29.08.2019

Mut zur Minderheit, Michael Kretschmer

Beitrag auf dem Blog www.freitag.de vom 29. August 2019

Am 1. September wird in Sachsen gewählt. Und mehr noch als nach Brandenburg, wo die SPD mit der AfD um den Platz 1 in der Wähler*innengunst ringt, schaut die Öffentlichkeit nach Dresden.

Den fünf jüngsten Umfragen zufolge (die zwischen dem 6. und dem 27. August veröffentlicht wurden) kann die CDU mit einer Zustimmung zwischen 28-31 Prozent rechnen, während die AfD Umfragewerte zwischen 24-26 Prozent erreichte. Mit deutlichem Abstand folgen DIE LINKE (14-16 Prozent) und Bündnis 90/Die Grünen (10-13 Prozent). Die SPD rutscht erneut nach der Landtagswahl 2004 (9,8 Prozent) unter die Zweistelligkeitsgrenze und wird mit Werten zwischen 7 und 9 Prozentpunkten gehandelt. Die FDP muss mit kontinuierlichen 5-Prozent um den Einzug in den Landtag bangen.

Das Bündnis aus CDU und SPD hätte auf dieser Grundlage keine Mehrheit mehr. Die CDU steht also vor der Aufgabe, über die Art der kommenden Regierung zu entscheiden. Sie will den Verlautbarungen nach in einem solchen Fall eine Regierung aus mehr als zwei Parteien bilden. Sie kann sich eine sogenannte Kenia-Koalition aus CDU, Grünen und SPD ebenso vorstellen, wie die Bildung einer Koalition aus diesen drei Parteien zuzüglich der FDP, sofern es für eine Regierungsmehrheit sonst nicht reichen sollte.

Ein solches Drei- oder gar Vierparteienbündnis hätte im Landtag eine Mehrheit, doch von einer stabilen Regierung dürften diese Konstellationen weit entfernt sein. Im Gegenteil - ein Blick nach Sachsen-Anhalt zeigt die Fliehkräfte einer Koalition, in der grundsätzliche Fragen der politischen Strategie und Landesentwicklung ungeklärt geblieben sind, für den Preis einer vermeintlich schnellen Einigung auf eine parlamentarische Mehrheit.

Innerhalb der CDU Sachsen-Anhalts gibt es spürbare Kräfte, die seit der vergangenen Landtagswahl mehr oder weniger deutlich machen, dass sie die AfD eher als "Fleisch vom Fleische" der CDU empfinden. Und entsprechend behandelt sehen wollen, statt mit der SPD und den Grünen in einer koalitionären Notgemeinschaft zur Abwehr der AfD zu sein.

Auf Grundlage dieses strategischen Zielkonflikts kam im Landtag Sachsen-Anhalt die notwendige Mehrheit für eine parlamentarische Enquetekommission zum Linksextremismus zustande. Die CDU-Landtagsfraktion stimmte mit großer Mehrheit und unter Bruch der entsprechenden Regelungen des Koalitionsvertrages diesem Antrag zu, was die damalige Parteivorsitzende Angela Merkel zu deutlichen Worten der Kritik veranlasste.

Es ist anzunehmen, dass auch innerhalb der sächsischen Union nach dem 1. September die innerparteilichen Konflikte offen zutage treten werden. Es darf nicht vergessen werden, dass der mögliche "Wahlsieg" der sächsischen CDU selbst bei einem Wert von 31 Prozent den niedrigsten Wert der seit 1990 die Regierung stellenden Partei bedeuten würde. Vergegenwärtigen wir uns diese Entwicklung noch einmal: Bei der ersten Landtagswahl 1990 erhielt die Partei 53,8 Prozent, steigerte sich vier Jahre später auf 58,1 Prozent und 1999 56,9 Prozent. Bei der Landtagswahl fiel die CDU um 15,8 Prozentpunkte auf 41,1 Prozent, verharrte 2009 und 2014 im Wesentlichen auf diesem Niveau, leicht auf 39,4 Prozent absinkend und landet nunmehr vermutlich fast 20 Prozentpunkte hinter ihrem besten Ergebnis von 1994. Während dessen legt die AfD von 9,7 Prozent im Jahr 2014 auf rund ein Viertel der Wähler*innenschaft zu.

Die seit jeher historisch gebeutelte SPD, die unter Hintantstellung parteipolitischer Vernunft und aus ihr nur selten belohnter staatspolitischer Verantwortung erneut ein Bündnis mit der CDU einging, rutscht auf Platz 5 der Parteien ab. Überholt von Bündnis 90/Die Grünen, die neben der Linkspartei stets zu den kritischsten Akteur*innen gegenüber der sächsischen Union und deren Attitüde der Gleichsetzung des Freistaates mit der Christdemokratie gehörten.

Woher soll bei einem Bündnis dieser drei Parteien der Kitt stammen, der notwendig ist um fünf Jahre nicht nur vertrauensvoll zusammenzuarbeiten, sondern tatsächlich eine übereinstimmende politische Praxis im Landtag, bei der Regierungsarbeit aber auch bei der Mitarbeit im Bundesrat zu entfalten?

»Ich will die Menschen in Sachsen aktiv ermuntern, ihre Mitbestimmungsmöglichkeiten wahrzunehmen und sich freiwillig zu engagieren.« formuliert der amtierende Ministerpräsident des Freistaates Sachsen auf seiner Internetseite. Es wäre wünschenswert, der sächsische Ministerpräsident hätte den Mut, seine Partei zu ermuntern, angesichts der mit Händen zu greifenden Unübersichtlichkeit der politischen Mehrheiten, der gesellschaftlichen Debatten, an denen er mit hohem persönlichen Einsatz quer durch das Land teilnahm, den Weg der Minderheitsregierung zu wählen.

Während in den skandinavischen Ländern Minderheitsregierungen ein akzeptiertes und vielfach erprobtes Modell der Regierungsführung sind, ist dies in Deutschland nicht der Fall. Hier gelten Minderheitsregierungen nicht nur als untypische Regierungskonstellationen, ihnen haftet bereits der Geruch des Scheiterns, der Instabilität an. Für die Deutschen ist, wie Switek darlegt, „(Regierungs-)Stabilität ein hohes Gut, weshalb die Parteien einerseits nur ungern neue Experimente wagen und andererseits ‚wacklige‘ Konstruktionen, die ein ständiges Suchen nach Mehrheiten erfordern, von Medien und Wahlbevölkerung kritisch beäugt werden“. (Switek 2011: 2)

Deshalb wurden in den rund 65 Jahren deutschen Länderparlamentarismus der Nachkriegszeit auch erst zehn Minderheitsregierungen gebildet, von denen nur eine einzige, die Regierung Höppner (SPD) in Sachsen-Anhalt, über zwei Wahlperioden im Amt war. Angesichts der unübersichtlicher werdenden Mehrheitsverhältnisse in den Ländern insbesondere aufgrund der Schwäche der Volksparteien und der größer werdenden Zahl der Parteien in den Landtagen sollten die Parteien ihre ablehnende Haltung zu Minderheitsregierungen überdenken und beweglicher werden. Insbesondere wenn Regierungsfähigkeit auf der einen Seite aber auch Erkennbarkeit der Parteien auf der anderen Seite miteinander in Einklang gebracht werden soll.

Ich habe diese Position bereits nach der Bundestagswahl und den gescheiterten Sondierungsgesprächen der Jamaika-Parteien in einem Beitrag auf diesem Blog vertreten. Die Verfasstheit der sogenannten Großen Koalition bestätigt mein Argument: eine Minderheitsregierung wäre ehrlicher gewesen und hätte zu weniger Vertrauensverlust geführt als das für alle sichtbare Zwangsbündnis aus Unionsparteien und SPD, in das sich die zwei Parteien aus vermeintlich staatspolitischer Verantwort eingesperrt haben und damit hadern, ob sie es verlassen sollen oder nicht.

Nach Grunden setzen Minderheitsregierungen, wollen sie stabil handeln können, vier allgemeine Rahmenbedingungen voraus, von denen drei für Sachsen zutreffen (Grunden 2011: 3f.):

1) Eine einigungsunfähige Opposition: Diese Bedingung wäre gegeben. Selbst wenn man die besten Werte für LINKE, Grüne und SPD annehmen würde, kämen die drei Parteien allein nur auf maximal 38 Prozent. Sofern die FDP im Landtag vertreten wäre, würde diese gemeinhin eher Vorhaben der CDU teilen, als die der rot-grün-roten Parteien. Und eine strukturierte Zusammenarbeit der vier Parteien mit der AfD kann als ausgeschlossen gelten.

2) Eine Policy-Zentrierung des Parteienwettbewerbs: Angesichts des Umstandes, dass sowohl die Grünen, die Sozialdemokrat*innen und Liberalen eine Koalition mit der CDU nicht ausgeschlossen haben, ist anzunehmen, dass sie sich einer funktionierenden Gesetzgebung nicht verweigern würden. Im Gegenteil.

3) Eine starke Kohäsion des Regierungslager: Eine alleinregierende CDU würde erheblich kohärenter agieren können, selbst unter den Bedingungen einer Minderheitsregierung als das mit hoher Wahrscheinlichkeit unter starker Spannung stehende Bündnis aus CDU mit zwei oder drei weiteren Partnern, die zunächst nur die Vorstellung verbindet, eine vermeintliche staatspolitische Krise abzuwenden. Diese gäbe es jedoch nicht, würde die Minderheitsregierung als reguläres Instrument des politischen Alltags in Deutschland angesehen und vor allem angewendet werden.

Eine CDU-Minderheitsregierung in Sachsen wäre die ehrlichste Antwort auf das Signal der Wählerinnen und Wähler im Freistaat, die eine CDU an der Regierung wünschen und die Möglichkeit eines tatsächlichen Politikwechsels als Ablösung der CDU von der Regierungsbank, wie in Thüringen 2014, auch diesmal ausschließen und von denen jede*r Vierte die AfD wählt.

Die sächsische Union könnte und müsste nun zeigen, ob dem Zuhören ihres Ministerpräsidenten auch eine Erkenntnis folgt. Insbesondere das Eingeständnis, dass der Freistaat in den drei großen Zentren, den engeren und weiteren Verflechtungsräumen, der Peripherie der polnischen und tschechischen Grenzregionen pluraler geworden ist. Dass die CDU darauf über lange Jahre mit Verweigerung und einem ostentativen Konservatismus ihres Generalsekretärs agierte, der nach dem Verlust seines Bundestagsmandats sich als Ministerpräsident neu erfand. Und die Notwendigkeit, sich wechselnde Mehrheiten zu verschaffen. Dies würde den von Michael Kretschmer mit den Bürger*innen begonnenen Dialog auf eine neue Ebene der Qualität politischer Debatten heben. Es würde zugleich das politische Leben Sachsen interessanter machen.

Unbestreitbar könnte dies auch bedeuten, dass in einzelnen Fällen Stimmen aus der AfD für die eine oder andere politische Entscheidung die Mehrheit verschaffen. Aber ein Blick nach Sachsen-Anhalt zeigt, dass auch eine Anti-AfD-Koalition keine Gewähr dafür bietet, dass die Union sich der AfD bedient, um ihr politisches Mütchen zu kühlen.

Die Hoffnung, dass Michael Kretschmer diesen Mut aufbringt oder seine Partei ihm auf diesem Weg folgen würde, ist gering. Nicht zuletzt, weil Grüne, SPD und FDP bereits überdeutlich gemacht haben, dass sie mit der CDU regieren wollen. Für den Freistaat und dessen politische Kultur bedeutet dies nur wenig Aussicht auf Besserung.