29.09.2023

Thüringer Grundsteuersenkung und Entscheidungsfindungen in den zwölf Monaten bis zur Landtagswahl

Im September-Plenum setzte die Thüringer gemeinsam mit der parlamentarischen Gruppe der FDP und den AfD-Abgeordneten die Senkung der Grunderwerbssteuer um 1,5 Prozentpunkte durch. Dem Landeshaushalt werden durch diese Entscheidung rund 48 Mio. EUR verloren gehen, für die eine Kompensation durch CDU, FDP und AfD nicht benannt wurde.

Die Entnahme von 48 Mio. EUR aus dem künftigen Landeshaushalt in derselben Sitzung des Thüringer Landtages, in dem die Finanzministerin den Entwurf des Landeshaushalts einbrachte und seitens der Oppositionsfraktionen offengelassen wird, ob Ende des Jahres ein Landeshaushalt beschlossen wird, war auch eine gezielte Machtdemonstration.

Seither wird in Thüringen und bundesweit über diese Machtdemonstration gestritten und darüber, ob und wenn ja wann die CDU sich für die Durchsetzung eigener politischer Ziele auch der Stimmen der AfD bedienen könne bzw. darüber, welche Bedeutung die von der CDU selbst errichtete Brandmauer nach rechts künftig noch hat.

In der Empörung untergegangen ist, weshalb der Gesetzentwurf zur Senkung der Grunderwerbsteuer aus Sicht der Landesregierung und der Koalitionsfraktionen nicht zustimmungsfähig und möglicherweise sogar verfassungswidrig ist. Dies wiederum ist nicht unerheblich. Zum einen im Hinblick auf die durchaus berechtigte Frage an die r2g-Minderheitskoalition, ob sie nicht hätte durch eigenes Agieren die Abstimmungspartnerschaft von CDU/FDP mit der AfD verhindern können. Und zum anderen, wie in vergleichbaren Situationen künftig reagiert werden kann und sollte. Darum wird es nachfolgend gehen.

 

Drucksache 7/6813

Die Höhe der Grunderwerbsteuer wird in Thüringen zwischen Mitte-Links und Mitte-Rechts seit Jahren kontrovers diskutiert. Die r2g-Koalition hatte die Grunderwerbsteuer in der vergangenen Wahlperiode mit ihrer eigenen Mehrheit zum 01.01.2017 von 5% auf 6,5% angehoben, die Oppositionsparteien seither für die Senkung plädiert.

Eine eigene Gesetzesinitiative brachte die AfD im August 2018 und die FDP im Oktober 2021 in das Parlament ein. Der AfD-Antrag auf Senkung der Grunderwerbssteuer wurde mit den Stimmen aller Fraktionen, auch der CDU, abgelehnt.

Die FDP zog Ihren Antrag zugunsten eines Entschließungsantrags der CDU zurück, der letztlich durch Veränderungen im Beratungsverfahren zu einer gemeinsamen Initiative wurde, die mit Landtagsbeschluss vom 10. Juni 2022 (LT-Drs. 7/5687) die Landesregierung aufforderte, sowohl eine Bundesratsinitiative auf den Weg zu bringen, im Grunderwerbsteuergesetz für die Bundesländer eine Option zur Einführung von Freibeträgen für den Ersterwerb von selbstgenutztem Wohnraum zu verankern als auch im Rahmen der Umsetzung den Freibetrag auf 500.000 EUR festzusetzen, der auch dann angerechnet werden solle, wenn der Wert der Immobilie 500.000 EUR übersteigt.

Durch die Landesregierung wurde eine solche Bundesratsinitiative nicht auf den Weg gebracht, denn mit Bundesrat-Drucksache 622/17 vom 7. September 2017 liegt bereits eine Entschließung aus Nordrhein-Westfalen vor, in der die Bundesregierung aufgefordert wird einen Gesetzentwurf vorzulegen, der Bürgerinnen und Bürger beim Erwerb von Wohneigentum über einen Freibetrag von der Grundsteuer entlasten soll. Dieser Antrag wurde seit seiner Überweisung in den Finanzausschuss, auch durch das einbringende Land Nordrhein-Westfalen, nicht zur Behandlung aufgerufen. Die gleiche Intention verfolgt auch eine Bundesratsinitiative aus Schleswig-Holstein (BR-Drs. 627/17), die ebenfalls im Finanzausschuss des Bundesrates liegt. Eine weitere Initiative inhaltsgleich in den Bundesrat einzubringen hätte sachlich keinen Mehrwert geschaffen, wäre andererseits als Symbol gegenüber der (Mehrheits-)Opposition hilfreich sein können.

Eine landesgesetzliche Senkung der Grunderwerbsteuer war durch die CDU trotz der Gestaltungsmöglichkeiten im zeitweiligen Stabilitätspakt oder in den vergangenen Haushaltsberatungen nicht zum Verhandlungsgegenstand mit der Minderheitskoalition gemacht worden.

In der parlamentarischen Behandlung des Gesetzentwurfes der CDU und der vorherigen parlamentarischen Initiativen der CDU und FDP äußerte der Thüringer Rechnungshof deutliche Kritik an der fiskalischen Wirkung des Gesetzes auf den Landeshaushalt.

Die Landesregierung ihrerseits bezweifelte, dass die in § 2 des Gesetzentwurfes vorgesehene Regelung einer Förderung von Familien beim Erwerb von selbstgenutztem Wohneigentum durch die Gesetzgebungskompetenz des Landes aus Art. 105 Abs. 2a S. 2 GG gedeckt ist. Denn bei einer engen Auslegung des Wortlautes kann, wie bereits der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages feststellte, die Auffassung vertreten werden, dass sich diese Befugnis nur auf die Bestimmung des Steuersatzes bezieht. Selbst wenn im Ergebnis einer verfassungsrechtlichen Prüfung festgestellt würde, dass die Einführung eines Landesförderprogramms für Familien im Rahmen eines Gesetzes über die Absenkung der Grunderwerbsteuer nicht mit Art. 105 Abs. 2a S. 2 GG kollidiert, sind die Regelungen des § 2 des Steuergesetzes so unscharf, dass begründete Zweifel bestehen, ob sie dem Bestimmtheitsgebot nach Art. 20 Abs. 2 GG genügen.

Eine im Haushaltsausschuss des Thüringer Landtags beantragte Vertagung der Entscheidung über das Steuergesetz und verfassungsrechtliche Prüfung durch den Wissenschaftlichen Dienst des Landtages seitens der Minderheitskoalition wurde von der Mehrheit aus CDU, FDP und AfD abgelehnt. Ob dadurch Rechte der Abgeordneten verletzt wurden und das Gesetz verfassungskonform zustande gekommen ist, muss offenbleiben und dürfte sich wohl nur im Falle einer beim Verfassungsgerichtshof beantragten Prüfung entscheiden.

Eine Zustimmung der Koalition zum Gesetzentwurf der CDU schied aufgrund der beschriebenen rechtlichen Bedenken aus. Angebote zu Verhandlungen über ein Familienförderungsprogramm zum Eigenheimerwerb durch die Koalition wurden seitens der CDU nicht aufgegriffen. Gleichzeitig hatte die Koalition es versäumt, ihre Angebote in einer tatsächlichen Verhandlungsgrundlage darzulegen und damit sowohl der CDU als auch der Öffentlichkeit den tatsächlichen Willen zu einer Verhandlungslösung darzulegen. Es spricht gleichwohl viel dafür, dass die CDU auch eine solche Verhandlungsgrundlage ausgeschlagen hätte.

 

Thüringer Machtfragen und Dilemmata

Für die CDU ist die erfolgreiche Abstimmung über die Senkung der Grunderwerbsteuer das weithin sichtbare Signal, dass Mario Voigt und seine Getreuen keine Westentaschenreserve der rot-rot-grünen Minderheitskoalition sind. Dies ist für den Fraktions- und Landesvorsitzenden von nicht zu unterschätzender Bedeutung, angesichts der Klemme in der sich die Thüringer CDU zwischen dem populären Ministerpräsidenten Bodo Ramelow und der AfD im Allzeithoch befindet.

Im ThüringenTREND aus dem Sommer 2023 wurde bei den Persönlichkeitswerten der Politiker:innen Thüringens deutlich, dass Mario Voigt weder bei den Anhänger:innen der CDU noch bei denen von AfD und FDP überzeugt. Mit 15 Prozent Zustimmung lag er 7 Prozentpunkte hinter den Zustimmungswerten der CDU. Thomas L. Kemmerich hingegen überflügelt seine Partei, die nach den Werten von Infratest dimap an der Fünf-Prozenthürde scheitern würde, um ganze 18 Prozentpunkte. Da ein großer Teil der AfD-Anhänger:innen sich ein Bündnis aus AfD und CDU wünscht, muss Mario Voigt also durch besonders rabiate Durchsetzung von CDU-Politik gegenüber r2g – dies gelingt sowohl durch das Aufgreifen von AfD-nahen Themen, die auch im CDU-Klientel wirksam sind (u.a. Gender-Sprache) als auch durch gemeinsame Abstimmungen mit der AfD wie bei der Grundsteuer – seine konservative Street-Credibility erhöhen. Insbesondere deshalb, weil Mario Voigt weiß, dass er am Ende des Jahres nicht umhinkommen wird, durch ein entsprechendes Verfahren (Zustimmung, Enthaltung, …) dafür Sorge zu tragen, dass der Landeshaushalt den Landtag passiert.

Jens Schneider nennt die Grundsteuerabstimmung in der Süddeutschen Zeitung vom 18. September 2023 „den Versuch der Thüringer CDU, sich Bewegungsfreiheit zu verschaffen in einer Lage, in der sich gefangen ist zwischen einer AfD, mit der sich nicht zusammenarbeiten sollte, und der linksgeführten Regierung, von der sie gern in dieser Bewegungslosigkeit gehalten wird.“ Man muss dies nicht richtig finden, kann aber politische Rationalität in diesem Handeln nicht gänzlich von der Hand weisen.

Die Bundesebene der Union hat sich unter dem Merz-Vorsitz und mit Blick auf die anstehenden Landtagswahlen in Bayern und Hessen entschieden, den Thüringer Landesverband gewähren zu lassen. Die Motivlage ist ebenso überschaubar wie fahrlässig. Die Causa Aiwanger in Verbindung mit den hohen Zustimmungswerten für die Freien Wähler in Bayern sowie die AfD im Bund und vor allem den ostdeutschen Sonntagsfragen hat den Konservativen in der Union deutlich werden lassen, dass die Opportunitätskosten einer fallweisen Zusammenarbeit mit der AfD signifikant geringer geworden sind. Auf dieser Erkenntnis setzt die Argumentation auf, dass man sich als CDU in Sachfragen nicht davon abhängig machen dürfe, dass die Falschen zustimmen und der ausgestreckte Finger der Schuldumkehr in Richtung Mitte-Links: Wenn ihr nicht wollt, dass die Rechten zustimmen, dann stimmt doch selbst zu. Die Umfragewerte der AfD werden als weiterer Beleg für die Richtigkeit der fallweisen Zusammenarbeit mit der AfD genutzt: Mehr als ein Fünftel der Wahlberechtigten und deren Interessen dürfe nicht ignoriert werden, um sodann die inzwischen von AfD über Konservativ bis hin zum Wagenknechtlager on vogue gewordenen Vorwürfe gegen Mitte-Links und deren vermeintlich bevormundende Politik und Ignoranz gegenüber den Interessen der „normalen Leute“ zu wiederholen.

Für die AfD ist diese Situation sehr komfortabel. Bereits seit einigen Monaten verändert sich die Rhetorik der AfD-Abgeordneten. Um dem oberflächlichen Image als „bürgerliche Partei“ gerecht zu werden, verzichten sie nunmehr in der Regel auf die früher übliche schrille Zurschaustellung rechtsextremistischer Positionen und der Verachtung des Parlamentarismus der sogenannten Altparteien. Ihr Selbstbild, dass die CDU durch die partielle Zusammenarbeit mit der rot-rot-grünen Koalition als Oppositionspartei ausfallen würde und nur die AfD die einzige Opposition im Landtag sei, in Verbindung mit der Aufforderung an CDU und FDP, gemeinsam mit der AfD Politik zu machen, wird durch das Agieren der CDU einerseits und die vehemente Kritik seitens der r2g-Parteien bzw. Kritik aus CDU oder FDP an ihren Thüringer Landesverbänden andererseits genährt.

Umgekehrt proportional ungemütlich ist die Situation für die Minderheitskoalition. Die Regierung zu stellen und gleichzeitig als Koalition mit eigenen Legislativvorschlägen am Veto der Opposition zu scheitern bzw. zuzuschauen, wie politische Initiativen jenseits der Koalition Mehrheiten erzielen, ist mehr oder weniger schmerzhaft. Noch schmerzhafter ist es, dass diese Mehrheiten mit Unterstützung einer Partei zustande kommen, die gesichert rechtsextrem ist, woran sich auch nichts dadurch ändert, dass diese Partei bundesweit Zustimmungswerte von rund 20 Prozent und in Thüringen sowie anderen ostdeutschen Ländern von rund 30 Prozent der Wahlberechtigten in Umfragen erhält.

 

 

Misserfolge der Anti-AfD-Strategie

Es gibt gute Gründe dafür zu argumentieren, dass grundsätzlich jede Abstimmung von Mitte-Rechts mit der AfD auf eine schiefe Ebene führt. Es trägt zu einer Normalisierung des oben beschriebenen Politikmusters und anti-aufklärerischen Diskursrahmens bei, dessen Stichworte von der AfD gesetzt werden. Ein Blick nach Österreich aber auch in andere Länder zeigt, dass die Bemühungen von liberal-konservativen Parteien, sich nach rechts zu öffnen, nicht zur Marginalisierung der Rechtspopulisten oder Rechtsextremen beitrugen, sondern vielmehr die Liberalkonservativen entkernten. Die Integration von Rechtspopulisten in Regierungsverantwortung trug nicht zu deren Entzauberung bei, sondern gefährdet in einem Umfeld sogenannter illiberaler Demokratien wie Ungarn die Verfassungsordnungen dieser Länder.

Dies ist evident und ebenso evident ist, was Jens Schneider in der SZ beschreibt: „Die Demokratie in diesem Land steckt in einer Falle, und viele wichtige, lautstarke Akteure sind gerade im Begriff, sich darin noch weiter zu verfangen. Man muss ihnen zugestehen, dass sie das Richtige wollen und die Aufgabe schwierig ist. Dennoch täten sie gut daran, zu erkennen: Ihre Strategie im Umgang mit der AfD ist gescheitert. […] Man kann mit demokratietheoretischen Abhandlungen antworten, nur sollte niemand das für ein Erfolgsmodell halten. So nimmt die Demokratie durch das alleinige Beschwören der Brandmauer zum Schutz der Demokratie Schaden. Eine Lehre könnte in einer Tonalität liegen, die sich vom Alarmismus verabschiedet, weil er nur der AfD nützt. Die feiert es nämlich, wenn sie die Angst der anderen zu spüren glaubt.“

Unterzugehen droht in der allgemeinen Wahrnehmung auch der Thüringer Verhältnisse, dass die politische Situation im Freistaat seit März 2020 auch als eine gelungene Demokratiegeschichte erzählt werden kann und muss. Die Bürgerinnen und Bürger des Freistaates haben am 27. Oktober 2019 den Thüringer Parteien mit dem Wahlergebnis vor die Aufgabe gestellt, gewohnte Pfade zu verlassen und neue Wege zu gehen. Einige sehen in diesem Wahlergebnis eine Repräsentationskrise des Parteiensystems. Das Gegenteil ist der Fall. Der Ministerpräsident stellte in seiner Regierungserklärung 2019 vorausschauend fest: „Eine Minderheitsregierung kann sicherlich anstrengend werden. Sie wird vielmehr Kommunikation erfordern. Sie wird uns viel Geduld abverlangen. Aber sie kann genau deshalb auch sehr lohnend sein. Weil mehr geredet wird. Weil geduldig lagerübergreifend nach dem besten Weg gesucht werden muss. Die Notwendigkeit im Parlament Mehrheiten zu suchen, bietet die Chance, besser zuzuhören, Kompromisse zu schließen und den Blick auf Ungewohntes zu richten.“

Er führte weiter aus, dass die Zusammenarbeit von Regierung und Opposition gemeinhin dem Muster unterliegt, dass die Mehrheit entscheidet und die Minderheit unterliegt. In Thüringen ist seit 2019 die Opposition mit Gestaltungskompetenz verbunden. Auf Augenhöhe mit der Regierungskoalition. Das ist Chance und Pflicht zugleich, führte Bodo Ramelow aus. Diese Chance und Pflicht wurde in der Corona-Krise auch der Energie-Krise genutzt. Thüringen steht mit den multiplen politischen Minderheiten im Parlament keineswegs schlechter da als andere Länder. Diese positive Demokratiegeschichte, dass in Thüringen etwas geschieht, dass sich viele Bürger:innen wünschen, nämlich das partei- und lagerübergreifend nach Kompromissen gesucht wird und diese auch gefunden werden, wird nicht oder zu wenig erzählt. Weil es im Parteienwettbewerb und dem politischen Diskurs vor allem um Sieg und Niederlage geht. Um die Zerstörung des politischen Gegners, wohlwissend, dass man in anderer Konstellation zusammenarbeiten muss und im föderalen System Deutschlands zusammenarbeitet. Ob die FDP nun im Bund mit SPD und Grünen oder die Unions-Ministerpräsidenten mit dem Linken Ministerpräsidenten im Bundesrat und der Ministerpräsidentenkonferenz.

 

Multiple Minderheiten

Der Historiker und Vorsitzende der CDU-Grundwertekommission Andreas Rödder zeigte sich im Kontext der Debatte über das Vorgehen der Thüringer CDU offen für CDU-geführte Minderheitsregierungen im Osten, selbst wenn sie hin und wieder von der AfD unterstützt würden.  Dem Magazin Stern sagte Rödder: „Problematisch wäre es erst, wenn sich die CDU offiziell von der AfD tolerieren ließe und dafür Absprachen eingehen würde. Das wäre eine rote Linie.“

Die begrenzte Halbwertzeit roter Linien ist bekannt, selbst wenn der CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann diesen Vorstoß mit dem Hinweis ausbremste, dass man dafür kämpfen würde, dass die CDU bei allen anstehenden Landtagswahlen stärkste Kraft wird, damit gegen sie nicht regiert werden könne. Was passiert, wenn die Union dieses Ziel verfehlt, bleibt freilich offen, weshalb sich Rödder mit dem Gedanken trösten dürfte, dass sein Vorstoß zu gegebener Zeit wieder aufgegriffen werden könnte.

DPA zitiert in einer Meldung vom 21. September 2023 der Freiburger Politikwissenschaftler und Vorsitzenden der Deutschen Gesellschaft für Politikwissenschaft, Uwe Wagschal, mit folgender Einschätzung: „Unter Extrembedingungen kann es durchaus zu einer Regierungsbeteiligung der AfD kommen.“ Sollten gleich mehrere Parteien wie Grüne, FDP und SPD etwa in Sachsen an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern (in Umfragen momentan bei 5 bis 7 Prozent) und gleichzeitig CDU (zuletzt 29) und Linke (9) zusammen weniger Sitze erringen als die AfD (zuletzt 35), dann könnten sie im Landtag die Wahl eines AfD-Ministerpräsidenten nicht verhindern.

Wagschal verweist auf die Landesverfassungen: Wenn ein vorgeschlagener Kandidat für das Amt des Ministerpräsidenten keine absolute Mehrheit erreicht, kann der Regierungschef in folgenden Wahlgängen auch mit einfacher Mehrheit gewählt werden: Wer die meisten Stimmen bekommt, ist dann Ministerpräsident. So wäre theoretisch in solch einem absoluten Extremfall, wie Wagschal es nennt, auch eine AfD-Minderheitsregierung möglich. Diese müsste sich aber für Gesetze immer wieder Mehrheiten suchen, was ihr die anderen Parteien verwehren dürften. Somit wäre eine solche Regierung kaum handlungsfähig.

 

Möglich ist auch die umgekehrte Version: Kommen andere Parteien gemeinsam auf mehr Sitze als die AfD und tun sich zusammen, könnten auch sie ohne eine absolute Mehrheit wie oben beschrieben eine Minderheitsregierung bilden. Aber es wird zunehmend schwieriger. „Da die CDU die Linke als Koalitionspartner ausschließt, kann eine Koalition nur aus den vier Parteien CDU, SPD, Grüne und FDP gebildet werden. Scheitern Parteien aus dieser Konstellation an der Fünf-Prozent-Hürde, wird eine Regierung jenseits der AfD unwahrscheinlicher. Außer man holt die Linke dann ins Boot“, beschrieb Wagschal das Dilemma.

Der Darmstädter Politikwissenschaftler Christian Stecker geht laut DPA in derselben Meldung davon aus, dass es in der Ost-CDU mit Blick auf die Landtagswahlen Diskussionen über Abstimmungsmehrheiten im Rahmen von Minderheitsregierungen mit der AfD geben wird. „Je stärker die AfD und je größer rechte Wählermehrheiten, desto schwieriger wird es für die CDU, eine hermetische Brandmauer zur AfD auch innerparteilich durchzusetzen“, sagte er. Dazu müsse insbesondere die Ost-CDU mehr Beinfreiheit bekommen, um konservative Wähler glaubwürdig ansprechen zu können. Offen bleibt in dieser Äußerung Steckers gegenüber DPA, ob diese „Beinfreiheit“ gemeinsame Gesetzesabstimmungen mit der AfD beinhaltet oder nicht.

Sondiert werden müsse laut Stecker auch, wie in Parlamenten konstruktiv zusammengearbeitet werden könne. Dem ist zuzustimmen und umso wichtiger ist es festzustellen, dass anders als in Skandinavien in Deutschland und Thüringen kein etabliertes konsensdemokratisches Verfahren für Minderheitskoalitionen besteht.

Ein Modus, der darauf abzielt, dass bei unklaren Mehrheitsverhältnissen diejenige Konstellation, der es gelingt für die Wahl eines Ministerpräsidenten die notwendigen Stimmen zu erhalten, dann auch Regierungsverantwortung tragen kann, ohne bei jeder Abstimmung um die Mehrheit bangen zu müssen, ist hierzulande unbekannt. Mehr noch – die Vorstellung, dass die Opposition durch Enthaltung die Absicherung staatsleitender Entscheidungen garantiert, wird aktuell noch als unzulässige Schwäche ausgelegt.

So erklärt sich, dass die Thüringer CDU in den vergangenen Jahren zweimal dem Landeshaushalt zustimmte und ihm einmal durch Enthaltung zur Mehrheit verhalf, dafür jedoch aus der r2g-Koalition kritisiert wurde, anstatt dass dieser Modus als quasi skandinavische Logik wertgeschätzt wurde.

Es ist deshalb sinnvoll, sich noch einmal zu vergegenwärtigen: Der rot-rot-grünen Minderheitskoalition steht im Landtag eine demokratische Minderheitsopposition aus der Fraktion der CDU und den Abgeordneten der FDP gegenüber. Darüber hinaus gibt es die extrem rechte Minderheitsopposition der Fraktion der AfD sowie die fraktionslosen Abgeordneten.

Jede dieser drei Minderheiten muss für legislative Beschlüsse auf eine weitere Minderheit zugehen und um Unterstützung werben. Da allein die Minderheitskoalition und die demokratische Minderheitsopposition Gestaltungsanspruch für den Freistaat erheben, spricht grundsätzlich viel dafür, dass diese beiden Minderheiten sich auf eine sach- und anlassbezogene Zusammenarbeit vereinbaren.

Dies ist nicht zu verwechseln mit einer Pflicht zur jederzeitigen gemeinsamen Abstimmung oder der Schaffung eines Stabilitätsmechanismus, der faktisch eine Tolerierung darstellt.

Bis zur gemeinsamen Änderung des Grundsteuergesetzes ging ich davon aus, dass die sach- und anlassbezogene Zusammenarbeit auf zwei gemeinsamen Grundüberzeugungen beruhen sollte:

  1. Die für die gedeihliche Entwicklung des Freistaates Thüringen erforderlichen staatsleitenden Handlungen (Haushaltsgesetze, Arbeitsfähigkeit und Zusammensetzung der Verfassungsorgane, Handlungsfähigkeit der kommunalen Verwaltungen) sind zu gewährleisten.
  2. Für die Beschlussfassung von Gesetzen und grundsätzlichen Entscheidungen der Landesentwicklung im Thüringer Landtag soll es auf die Stimmen der AfD nicht ankommen müssen – losgelöst davon, wie diese sich im Einzelfall bei den entsprechenden Entscheidungen verhält.

Eine Grundüberzeugung, nach der es für die Beschlussfassung von Gesetzen und grundsätzlichen Entscheidungen der Landesentwicklung im Thüringer Landtag auf die Stimmen der AfD nicht ankommen soll, ist, soweit diese Überzeugung für die CDU überhaupt bestand, hinfällig geworden. Sie hat sich entschieden, aus den oben beschriebenen Gründen darauf zu verzichten, die AfD von der Einflussnahme auf die Gesetzgebung auszuschließen, auch wenn dies zu einem späteren Zeitpunkt – so sicher wie das Amen in der Kirche – den Zauberlehrlingsmoment hervorrufen wird „Die Geister die ich rief, die werd‘ ich nun nicht los“.

 

Thüringer Entscheidungen bis Herbst 2024

Solange die extrem rechte AfD-Minderheitsopposition Teil des Thüringer Landtages ist und sich an Abstimmungen beteiligt, wird es darum gehen, mit ihr umzugehen.

Die Bereitschaft auf Seiten der Minderheitskoalition und der demokratischen Minderheitsopposition, sich miteinander zu verständigen, ist derzeit so niedrig wie zuletzt vor dem 5. Februar 2020. Der Thüringer Stabilitätsmechanismus einerseits und nicht etablierte Mechanismen nach skandinavischem Vorbild andererseits haben in der r2g-Minderheitskoalition die in Teilen unrealistische Erwartung geweckt, die CDU zu einer Partnerschaft zwingen zu können. Diese Partnerschaft will die CDU aber aus den dargelegten und für sie sehr rationalen Gründen nicht eingehen.

Zu erwarten ist, dass die CDU und die FDP-Abgeordneten künftig vermehrt mit den Stimmen der AfD Beschlüsse über Entschließungen fassen und wohl auch Gesetze verabschieden werden. Die Novelle des Thüringer Vergabegesetzes, das von der CDU initiierte Gender-Verbots-Gesetz sowie das Minister-müssen-Berufsabschlüsse-haben-Gesetz werden in Kürze zur Abstimmung stehen.

Denkbar ist inzwischen auch, dass die CDU im parlamentarischen Beratungsverfahren des Haushaltsplanentwurfs an symbolischen oder für r2g unverhandelbaren Punkten gemeinsam mit der AfD Änderungen beschließt, um dann eine Enthaltung zum Gesamthaushalt anzukündigen und r2g zu zwingen, einem Haushalt zustimmen zu müssen, der die Handschrift von CDU, FDP und AfD trägt. Das Ziel würde vor allem darin bestehen, die r2g-Regierung und den Ministerpräsidenten Bodo Ramelow schwach aussehen zu lassen. Die öffentliche Erregung wäre vorhersehbar.

Ob diejenigen CDU-Abgeordneten, die nach der Grundsteuersenkung ihren Unmut über das Vorgehen und die entstandene Situation artikulierten, sich einer ein- oder mehrmaligen Wiederholung dieses Szenarios entziehen werden oder mit Blick auf die innerparteilichen Aufstellungsverfahren zur kommenden Landtagswahl überhaupt entziehen können, ist unklar.

Die r2g-Koalition wird – wie in der Vergangenheit - mit ihren 42 Stimmen Vorschlägen der CDU-Fraktion oder der FDP-Abgeordneten, die zusammen nur 25 Stimmen haben, zustimmen oder diese ablehnen. Die AfD wird ebenfalls wie bisher für oder gegen Vorschläge sowohl der r2g-Koalition als auch der Minderheitsopposition stimmen.

Es spricht viel dafür, in diesen Fällen darauf zu verzichten, sich als Minderheitskoalition und demokratische Minderheitsopposition ständig gegenseitig mit Vorwürfen zu überziehen, die am Ende nur der AfD nützen, da sie dadurch größer und wichtiger erscheint als sie tatsächlich ist. Sie ist eine extrem rechte Minderheitsfraktion ohne demokratischen Kompass und ohne Gestaltungsanspruch für Thüringen. Sie ist für die rot-rot-grüne Koalition deshalb weder Westentaschenreserve[1] noch sollte sich die Minderheitskoalition in eine ungewollte Abhängigkeit von ihr begeben, indem sie das eigene Handeln von möglichen Entscheidungen der AfD abhängig macht. 

Wie ist im Lichte ausgewählter parlamentarischer Initiativen nunmehr auf die vorgenannte Situation zu reagieren?

 

Fachlich sinnvolle Kompromisse und skandinavische Logik

Trotz aller Schwierigkeiten und Verhärtungen dürften auch im Thüringer Landtag zu aktuell vorliegenden Gesetzesinitiativen Übereinstimmungen zwischen r2g-Koalition und CDU/FDP-Opposition denkbar sein. Dies betrifft nachstehende Themenfelder:

Im Bildungsausschuss des Thüringer Landtags fand im März 2023 eine Anhörung zum Gesetzentwurf von CDU und FDP zur Änderung des Schulgesetzes (LT-Drs. 7/5371) gemeinsam mit dem „Thüringer Gesetz zur Modernisierung des Schulwesens“ (LT-Drs. 7/6573) der r2g-Koalition sowie weiteren Anträgen der Koalition und der FDP statt. Eine Verständigung zwischen der Koalition und der Opposition von CDU und FDP erscheint hier denkbar und wohl auch von verschiedenen Seiten angestrebt.

Das Thüringer Gesetz zur Stärkung der parlamentarischen Demokratie durch maximale Transparenz der CDU-Fraktion (LT-Drs. 7/3387) liegt im Justizausschuss und ist inhaltlich verwandt mit einem ähnlichen Gesetzentwurf der r2g-Fraktionen. Beide liegen seit einem Gutachten der Landtagsverwaltung offenkundig „auf Eis“. Eine Verständigung ist auch hier denkbar.

Zum Rettungsdienstgesetz, das im Innenausschuss behandelt wird, liegen Anträge der FDP (LT-Drs. 7/7394), der CDU (LT-Drs. 7/7450) und der Koalition (LT-Drs. 7/7780) vor, die gemeinsam beraten werden.

Das Thüringer Vergabegesetz wurde durch die Landesregierung im Auftrag des Landtages evaluiert. Auf Basis dieses Evaluierungsberichtes legte die CDU einen Entwurf zur Änderung des Vergabegesetzes vor. Es ist vorstellbar, dass eine Verständigung über einen Kompromiss zwischen diesen Vorschlägen und den Überlegungen der r2g-Koalition gelingt, wenn dazu der Wille vor den Abstimmungen im Wirtschaftsausschuss vorliegt. Ebenso denkbar ist, wie oben dargelegt, dass die CDU das Thüringer Vergabegesetz als nächste Machtdemonstration nutzt, um mit der AfD und der FDP die reine CDU-Position durchzusetzen.

Gehen wir zunächst einmal davon aus, dass zu den vorgenannten Themen ernsthafte Gespräche/Verhandlungen zwischen der r2g-Koalition und der CDU/FDP-Opposition stattfinden. Nun wäre es denkbar, dass Koalition und demokratische Opposition sich einigen. Ebenso denkbar wäre es, dass man sich in Teilen einig ist, aber keinen tragfähigen Kompromiss über die Gesetzesinitiative insgesamt erhält. Dann könnten CDU/FDP eine geänderte oder die ursprüngliche Gesetzesinitiative zur Abstimmung stellen und auf die Stimmen der AfD zählen. Es könnte aber auch denkbar sein, dass die Koalition – quasi in umgekehrter skandinavischer Logik – sich bei diesen Abstimmungen der Stimme enthält und damit die Stimmen der AfD obsolet macht, da die 25 Stimmen von CDU/FDP in diesem Falle auch ohne AfD ausreichen würden. Ein solches Vorgehen wäre ein Novum und wenn überhaupt denkbar dann tatsächlich nur im Ergebnis ernsthafter und zielorientierter Verhandlungen.

Ebenso denkbar wäre, dass sich demokratische Minderheitsopposition und r2g-Koalition darauf verständigen, dass es im Ergebnis der Verhandlungen wechselseitige Enthaltungen gibt. Dies würde Kompromisse und Gesichtswahrung auf beiden Seiten ermöglichen.

Ob ein solches Verfahren auch bei den Abstimmungen im Haushaltsausschuss denkbar wäre, müsste eruiert werden. Der richtige Ort hierfür ist die bereits verabredete Fortsetzung des Haushaltsgesprächs auf Einladung des Ministerpräsidenten mit dem Kernkabinett, der CDU und den r2g-Fraktionsvorsitzenden.

 

Tea-Party-Politik

Neben diesen Gesetzen, bei denen eine parteiübergreifende Verständigung im Lichte der in den vergangenen Jahren gesammelten Erfahrungen möglich sein könnte, muss sich der Landtag auch mit Gesetzentwürfen befassen, die zu denjenigen politischen Äußerungen gehören, die ich an anderer Stelle bereits als „Tea-Party“-Problem der Thüringer CDU bezeichnet habe. Also populistische Initiativen, die überhaupt nicht darauf angelegt sind, zielführend zu sein, sondern nur dazu dienen, im Stimmungsteich zu fischen. Für eine frühere Staatspartei wie die Thüringer CDU unwürdig, unter dem Vorsitz von Mike Mohring nicht üblich, inzwischen aber unter der Führung von Mario Voigt regelmäßiger Begleiter des Tagesgeschehens.

Im Justizausschuss des Thüringer Landtages liegt der CDU-Antrag zur Änderung der Verfassung und zur Änderung des Thüringer Ministergesetzes, das „Minister müssen einen Berufsabschluss haben“-Gesetz (LT-Drs. 7/7785 und 7/7786). Es ist nicht ausgeschlossen, dass diese Anträge zur Abstimmung gestellt werden, selbst wenn klar ist, dass eine Verfassungsänderung ohne r2g keine Chance auf eine Mehrheit hat. Dem Gesetz dürfte auch die AfD zustimmen.

In Kürze wird sich der Landtag mit dem „Korrekte-Sprache-Gesetz“ aka „Anti-Gender-Gesetz“ (LT-Drs. 7/8596) befassen müssen. Auch bei diesem Gesetz ist die Zustimmung der AfD gesichert.

Diese Gesetze sollten in der Sache seitens der r2g-Koalition angegriffen werden. Soweit sie die Mehrheit im Parlament erlangen sollten, wäre nicht die Zustimmung der AfD in den Mittelpunkt zu stellen, sondern die Tatsache, dass die Thüringer CDU sich auf ein solches Niveau herablässt und damit den Anspruch aufgibt, ernsthafte Gestaltungspolitik für die Zukunft des Freistaates zu machen.

 

Fortsetzung folgt.

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[1] An dieser Stelle sei noch einmal darauf hingewiesen, dass r2g bislang jedes Mal, wenn die AfD mit der Koalition stimmte, eine eigene Mehrheit schlicht deshalb hatte, weil viele CDU-Abgeordnete im betreffenden Fall nicht im Saal waren. Entsprechende Fälle sind also nicht vergleichbar mit der Grundsteuer-Abstimmung.