09.11.2023

Sehen wir Jüdinnen und Juden nie wieder als passive Opfer!

Rede anlässlich des 85. Jahrestages der Reichspogromnacht 1938

GEDENKEN AN NOVEMBERPOGROME VON 1938

Sehr geehrte Damen und Herren,

liebe jüdischen Freundinnen und Freunde,

liebe Freundinnen und Freunde Israels und der jüdischen Gemeinde,

die Pogrome des 11. Novembers 1938 waren die Overtüre der Shoa. Die Shoa ist für überlebende wie nachgeborene Jüdinnen und Juden nicht nur mit einem existentiellen Trauma verbunden. Sie ist zugleich eine schwere religiöse, theologische und philosophische Herausforderung. Kann man nach dem millionenfachen Mord an den europäischen Juden noch von Gott reden?

Der deutsche Philosoph und liberale Rabbiner Emil Fackenheim brachte in diese Diskussion ein 614. Gebot, das den 613 traditionellen Geboten der Tora hinzugefügt werden müsse. Dieses Gebot lautet: „Den Juden ist es verboten, Hitler posthume Siege zu verschaffen. Es ist ihnen geboten, als Juden zu überleben, damit das jüdische Volk nicht untergeht.“

Die Shoa läutet in dieser Deutung und der Benennung als 614. Gebot eine neue Ära des Judentums ein, in der jüdisches Leben per se ein Wert an Sich ist, der an vorderster Stelle steht.

Emil Fackenheim zog aus den Berichten Überlebender aus der Zeit der Shoa die Schlussfolgerung, dass jüdisches Leben in den Todeslagern sich letztlich nur noch als Widerstand gegen den Mord äußern konnte. In der Aufrechterhaltung der jüdischen Menschenwürde und des Versuchs, sich diese jüdische Menschenwürde nicht brechen zu lassen.

Damit ist inmitten der Vernichtung eine Äußerungsform des Jüdischseins und Jüdischsein-Wollens entstanden. Der jüdische Widerstand hat der Vernichtung aller Werte einen Wert entgegengesetzt: die jüdische Selbstbehauptung.

In unserer Erinnerungskultur führt die jüdische Selbstbehauptung, der jüdische Widerstand bis heute ein Schattendasein. Bis heute ist die obszöne Behauptung, die europäischen Juden hätten sich zwischen 1938 und 1945 widerstandslos wie das arglose Lamm aus Jeremia 11, 19 zur Schlachtbank führen lassen präsenter als die Namen der vielen jüdischen Frauen und Männer, die Widerstand leisteten.

Der Mythos des passiven, widerstandslosen Juden ist mit den Worten Arno Lustigers, eines der bedeutsamsten Chronisten des jüdischen Heldentums und Widerstandes, eine der letzten historischen Lügen, eine sich hartnäckig haltende Legende. Lassen Sie uns alle dazu beitragen, mit ihr aufzuräumen.

Erinnern wir stattdessen daran, dass es Anfang der 1940er Jahre in fast einhundert Ghettos in Polen, Litauen, Weißrussland und der Ukraine zu jüdischen Aufständen kam, von denen derjenige im Warschauer Ghetto der bekannteste ist.

Machen wir uns gleichzeitig bewusst, dass jüdischer Widerstand, nonkonformen Verhaltens unterschiedlichste Formen hatte. Es war nicht immer ein aktiver Widerstand in dem Sinne, dass zu den Waffen gegriffen wurde. Nur in den seltensten Fällen standen den Widerstandleistenden solche zur Verfügung. Teilweise wehrten sie sich in den Lagern mit Messern, Äxten und Knüppeln, teilweise auch nur mit den bloßen Händen. Das machte sie jedoch nicht zu den Verzweiflungstaten, als die sie teils beschrieben werden. Sie waren mehr waren als nur reine Akte der Verzweiflung, sie waren mehr als nur ein letztes Aufbäumen. Sie waren das 614. Gebot: Das Bemühen, in auswegloser und verzweifelter Situation die menschliche Würde zu wahren.

Jüdischer Widerstand in einer Jüdinnen und Juden vollkommen entrechtenden und zunehmend entmenschlichenden Gesellschaft drückte sich darin aus, Gesetze zu missachten, Verordnungen zu unterlaufen oder kulturelle Aktivitäten zu entwickeln, die den Zweck hatten, der Selbstbehauptung zu dienen.

Jüdischer Widerstand war das Lächerlich-Machen des Regimes oder das Bemühen um individuelle Selbstbehauptung, was von offener Kritik bis hin zum Freitod als einem Akt, selbst über sein Schicksal zu bestimmen reichte.

Jüdischer Widerstand bestand darin, sich durch Flucht den Verfolgern zu entziehen, unterzutauchen auf der „arischen“ Seite, Menschenleben durch organisierte Hilfe bei der Beschaffung falscher Identitäten zu retten, Kinder von Todeslisten zu nehmen.

Ebenso gab es Jüdinnen und Juden, die sich auf die Seite von Partisanenverbänden in die Wälder schlugen oder als Soldaten in den alliierten Armeen an vielen Fronten gegen Hitler-Deutschland gekämpft haben.

Die sich als antifaschistisch verstehende DDR war übrigens nicht bereit, jüdische Widerstandskämpfer als Verfolgte des Nationalsozialismus zu sehen, sondern sah sie ausschließlich als Opfer des Faschismus.

Ich bitte Sie alle, sehr geehrte Damen und Herren,

sehen wir Jüdinnen und Juden nie wieder als passive Opfer. Jom ha-Shoa, der israelische Nationalfeiertag, ist der Tag des Gedenkens an die Schoah und jüdisches Heldentum.

Zentral für den Widerstand als authentische jüdische Lebensmöglichkeit im Sinne des säkularen 614. Gebotes ist die jüdische Selbstbehauptung.

Und deshalb ist die Begründung und Erhaltung eines jüdischen Staates nach 2.000 Jahren einer der wichtigsten Eckpfeiler für ein authentisches jüdisches Bewusstsein.

Der Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, Dr. Peter Schuster sagte heute:

„Wenn Israel angegriffen wird, dann steht die jüdische Gemeinschaft in Deutschland an seiner Seite. Wir stehen fest zusammen, gerade in Zeiten der Bedrohung. Wir lassen uns nicht einschüchtern, auch das ist eine der Lehren historischer Pogromerfahrungen wie der des 9. November 1938. Jüdinnen und Juden in Deutschland sind stark und selbstbewusst.“

Der 9. November 1938 war die ultimative Demonstration des Judenhasses und der Gewissheit: Die gewaltige Mehrheit der Deutschen sieht dem mörderischen Treiben tatenlos oder wird selbst zum Täter. Wir haben in Deutschland daraus die Konsequenz des "Nie wieder!" gezogen. Dieses "Nie wieder!" ist jedoch mehr als ein regelmäßiger Post in sozialen Netzwerken zu Jahrestagen. Ist mehr als Sonntagsreden. "Nie wieder!" ist eine Handlungsmaxime.

Wer in Deutschland von der Unantastbarkeit des Existenzrechts Israels als einer Staatsräson spricht, muss daraus eine staatsbürgerliche Pflicht ableiten: Die Bereitschaft zum eigenen Handeln. Zum täglichen eigenen Handeln. An der Seite jeder Jüdin, jedes Juden und aller Bürgerinnen und Bürger Israels.

 

Verwendete Quellen:

Grözinger, Karl-Erich, Das 614. Gebot. Wie die Schoa jüdische Glaubensvorstellungen, das Gottesbild und halachische Konzepte verändert hat, in: Jüdische Allgemeine vom 24.08.2015

Schoeps, Julius H./Bingen, Dieter/Botsch, Gideon (Hrsg.), Jüdischer Widerstand in Europa (1933-1945): Formen und Facetten (Europäisch-jüdische Studien – Beiträge, Band 27), De Gruyter Oldenbourg.

Löw, Andrea, Widerstand und Selbstbehauptung von Juden im Nationalsozialismus, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 27/2014.