl eines Ministerpräsidenten auch in Thüringen nicht zwangsläufig erfolgen muss. Die Verfassung setzt keine Frist. Die Wahl ist erst von einer Fraktion zu beantragen. Ohne Wahl bleibt die bisherige Regierung geschäftsführend, d. h. auch „versteinert“ im Amt. Das kann und darf jedoch nicht die mittelfristige Zielstellung sein. Vielmehr kann und muss es darum gehen, dass der Ministerpräsident Bodo Ramelow durch Wahl für weitere fünf Jahre demokratisch legitimiert wird. Denn jede so bestimmte Regierung kann später nur noch mit absoluter Mehrheit in einem konstruktiv auszugestaltenden Misstrauensvotum gestürzt werden.
Verfassungsrechtlich gehört Thüringen zu den Ländern, bei denen die Wahl des Ministerpräsidenten im Verlauf des Wahlverfahrens erleichtert wird. Im dritten und letzten Wahlgang genügt eine relative Mehrheit. Dabei zählen ausschließlich, wie Morlok darlegte, die abgegebenen Ja-Stimmen, während Nein-Stimmen und Enthaltungen entfallen.
Eine Tolerierung nach Magdeburger Vorbild (1994-2002) scheidet für Thüringen aus. Zwar sind die Grenzen zwischen den Modellen Tolerierung und Stützung fließend, doch dürfe es sich beim künftigen Thüringer Modell eher um eine Duldung als um eine explizite Tolerierung handeln. Hierfür nennt Klecha folgendes Beispiel: „Die Regierung von Friedrich-Wilhelm Lübke in Schleswig-Holstein kam 1951 nur zustande, weil dort der BHE zwischenzeitlich weder mit der SPD noch mit der CDU eine Koalition eingehen wollte und SPD und CDU ihrerseits keine Koalition miteinander abschließen wollten. Die gebildete Regierung war somit vom Unvermögen der offensichtlichen Landtagsmehrheit zur gemeinsamen Aktion geduldet. Bedingt durch die unausweichliche Wahl im dritten Wahlgang war ihre Wahl aber nicht zu verhindern. Der Wahlakt selbst hat die Prozesse zur Bildung einer neuerlichen Mehrheitsregierung beschleunigt“ (Klecha 226)
Aus der anzustrebenden Position als Minderheitsregierung folgt für einen möglichen Koalitionsvertrag ein gewisses Dilemma:
- Zu starke, zu detaillierte politische Festlegungen in einem Koalitionsvertrag sind zumindest geeignet, eine Unterstützung der Regierung durch Abgeordnete der Opposition im Parlament zu erschweren, Sie könnten ein Hindernis darstellen zur Herbeiführung einer parlamentarischen Mehrheit zu einzelnen Vorhaben.
- Ein von Einzelnen als zu gering empfundenes Maß an Verbindlichkeit strapaziert andererseits von vorneherein das Vertrauen innerhalb der Koalition, das durch die Notwendigkeit der Einbeziehung der Opposition ohnehin nicht einfach werden wird.
Vertrauen auch bei geeigneten Abgeordneten der Opposition ist einerseits die entscheidende politische Währung in einer solchen Situation. Eine Minderheitsregierung in einer Dreierkoalition zusammenzubringen und zusammenzuhalten ist andererseits eine Herausforderung ohne Vorbild.
Die Erfahrung lehrt: je geringer eine Mehrheit, desto größer die Disziplin. Für eine Minderheitsregierung könnte das bedeuten, dass die Partner erst recht zum Erfolg verdammt sind. Daraus könnte man schließen, dass es weniger auf Regelungstiefe und Verbindlichkeit, vielleicht noch nicht einmal auf die Existenz eines Vertrags ankommt als auf die Chemie (Vertrauen) und den Willen.
Abzuwägen ist daher unter solchen Umständen die anzustrebende Qualität und Regelungsdichte eines Koalitionsvertrages der an der Minderheitsregierung beteiligten Fraktionen und Parteien. Auch wenn eine zu perfekte und detaillierte Vereinbarung die Einbeziehung von Stimmen der Opposition ggf. nicht unerheblich erschweren würde, bedarf auch das Eingehen einer gemeinsamen Minderheitsregierung der Vereinbarung gemeinsamer Ziele und Vorhaben. Deren Formulierung wird man nicht allein einem Arbeitsprogramm der Landesregierung überlassen können.
All diese Fragen werden in den anstehenden Sondierungen zu erörtern sein. Eins ist jedoch evident: Nur r2g ist derzeit in der Lage, diese Herausforderung zu meistern. Und die drei Parteien haben gezeigt, dass sie dazu in der Lage sind.
Literatur
Hoff, Benjamin-Immanuel 2019. Mut zur Minderheit, Michael Kretschmer. Die Minderheitsregierung wird in Deutschland wenig geschätzt. Dabei wäre sie das richtige Instrument nach der sächsischen Landtagswahl. https://www.freitag.de/autoren/benjamin-immanuel-hoff/mut-zur-minderheit-michael-kretschmer
Kahrs, Horst 2019. Ein neuer Zyklus der deutschen parlamentarischen Demokratie. Einige Vorschläge, wie über den Wahlausgang in Brandenburg und Sachsen zu reden wäre., http://www.horstkahrs.de/2019/08/30/ein-neuer-zyklus-parlamentarischer-politik-in-deutschland/.
Klecha, Stephan 2005. Minderheitsregierungen in Deutschland, hrsgg. von der Friedrich-Ebert-Stiftung. http://library.fes.de/pdf-files/bueros/hannover/08122.pdf
Switek, Niko 2011. Wieder einmal Trendsetter? Koalitionstheoretische Annäherungen an die Minderheitsregierung in Nordrhein-Westfalen. http://library.fes.de/pdf-files/bueros/hannover/08122.pdf
Ich bin Vater, Politiker und Sozialwissenschaftler. Herausgeber von "Neue Wege gehen. Wie in Thüringen gemeinsam progressiv regiert wird" (VSA-Verlag 2023).
Hier veröffentliche ich regelmäßig Beiträge in meinem Blog und andere Publikationen.