Das erste Glied einer Eskalationskette

Die Debatte über „Lügenpresse“ ist eine Debatte über die Funktionsfähigkeit demokratischer Institutionen

In anderen Ländern erleben wir eine gleiche Diskussion. Was war die Ursache eines Flugzeugabsturzes in Smolensk? Hat die Presse darüber adäquat berichtet oder eine Verschwörung unterschlagen?

Wir sehen in einem unser engsten europäischen Partnerländer Polen eine Entwicklung der Medienlandschaft, die ich ausgesprochen kritisch beurteile. Polen wiederum holt eine Entwicklung nach, die in Ungarn – ebenfalls einem EU-Mitgliedstaat – bereits zu einer Einschränkung der Medienfreiheit führte.

Hier im Landtag diskutierten wir im vergangenen Jahr zur Frage „Wie gehen wir mit dem Begriff der Lügenpresse um?“. Es war eine spannende Plenardebatte, von der ich mir wünschen würde, dass wir sie auch außerhalb des Rahmens, in der die eine Seite vom Pult Redebeiträge hält und die andere Seite verbal wie nonverbal Zustimmung respektive Ablehnung deutlich macht, fortführen würden. Es wäre gut, wenn wir uns die Zeit nehmen, um die Rahmenbedingungen auszuleuchten und zu formulieren, die für eine hohe Glaubwürdigkeit der Medien unverzichtbar sind. Die unmittelbare Aufgabe von Parteien besteht, normiert im Parteiengesetz, darin, an der politischen Willensbildung des Volkes Anteil zu haben. Sie haben folglich die Aufgabe der politischen Bildung und Aufklärung.

In dieser Funktion einerseits und in ihrem Spannungsverhältnis zu den Medien, die ihre Arbeit beleuchten, kritisieren, kommentieren, andererseits, ist es für mich als Vertreter der Landesregierung genauso wie für die Abgeordneten, unabhängig ob sie die Opposition stellen oder den Regierungsparteien angehören, notwendig, die Folgen für unsere Arbeit zu bedenken, die sich aus dem Vorwurf der „Lügenpresse“ ergeben. Denn der Begriff der „Lügenpresse“, wie er seit Monaten auf einschlägigen Kundgebungen skandiert, im Netz unterbreitet und mittlerweile als Legitimation für Übergriffe auf Medienvertreter/-innen verwandt wird, ist nur das erste Glied einer Eskalationskette. Wohin diese Eskalation des politischen Diskurses führen soll, hat die Gesinnungsschwester des hiesigen Abgeordneten, Björn Höcke (AfD), die ehemalige AfD- und heutige PEGIDA-Aktivistin, Frau Festerling, in Dresden bereits ausgeführt. Ich zitiere im Original: „Wenn die Mehrheit der Bürger noch klar bei Verstand wäre, dann würden sie zu Mistgabeln greifen und diese volksverratenden, volksverhetzenden Eliten aus den Parlamenten, aus den Gerichten, aus den Journalistinnen und Journalisten werden verdächtigt, eine einseitige, interessengeleitete oder vorurteilsbehaftete Berichterstattung zu betreiben und so – das ist ja auch deutlich gesagt worden – die Öffentlichkeit durch Fehlinformationen zu manipulieren. Die Flüchtlingspolitik steht dafür als Bespiel. Weitere Beispiele sind die Griechenlandberichterstattung, die Ukraineberichterstattung oder jüngst die von russischen Medien inszenierte Aufregung unter Russland-Deutschen über die angebliche Vergewaltigung eines Mädchens und die damit verbundene Infragestellung glaubwürdiger deutscher Medienrecherche und medialer Aufklärung. Kirchen und aus den Pressehäusern prügeln!“
Frau Festerling, Herr Höcke, Frau Pauly und all die anderen, die zu dem inzwischen recht breiten Bündnis gehören, das ich als eine Art deutsche Tea Party bezeichne, richten sich in ihrer Ablehnung nicht mehr nur allein gegen Journalistinnen und Journalisten schlechthin, sondern es geht ihnen darum, aus den Institutionen unseres demokratischen und sozialen Rechtsstaates, der in Art. 20 Grundgesetz normiert ist und in seinem Bestand und Sinngehalt unveränderlich ist, die dort arbeitenden Menschen „mit Mistgabeln“, also gewaltsam zu vertreiben. Die Debatte über den Vorwurf der „Lügenpresse“ ist insoweit nicht singulär eine Debatte über die Glaubwürdigkeit von Medien, sondern über die Funktionsfähigkeit demokratischer Institutionen. Und das, denke ich, ist ein ureigenes Thema aller Demokratinnen und Demokraten.

Widmen wir uns den Ursachen von Glaubwürdigkeitsverlusten der Medien, die nicht politisch inszeniert sind, würde ich in Abwandlung von Max Horkheimer sagen: Wer über die Widerlegung des Vorwurfs „Lügenpresse“ reden will, darf zu den Realitäten des Medienbetriebs und den neuen Medien, die kompliziert sind, nicht schweigen.

Vier Aspekte seien erwähnt:

1. Wenn Glaubwürdigkeit von Medien gute,solide, wenn möglich auch investigative Recherche bedeutet, dann müssen Journalistinnen und Journalisten dafür auch die entsprechenden Arbeitsbedingungen vorfinden. Sicherlich hat sich die Welt seit Bob Woodwards Watergate-Recherche verändert, doch klar ist auch, als arbeitsvertraglich prekärer „fester Freier“ in einer Mantelredaktion, wäre Watergate durch Woodward und Bernstein wohl nicht aufgeklärt worden. Die Arbeitsbedingungen von vielen Journalistinnen und Journalisten heute sind prekär. Ein kleines Beispiel: Der einzige Bereich für den von Anfang an eine Ausnahme von einer Scheinselbstständigkeit vorgesehen wurde, war der Bereich der Medien. Dort gibt es in großer Zahl Scheinselbstständige, die als „Feste Freie“ für eine Redaktion tätig sind und deren Rahmenbedingungen natürlich durch vertragliche Gestaltung immer prekär ist.

2. Wir reden aber natürlich auch über Konzentration auf dem Medienmarkt, über Stellenabbau in Redaktionen zunehmender Arbeitsverdichtung. Medienunternehmen sind betriebswirtschaftlicher Funktionsfähigkeit und Logik unterworfen. Zweifelsfrei. Und daraus erwächst in einer Region wie
Thüringen ein stetes Abwägungsverhältnis zwischen der Aufrechterhaltung einer lokalen und regionalen Berichterstattung auf der einen Seite - an denen viele Redaktionen Interesse haben - und demografischen Entwicklungen sowie verändertes Nutzerverhalten andererseits, die die Planungsfähigkeit von Medienbetrieben unterminieren. Wie unter diesen Rahmenbedingungen guter Journalismus, basierend auf guten Arbeitsbedingungen möglich bleibt, wird eine der
wesentlichen Zukunftsfragen der medienpolitischen Debatte bleiben – jenseits aller crossmedialen etc. Hypes, mit denen wir uns in Fernseh- und Rundfunkräten bzw. im hiesigen Medienausschuss beschäftigen.

3. Es ist auch das Thema „Trivialisierung der Politik“ durch die medienpolitischen Sprecherinnen und Sprecher angesprochen worden und das ist kein Phänomen allein der sozialen Medien. Eben Informationen auf ihren emotionalen Gehalt zu reduzieren oder vor allem emotional untersetzte Nachrichten zum Gegenstand zu machen, um Menschen zu erreichen, führt dazu, dass zu emotional aufgeladene Ad-hoc-Interpretationen quasi fast eingeladen wird und das Emotionalität
eben noch oft genug konfrontiert werden muss mit belastbarer Faktizität. Und das in einer Welt, die bedauerlicherweise kompliziert ist und vermutlich auch noch komplizierter werden wird.

4. Wir müssen natürlich auch über den Geschwindigkeitswettbewerb sprechen, der zwischen den klassischen und den sozialen Medien um die schnellste Veröffentlichung von Nachrichten und Bildern und damit über die Interpretationshoheit stattfindet. Die sozialen Netzwerke transportieren
genuine und vermeintliche Informationen in Echtzeit an alle Orte dieser Welt. Sie unterliegen jedoch notorisch nicht dem wesentlichen Prinzip von gutem Journalismus: der Bestätigung einer Information durch eine zweite Quelle. An diesem Standard, den wir für guten Journalismus
ansetzen, müssen sich soziale Medien und deren Nutzerinnen und Nutzer in der Regel nicht orientieren. Und das ist ein Problem! Soziale Medien sind ein mittlerweile unverzichtbares Kommunikationsinstrument. Klug genutzt können sie massenmobilisierendes Instrument politischer Beteiligung sein. Die US-amerikanischen Präsidentschaftswahlen aktuell und vor vier
bzw. acht Jahren haben dies gezeigt. Aber – und hier wiederhole ich etwas, das ich in der Aktuellen Stunde im vergangenen Jahr bereits gesagt hatte – soziale Medien sind auch ein Ort, wo für jede noch so abstruse Position, sich Gleichgesinnte finden. Und wenn Gleichgesinnte einer abstrusen Position sich im Internet zusammen finden und dort ihre Realität konstruieren
und feststellen, dass diese konstruierte Realität in den Medien sich nicht abbildet, dann kann daraus einfach der Vorwurf entstehen, dass die Journalistinnen und Journalisten dies ausblenden würden. Aber möglicherweise blenden sie es nicht aus, sondern es ist eben nur eine konstruierte
Realität. Eine obskure Position.

Bernhard Pörksen argumentierte vor einiger Zeit gegenüber Deutschlandradio Kultur, ich zitiere: „Das Netzzeitalter ist das Zeitalter der gefühlten Repräsentationskrise. Man kann nun eigene Bestätigungsmilieus gründen, sich in eine spezielle Wirklichkeit hineingoogeln und dann die Nachfrage stellen: Woran liegt das eigentlich, dass das, was ich denke, und das, was scheinbar die vielen anderen denken, dass das gar nicht in der Zeitung vorkommt?

Die spezielle Form der Netzöffentlichkeit, die den Einzelnen zum Regisseur seiner eigenen Welterfahrung macht, erlaubt auch eine Entfesselung des Bestätigungsdenkens. Man kann sich aus der Isolationsfurcht, die auch das Abseitige beinhalten mag, befreien und dann zu der Einsicht gelangen, wir sind doch eigentlich viele und warum wird das nicht in den Medien abgeleitet.“

Dies, meine Damen und Herren, ist zwar eine legitime Frage, aber es gibt darauf, wie gesagt, eben nur zwei Antworten, eine demokratische, die mit dem Dilemma der Akzeptanz von Komplexität behaftet ist, und eine Antwort, auf der das politische Geschäftsmodell von Pegida, AfD und NPD beruht.

Soziale Medien sind für Medienunternehmen wie für uns als Konsument/-innen und Akteur/-innen der sozialen Medien selbst eine enorme Herausforderung. Denn für uns alle gilt auch im Web 2.0, die Umsetzung des Programmsatzes von Immanuel Kant:
„Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“.
Dies ist die demokratische Antwort. Der Vorwurf, der sich im Begriff der Lügenpresse abbildet, verneint die Akzeptanz des zwanglosen Zwangs des besseren Arguments. Er ist die gesellschaftspolitische Internalisierung Ronald Reagan-Bonmots, der mal in einem Wahlkampf sagte „Fakten sind dumme Dinge“. Diesem anti-aufklärerischen Konzept entgegenzutreten, halte ich für unverzichtbar.

Dies führt meines Erachtens zu folgenden Schlussfolgerungen:

1. Der gleichermaßen orientierende wie informierende Journalismus ist und bleibt unverzichtbar.

2. Seriöser Journalismus setzt der emotional geprägten Sofortdeutung von Ereignissen gründliche Prüfung, investigative Tiefenschürfung und auch eine bewusst entschleunigende Einordnung entgegen. Dafür braucht es eben auch gute Arbeitsbedingungen bei Akzeptanz von Flexibilität, die Medienunternehmen brauchen.


3. Kritische Mediennutzerinnen und -nutzer sind als Korrektiv und als Ideengeber für die Meinungsvielfalt in unserem Land ein großer Gewinn. Dem Qualitätsjournalismus sollte daran gelegen sein, deren Potenzial für einen konstruktiven Dialog zwischen Medienmachern und Mediennutzerinnen und -nutzern selbst nutzbar zu machen.

4. Wir, die Öffentlichkeit, müssen lernen, auch im digitalen Zeitalter Ungewissheit und Unsicherheit auszuhalten und zwar solange, wie eine gründliche Prüfung der Ereignisse dauert, was eben voraussetzt, sie nicht gleich zum Gegenstand der politischen Auseinandersetzung zu machen. Dem Skandalisierungsfuror mit Langmut und Vorsicht zu begegnen, ist wahrscheinlich
unser aller schwierigste Aufgabe.

Artikel erschienen in Pro Media April 2016, 19. Jahrgang.