21.01.2017

Kein Ende, kein Anfang, sondern jetzt

Ein jedes hat seine Zeit. So auch die Annahme der nahenden Katastrophe, der unregulierbaren Beschleunigung von Kommunikation, der Entfremdung von Arbeit, der Auflösung von Normen. Jüngst wurde Joachim Radkaus „Das Zeitalter der Nervosität“, 1998 erstmals im Hanser-Verlag erschienen, neu aufgelegt. Naheliegend in einer Zeit, in der „postfaktisch“ zum Wort des Jahres 2016 avanciert,  die Mittelschicht empirisch schrumpft und die „Arbeitnehmermitte“ sorgenvoll auf die abgestiegene Unterschicht schaut, bei der ein zu geringer Mindestlohn auch mit mehr als einem Job das Haushaltseinkommen nicht sichert. Sogenannte Social Bots - Computerprogramme, die ohne humanoide Interaktion in sozialen Netzwerken kommunizieren, sollen wahlentscheidende Diskursinterventionsmacht zu entfalten in der Lage sein. Die Aufzählung ist eklektizistisch und bewusst unabgeschlossen. Radkau beschreibt in seinem Buch die Sozialgeschichte des psychischen Krankheitsbildes der Neurasthenie, gemeinhin Nervenkrankheit genannt. Von der ZEIT interviewt, zieht er eine Analogie vom Spätherbst des Wilhelminischen Zeitalters zu unserer Zeit: „Elektrische Revolution, nervöse Leiden und Natursehnsucht um 1900. Digitale Revolution, Burn-out und neu erwachte ‚Landlust‘ heute.“

Mit diesem Blick sollten wir die im Abstand von 70 Jahren veröffentlichten zweimal zwei Vierzeiler „Weltende“ (Jakob van Hoddis, 1911) und „Weltenanfang“ (Steffen Mensching, 1983) lesen. Die es in sich haben. Die befürchtete Naturkatastrophe „Halleyscher Komet“ des frühen 20. Jahrhunderts war in den 1980er Jahren in Form von SDI und atomarem Wettrüsten menschgemacht. Beide sind ausgeblieben. Steht van Hoddis „Weltende“ für den Anfang des kurzen 20. Jahrhunderts, von Eric Hobsbawm als das „Zeitalter der Extreme“ bezeichnet, markiert Menschings „Weltanfang“ dessen langsames Auslaufen bis zum Ende des realexistierenden Sozialismus 1990. Ein jedes hat seine Zeit. So auch „Menschen, die vorwärts in den Straßen stehen und alle Dächer sind voll Sternedeuter“ (Stefan Heym). Wer nicht meint, dass es kein richtiges Leben im Falschen gäbe, dem bleibt nicht viel als „schweren Schlaf von müden Lidern“ zu streifen – kurz: Optimist zu sein.

 

Steffen Mensching

Weltanfang

Dachdecker torkeln trunken übers Dach,
Die Sturmflut ist, wohin? Verflossen,
Die ausgeplanten Toten haben nicht geschossen
Und spielen, auf den Bomben sitzend, Schach.

Aeroplane fallen auf die spitze Erde,
Unzerkratzt, die neue Zeitung kennt man schon.
Staatssekretäre hüpfen über Zirkuspferde.
Ein Nachrichtenverleser beißt ins Mikrophon.

 

Aus: Erinnerung an eine Milchglasscheibe, Halle und Leipzig 1984

 

Der Beitrag erschien in der Thüringer Allgemeine am 21.01.2017.