15.11.2023

Linksrepublikanische Gelegenheiten: Die Volksfrontregierungen in Sachsen und Thüringen

Zur Jahreswende 2014/2015, also wenige Wochen nach Bildung der ersten rot-rot-grünen Thüringer Landesregierung unter Führung des linken Ministerpräsidenten Bodo Ramelow, befragte mich die Tageszeitung „Thüringer Allgemeine“ in einem Fragebogen, welches Ereignis in Thüringens Geschichte ich gern miterlebt hätte. Ich antwortete seinerzeit: „Als Staatskanzleichef würde ich natürlich gern einmal schauen, wie die zwei Wochen der SPD-KPD-Regierung verliefen, bevor diese demokratisch gewählte Regierung 1923 durch die sogenannte Reichsexekution aus dem Amt vertrieben wurde. Mit Heinrich Brandler gab es ja zeitgleich im benachbarten Sachsen auch einen linken Staatskanzleichef."

Dies motivierte die Fraktion der CDU im Landtag, in einer Kleinen Anfrage die „Äußerungen des Chefs der Thüringer Staatskanzlei zur SPD-KPD-Regierung in Thüringen vom Oktober/November 1923“ zu hinterfragen (vgl. LT-Drs. 6/460). Zutreffend stellte der Fragesteller fest, dass die Antwort „eine positiv-aufgeschlossene Haltung des Chefs der Thüringer Staatskanzlei gegenüber dieser kurzen historischen Episode […] und ein Bedauern über deren Ende vermuten“ ließen. Ebenso zutreffend stellte der CDU-Fragesteller fest, dass diese Episode „für das Land Thüringen, die Weimarer Republik und die Geschichte der Arbeiterbewegung von größerer Bedeutung war.“

Bedauerlicherweise ist zu konstatieren, dass trotz der Vielzahl von Publikationen und Veranstaltungen anlässlich der einhundertsten Wiederkehr des turbulenten Jahres 1923 der sozialistischen Regierungspolitik in Sachsen und Thüringen erneut nur wenig Gerechtigkeit widerfährt.

In der überwiegenden bürgerlichen Geschichtsschreibung gilt das Krisenjahr 1923 als Bewährungsprobe der Weimarer Republik, als Scheidelinie zwischen den unruhigen Jahren ab 1918/1919 und der kurzlebigen Epoche, die als die „goldenen Zwanziger Jahre“ erinnert werden. Die beiden mitteldeutschen Arbeiterregierungen werden dabei gemeinhin als Teil der kumulierten Krisenerscheinungen und in faktischer „Tateinheit“ mit dem Hitlerputsch, nur eben von links, gesehen. Diese Sichtweise folgt der anachronistischen Logik des sogenannten Hufeisenschemas. In diesem Irrglauben sind weltanschauliche Strömungen auf einer Skala von der Form eines Hufeisens abzubilden, bei dem sich die extremen, „totalitären“ politischen Ränder gegenseitig näher seien als beide jeweils der politischen Mitte und vom Verfassungsbogen des demokratischen Zentrums gleich weit entfernt.

Doch auch in der linken Erinnerungskultur ist der „Deutsche Oktober 1923“ nur wenig präsent und sind die Hintergründe der mitteldeutschen Linksregierungen so gut wie unbekannt. Dies liegt nicht unwesentlich darin begründet, dass im Herbst 1923 die Bemühungen einer deutschen Oktoberrevolution scheiterten und die kommunistische Historiographie sich seither in zwei Haupterzählungen aufspaltet. Auf der einen Seite „die stalinistische Heldenerzählung des am Hamburger Aufstand beteiligten (späteren KPD-Vorsitzenden und Stalin-Getreuen) Thälmann, in der kitschige Ikonisierung und die Bewunderung der Entschlossenheit einzelner Anführer*innen jede Analyse ersetzten“. Zum anderen in der maßgeblich vom KPD-Theoretiker August Thalheimer und dem seinerzeitigen KPD-Vorsitzenden Heinrich Brandler vorgetragenen Begründung, für die Abkehr von den Aufstandsplänen. Brandler und Thalheimer wurden infolgedessen von der Parteiführung abgelöst und schließlich 1928 aus der KPD ausgeschlossen. Sie gründeten später gemeinsam mit anderen Vertreter:innen einer revolutionären Realpolitik die KPD-Opposition.

Angesichts dessen sind zwei Publikationen herauszuheben, die entgegen dieser vorherrschenden Erzählung den gelungenen Versuch unternehmen, den Volksfrontregierungen in Sachsen und in Thüringen einen eigenständigen historischen Platz zuzuweisen:

Im Auftrag der Thüringer Rosa-Luxemburg-Stiftung legt Mario Hesselbarth eine umfassende und kurzweilige Darlegung der Voraussetzungen, Motive sowie Konflikte der Thüringer Arbeiterregierung vor.

Karl Heinrich Pohl geht in seiner bei Vandenhoeck & Ruprecht erschienen Sonderausgabe für die Sächsische Landeszentrale für politische Bildung einen Schritt weiter, indem er – wenn auch in Frageform – die sächsische Arbeiterregierung als linksrepublikanisches Projekt und vertane Chance für die Weimarer Republik beschreibt.

Während Hesselbarths Thüringer Betrachtungen vornehmlich mit Blick auf das Handeln der Kommunistischen Partei erfolgen, dadurch die innerkommunistischen Diskurse freilegen und - wo es nötig ist - erläutern, legt Pohl den Schwerpunkt seiner Beobachtungen auf die sächsische Sozialdemokratie, nicht, ohne sich von diesem Standpunkt aus ausführlich auch der KPD, ihrer Politik und wesentlichen handelnden Akteuren sowie dem bürgerlichen Block zu widmen. Allein aus dieser doppelt verschiedenen Erzählung entsteht der besondere Reiz im vergleichenden Lesen beider Studien.

In beiden Publikationen wird deutlich, wie nachhaltig schwer es für Sozialdemokraten, Unabhängige Sozialisten und Kommunisten war, miteinander verlässliche Kooperationsbeziehungen einzugehen. Zwar repräsentierten SPD, USPD und KPD ein gesellschaftliches Milieu, die Arbeiter:innenklasse, doch war deren Bewegung gespalten. Sowohl entlang der Grundsatzfrage „Reform oder Revolution“, woraus sich der Konflikt um die Bewahrung der im November 1918 erkämpften Republik und ihrer Errungenschaften oder ihre Überwindung zur Errichtung der sozialistischen Räterepublik entwickelte. Darüber hinaus waren die aus der Zustimmung bzw. Ablehnung der Kriegskredite für den Ersten Weltkrieg hervorgegangenen Spaltungsprozesse noch frisch in Erinnerung.

Dafür sind die Kapitel „Der republikanische Gestaltungs- und Durchsetzungsanspruch der Thüringer Sozialdemokratie“ (S. 63-82) in der Hesselbarth-Studie und bei Karl-Heinrich Pohl sowohl im Herzstück der Untersuchung „Rahmenbedingungen“ (S. 131-186) als auch in der Bilanz „Das linksrepublikanische Projekt und seine Leistungen“ (S. 233-263) exemplarisch.

Pohl und Hesselbarth weisen nach, dass in beiden mitteldeutschen Linksregierungen, die von der KPD unterstützt wurden, bevor die KPD sich 1923 zur Regierungsbeteiligung entschloss, das Hauptaugenmerk darauf lag, die materiellen Lasten der Nachkriegskrise von der arbeitenden Klasse auf die besitzenden Schichten umzuverteilen. Gleichzeitig strebten sie an, eine progressive Kultur- und Bildungspolitik zu fördern. Darüber hinaus verfolgten sie das Ziel, durch Kommunalreformen und eine entsprechende Personal- und Innenpolitik die bürgerlich-konservativen Eliten zu entmachten. Dies sollte dazu beitragen, die anti-demokratischen Tendenzen auszutrocknen, die bereits für eine republikanische Politik gefährlich waren und einer sozialistischen Perspektive diametral entgegenstanden.

Welche Wirkung die Regierungspraxis der beiden, wie man heute sagen würde, Rot-Roten Regierungen hatte, kann zeitgenössischen Äußerungen, wie z.B. den Erinnerungen des rechtsliberalen Abgeordneten der Deutschen Volkspartei im Thüringer Landtag, Georg Witzmann, entnommen werden. Im Abschnitt „Thüringen unter sozialistischer Herrschaft“ nimmt Witzmann ausführlich Stellung zu den gesetzlichen und politischen Initiativen der Arbeiterregierung insbesondere in den Bereichen Rechtspflege und Verwaltung, Kirche, Volksbildung und Beamtentum.

Das Thüringische Staatsbeamtengesetz, das dem Landtag im Herbst 1922 vorgelegt und am 14. März 1923 beschlossen wurde, verpflichtete alle Beamten in der „amtlichen Tätigkeit für die verfassungsmäßige republikanische Staatsgewalt einzutreten und alles zu unterlassen, was mit seiner Stellung als Beamter der Republik nicht zu vereinen ist. Insbesondere ist ihm untersagt, sein Amt oder die ihm kraft seiner amtlichen Stellung zugänglichen Einrichtungen für Bestrebungen zur Änderung der verfassungsmäßigen Staatsform zu mißbrauchen […]“. Diese Bestimmungen einer wehrhaften Demokratie, die aus heutiger Rückschau weitsichtig und angemessen waren, erregten, so der DVP-Politiker Witzmann in seinen Erinnerungen, „einen Sturm der Entrüstung in allen rechtsgerichteten Kreisen der Beamtenschaft. Wegen dieser Bestimmungen haben denn auch damals die bürgerlichen Abgeordneten das Gesetz, dessen Grundgedanken sie im übrigen zustimmten, abgelehnt.“

Die Untersuchungen von Pohl und Hesselbarth bürsten diejenige dominierende Geschichtsschreibung gegen den Strich, die bislang nur eine, wenige Tage und Wochen umfassende Koalition von SPD und KPD in beiden mitteldeutschen Länder im Herbst 1923 ohne Vor- und Nachgeschichte, quasi als Fußnote notierte und diese in die Krisenentwicklungen dieses Schicksalsjahres einordnete.

Wenn bis heute über eine „Schule für alle“, ob in Form der in Westdeutschland etablierten Gesamtschule oder der ostdeutschen Gemeinschaftsschule debattiert wird, dann ist festzuhalten, dass dieser Gedanke erstmals in den 1920er Jahren in Sachsen und Thüringen, letzteres auch das Geburtsland der Kindergärten, gegen enorme Widerstände praktisch umgesetzt wurde.

Das 1919 in Weimar von Martin Gropius gegründete avantgardistische Bauhaus wurde gegen viele Widerstände von rechts verteidigt. Seine Vertreibung nach Dessau war eine Reaktion auf Zumutungen der auf die Arbeiterregierung folgenden bürgerlich.-nationalistischen Regierung Thüringens ab 1924. [...]

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Der Beitrag erschien am 15. November 2023 auf dem Community-Blog der Wochenzeitung "Der Freitag".