18.01.2024

Mehr Zuversicht für eine Gesellschaft der Angst

Rede auf dem Jahresempfang der Klassik Stiftung Weimar

Anrede,

ich freue mich und es ist mir eine Ehre, Sie zum Jahresempfang der Klassik Stiftung Weimar begrüßen zu dürfen - als Kulturminister und in meiner Funktion als Stiftungsratsvorsitzender.

Musikalische Akzente setzen heute Abend die wunderbaren „The Swing States“. Das Ensemble besteht aus Absolventen der Weimarer Musikhochschule Franz Liszt unter Leitung von Philipp Lang.

Unsere Präsidentin Frau Dr. Lorenz wird heute Abend ihre Gedanken zum Jahrhundert der Extreme und seinen Wechselwirkungen bis in unsere heutige spannungsgeladene Zeit mit Ihnen teilen.

Im Anschluss an meine Rede freuen wir uns, dass Sie, sehr geehrte Frau Cécile Wajsbrot unsere Einladung nach Weimar als Gastrednerin angenommen haben und aus Ihrer besonderen persönlichen und europäischen Perspektive zu uns sprechen werden.

Sie gehören seit vielen Jahren zu den vielseitigsten und produktivsten Autor:innen Frankreichs und sind durch die Übersetzungen ihrer Romane ins Deutsche auch vielen Leser:innen hierzulande bekannt. Sie selbst haben als Übersetzerin vom Deutschen ins Französische Brücken geschlagen. Ihre Mutter – Kind jüdischer Eltern, die aus Polen stammten - überlebte den Krieg in einem von Nonnen geleiteten Mädchenpensionat. Ihr Vater, der im Alter von 17 Jahren mit seiner Familie aus Polen nach Frankreich emigriert war, fand während der Kriegszeit Schutz in einem Versteck in der Auvergne. Ihr Großvater mütterlicherseits wurde im Juni 1942 in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert und kam nie mehr zurück.

Für mich persönlich besonders berührend ist der Gesprächsband, erschienen 2019 im Passagen-Verlag, mit ihrer Schriftsteller-Kollegin, Hélène Cixous „Eine deutsche Autobiographie“ in dem Sie ihrer beider migrationsbiographischen Erlebnisse, ihr Verhältnis zur deutschen, jiddisch-deutschen Sprache und die Widersprüche der Erinnerungskultur thematisieren. Schön, dass Sie heute hier sind.

 

Sehr geehrte Damen und Herren,

vor zehn Jahren erschien in der Hamburger Edition, dem Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung, das Buch „Gesellschaft der Angst“. Geschrieben von Heinz Bude. Ich nahm es dieser Tage zur Hand. Denn das Thema Angst war Gegenstand eines der Zwiegespräche, die ich mit meiner Frau führe. Wir beide, abwechselnd je zehn Minuten sprechend, ohne unterbrochen zu werden.

Ich erzählte davon, allerorten auf Menschen zu treffen, die mir ihre Besorgnis, ihre Angst ausdrücken. Vor einem Wahlsieg der Höcke-Extremisten, vor sozialem Abstieg, vor nicht bewältigbarer Migration nach Deutschland, vor Deportationsphantasien gegenüber Migrant:innen in Deutschland, davor nicht mehr öffentlich aussprechen zu dürfen was bewegt, vor Familienfeiern, auf denen die Risse, die durch die Gesellschaft gehen am Essenstisch erlebt werden. Das Tischtuch zerschnitten ist.

Wie die Menschen ihre Besorgnis, ihre Angst ausdrücken ist unterschiedlich. Die einen mit leiser Stimme, andere fordernd, die Dritten wütend und schreiend.

Und ich bin ebenfalls nicht frei von Angst. Im Gegenteil, gerade in einem Wahljahr wie dem gerade begonnenen. In dem eine Wahl auch über die Zukunft unserer 1989 errungenen Demokratie entscheidet.

„Angst“ sagt Heinz Bude „ist ein Begriff für das, was die Leute empfinden, was ihnen wichtig ist, worauf sie hoffen und woran sie verzweifeln. In Begriffen der Angst wird deutlich, wohin die Gesellschaft sich entwickelt, woran Konflikte sich entzünden, wann sich bestimmte Gruppen innerlich verabschieden und wie sich mit einem Mal Endzeitstimmungen oder Verbitterungsgefühle ausbreiten. Angst zeigt uns, was mit uns los ist.“

Meine Frau, von Beruf Psychotherapeutin, sieht dies ähnlich. Doch so wie Bude sagt, dass sich in Angst auch ausdrückt, was Menschen sich erhoffen, vertritt meine Frau die Überzeugung, dass sich die Angst einzugestehen, nach den Ursachen zu forschen auch die Grundlage dafür ist, sich den Mut einzugestehen.

„Freie Menschen“, so sagt Heinz Bude, „sollen keine Angst vor der Angst haben, weil das ihre Selbstbestimmung kosten kann. Wer von Angst getrieben ist, vermeidet das Unangenehme, verleugnet das Wirkliche und verpasst das Mögliche. Angst macht die Menschen abhängig von Verführern, Betreuern und Spielern. Angst führt zur Tyrannei der Mehrheit, weil alle mit den Wölfen heulen, […] sie kann panische Verwirrung der gesamten Gesellschaft mit sich bringen, wenn der Funke überspringt.“

Bude verweist auf Präsident Roosevelt, dessen New Deal auf der Überzeugung beruhte, dem Gefühl der Angst die Überzeugung von Hoffnung und den Mut einer fortschrittlichen Idee entgegenzusetzen.

Eine forschrittliche, Hoffnung machende Erzählung ist also kein aus Kampagnenbüros und von Beratern entwickeltes „Narrativ“, sondern eine sich aus konkreten Geschichten speisende Überzeugung, dass tatsächlich niemand zurückgelassen oder übersehen, ausrangiert, entrechtet oder diskriminiert zu werden darf.

Die Demoskopie lehrt uns, dass seit einigen Jahren ein mehrheitlicher Teil der Bevölkerung der Überzeugung ist, dass es der nachfolgenden Generation nicht besser, sondern schlechter gehen wird als der vorherigen.  

Die Demoskopie lehrt uns zudem anhand des jährlich erhobenen Thüringen Monitors ebenfalls zwei wichtige Unterscheidungen. Drei Viertel der Thüringerinnen und Thüringer sind überzeugt davon, dass die Demokratie die beste Staatsform ist. Aber vom Funktionieren der Demokratie sind mehr als die Hälfte der Befragten nicht überzeugt.

Das Funktionieren der Demokratie ist dabei nicht der prozeduale Ablauf demokratischer Verfahren, sondern die Ergebnisse demokratischer Regierungspolitik.

Diejenigen, deren Geschäft nicht darin besteht, die Angst zu schüren, den Egoismus und die regressive Idee eines America First, des wehrhaften Frankreichs oder Deutschland den Deutschen, sollten – überzeugt von der Möglichkeit, dass es uns gelingen kann, der kommenden Generation eine bessere Welt zu hinterlassen - in den Wettstreit darüber eintreten, was wir dafür tun können und müssen. Und davon erzählen. In Mut und Hoffnung gebenden Erzählungen.

Unter dem bei William Shakespeares Hamlet entlehnten Titel „The Time is out of Joint – Die Zeit ist aus den Fugen“ werden Sie, sehr geehrte Frau Wajsbrot im Anschluss die ambivalente Moderne des 20. Jahrhunderts mit ihren Gegenwartsbezügen literarisch reflektieren.

Tatsächlich erscheint uns die Welt aus den Fugen. Doch nehmen wir einmal an, dass wir den Zeitpunkt nicht bestimmen können, wann sie eigentlich in den Fugen war.

Jedes Zeitalter barg und birgt für uns Menschen menschgemachte Katastrophen, die unsere Existenz in Frage zu stellen geeignet sind. Wohl deshalb antwortete Theodor Adorno im Jahre 1969 auf die Feststellung des SPIEGELS „Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung...“– lakonisch mit den Worten „Mir nicht.“

Die Welt ist so gesehen aus den Fugen, doch ist dieser Zustand nicht die Ausnahme. Er ist der Regelfall. Wenn uns die Erinnerung daran fehlt, wann die Welt in den Fugen war und wie es sich seinerzeit anfühlte, dann ist die einzige Handlungsmöglichkeit die mir einfällt, die positive Beschreibung einer Welt, die in ein Gleichgewicht kommt und damit in die Fugen. Und wie sich dies anfühlen würde.

Diese positive Weltbeschreibung wird zunächst nur eine Vision sein. Ein Weg, gepflastert mit Zielen, die erreichbar gemacht werden wollen: 1,5 Grad Erderwärmung und nicht mehr, um nur ein Beispiel zu nennen. Ein Weg, an dem Grundwerte als Leitplanken uns ausrichten: Liberté, Égalité, Fraternité. Und ein Weg mit Widersprüchen die uns mal zwei Schritte vorwärts und einen zurück zwingen. Aber auf dem wir vorankommen können, wenn wir wollen.

Carsten Brosda, in Hamburg Kultursenator und ein mir wichtig gewordener Mensch, wählte für ein sehr persönliches und kluges, mich als Linken ihn als Sozialdemokraten auch zum Widerspruch herausforderndes Buch, den programmatischen Titel „Mehr Zuversicht wagen“.

Er beschreibt darin u.a., was ihm durch den Kopf ging, als der britische Dramatiker Simon Stephen 2018 über die Kraft des Geschichtenerzählens referierte und zu dem verheerenden Schluss kam, dass man diese Kunst den Rechten und Populisten überlassen habe. „Vielleicht, weil wir es vernachlässigt haben, uns ausreichend um sie zu kümmern, sind die Geschichten den Bastarden in die Hände gefallen“, mahnte Stephen seinerzeit und sah darin die Ursache für den erfolgreichen Brexit.

Während die EU-Befürworter mit nackten Fakten überzeugen wollten, seien sie von den Gegnern als „Experten“ verhöhnt worden, auf die niemand mehr hörte. Carstens Aufruf, mehr Zuversicht zu wagen ist deshalb erneut kein Narrativ aus der Politikfabrik. Er macht sich auf eine Wiederentdeckungsreise nach zuversichtlichen Erzählungen aus Literatur, Film, Popmusik und Politik. Dem reichhaltigen Schatz der Arbeiter:innenbewegung, der Geschichten über den Mut und die Hoffnung, die Welt besser zu machen

Die Berechtigung von Angst anzuerkennen, Mut für Veränderungen zu haben und daraus Zuversicht abzuleiten, mag wie ein Spruch aus dem Abreißkalender klingen und ist in die Tat umgesetzt so schwer wie richtig. Denn was wäre die Alternative? Das erste Halbjahr 2024 zu verplempern, aus Angst was uns nach den Wahlen im zweiten Halbjahr drohen könnte?

Sehr geehrte Damen und Herren,

Enrico Berlinguer ermöglichte in den 1970er Jahren den „Historischen Kompromiss“ der kommunistischen Tolerierung einer christdemokratischen Regierung. Ich bin überzeugt davon, dass wir daraus gerade in diesem Jahr lernen können.

Wer über die vermeintlich instabilen Verhältnisse in Thüringen spricht, vernachlässigt, dass auch diese menschgemacht sind. LINKE und CDU könnten seit 2019 in einer komfortablen Mehrheitskoalition gemeinsam arbeiten. Dazu müsste man in Thüringen einen historischen Kompromiss machen. Zumindest darüber nachdenken, wenn es für die von mir gewünschte progressive Koalition aus LINKEN, SPD und GRÜNEN, die seit 2014 gemeinsam gut regiert, nicht zu einer Mehrheit reichen sollte.

Berlinguers Frau, Letizia Laurenti, war gläubige Katholikin und ihre gemeinsamen Kinder getauft. Ab und an besuche ich Sonntags den katholischen Gottesdienst, lausche der gegenüber mancher Politikerrede vielfach hoffnungsvolleren und toleranteren Erzählung, die Predigt heißt, und lese im Gesangbuch „Dein Name, Herr, ist Leben, Friede, Schalom und Salam, hilf uns allen, dass wir anfangen einander Brüder und Schwestern zu sein, gib uns Mut und die Voraussicht, schon heute mit dem Werk zu beginnen“. Wenn ich die um mich Sitzenden mit „Der Friede sei mit dir“ grüße, empfinde ich danach tatsächlich Zuversicht und stelle mir vor, im Parlament würden wir uns in gleicher Weise begrüßen und was dies mit uns machen würde. Ich stelle mir vor, die Reden würden von Zuversicht handeln und nicht davon, den anderen rhetorisch zerstören zu wollen.

Sehr geehrte Damen und Herren,

für Zuversicht braucht es Orte und Personen, die unsere Gesellschaft reflektieren, Anknüpfungen der Erinnerung und des Diskurses schaffen. Die Klassik Stiftung Weimar ist dafür ein unverzichtbarer Ort und in ihr diese Personen tätig. Sie ist eine Kathedrale des Wissens.

In diesem Jahr am 8. Mai, dem Tag der Befreiung, werden die Gedenkstätte Buchenwald und Mittelbau-Dora sowie die Klassik Stiftung Weimar gemeinsam nicht nur das neue Museum Zwangsarbeit eröffnen, sondern auch das Themenjahr "Bauhus und Nationalsozialismus".

Sie, sehr geehrte Frau Wajsbrodt sagten 2008 gegenüber der FAZ: „Die Vergangenheit lässt sich nicht ändern. Das Problem ist, wie man mit ihr umgeht - ob man sich ihr stellt und sie zu bewältigen versucht oder nicht. Bleibt die Konfrontation aus, kann das im wahrsten Sinne tödlich sein, sowohl für den Einzelnen als auch für ein Land. Wobei es mir um mehr geht als nur um die Geschichte von Holocaust-Überlebenden und ihren Kindern: nämlich um die Schwierigkeiten der nachgeborenen Generation und die Frage, wie man mit einer Geschichte umgeht, die man selbst nicht erlebt, aber als Erbe mit auf den Weg bekommen hat.“

Dieser Aufgabe stellen sich die Klassik Stiftung Weimar und die Gedenkstätte Buchenwald in hervorragender und ernsthafter Weise. Und sie intervenieren mit ihrer Arbeit in gegenwärtige Diskurse. Umso wichtiger weil vor exakt 100 Jahren erstmals in Thüringen die  Bürgerlich-Konservativen mit den Völkischen paktierten, um Sozialdemokraten und Kommunisten aus der Regierung fernzuhalten. Fünf Jahre später waren die Nationalsozialisten in Thüringen zum ersten Mal in einem deutschen Gliedstaat in der Regierung, das Bauhaus nach Dessau vertrieben.

Die Klassik Stiftung Weimar ist ein Ort, der dafür Sorge trägt, dass die Zukunft nicht die Vergangenheit ist, die durch eine andere Tür wieder den Raum betritt. Ihre Arbeit ist auf Dauerhaftigkeit ausgerichtet. Das ist ein wichtiger Wert. Denn ein Partner der Klassik Stiftung Weimar hat vor wenigen Tagen erklärt, seine Arbeit nach vierzig Jahren einzustellen: Das Hamburger Institut für Sozialforschung soll 2028 schließen. Was dann aus dem Verlag „Hamburger Edition“ wird, bei dem Heinz Bude seine Gesellschaftsanalyse der Angst veröffentlichte, steht gegenwärtig in den Sternen. Haben wir die Hoffnung und die Zuversicht, dass auch diese Diskursankerplätze uns erhalten bleiben – sie sind wichtiger als je zuvor.

Sehr geehrte Damen und Herren,

dies ist, ich sprach die Wahl im Herbst dieses Jahres an, möglicherweise die letzte Rede von mir auf einem Jahresempfang der Klassik Stiftung. Denn in einer Demokratie werden Ämter auf Zeit vergeben. Auch insoweit danke ich für Ihre Aufmerksamkeit und freue mich auf Ihre inspirierenden Worte Frau Wajsbrodt.