08.07.2023
Benjamin-Immanuel Hoff

Populistische "Störgefühle"

Beitrag auf dem Community-Blog der Wochenzeitung "Der Freitag"

Im Herbst des vergangenen Jahres meldete der SPIEGEL, dass der Thüringer Rechnungshof die Einstellungspraxis der Thüringer Landesregierung in den Jahren 2009 bis 2014, insbesondere aber seit 2014 geprüft habe und kritisch mit der rot-rot-grünen Landesregierung ins Gericht geht.

Seither wird zu dem im Frühjahr 2023 veröffentlichten Sonderbericht des Rechnungshofes kontrovers diskutiert. Während die Landesregierung frühzeitig Schlussfolgerungen aus der Kritik des Rechnungshofes zog, zugleich aber auch Prämissen des Rechnungshofes als zu weitgehend bzw. lebensfern in Frage stellte, wurde von den Oppositionsparteien ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss beantragt und inzwischen eingesetzt. Angesichts der in einem Jahr stattfindenden Landtagswahl steht zu befürchten, dass die Arbeitszeit des Ausschusses sehr kurz bemessen ist und der Vorwahlkampf die Diskussion im Ausschuss überlagert.

Obwohl der Rechnungshof sich in seinem Bericht ausschließlich mit der Einstellungspraxis der Staatssekretär:innen als politische Beamt:innen sowie den Einstellungen in den ministeriellen Leitungsbereichen befasste, lancierte die CDU-Landtagsfraktionen einen Parlamentsantrag zur Änderung des Thüringer Ministergesetzes und der Thüringer Verfassung.

Mit der Verfassungs- und Gesetzesänderung soll geregelt werden, dass künftig niemand Minister:in werden kann, die oder der nicht über eine abgeschlossene Berufsausbildung oder ein abgeschlossenes Hochschulstudium verfügt. Wenig überraschend signalisierte der Vorsitzende der FDP-Gruppe im Thüringer Landtag, der Kurzzeit-Ministerpräsident Thomas L. Kemmerich, grundsätzliche Zustimmung. Der Vorschlag bringe, so Kemmerich gegenüber der Presse, "das Störgefühl vieler Menschen zum Ausdruck". Immer wieder würden Politiker:innen in Spitzenämter gelangen, obwohl sie nicht über eine fachlich ausreichende Qualifikation dafür verfügten.

Dass die Kompetenz von Politiker:innen, egal welcher politischer Herkunft, in Frage gestellt wird, ist nicht neu. Ebenso wenig neu ist die immer wieder aufgeworfene Frage, ob es zulässig und sinnvoll sei, dass eine Ministerin zuerst das Justizressort führt und anschließend das Verteidigungsministerium oder ein Kulturminister zeitweise als Landwirtschaftsminister tätig ist. Zu letzterer Frage lautet die Antwort, dass für die Führung eines Ministeriums weniger die fachliche Kompetenz als vielmehr Managementkompetenz ausschlaggebend ist. Insbesondere angesichts der Komplexität der sogenannten Bindestrichressorts, in denen z.B. in Thüringen das Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie (TMASGFF) oder das Ministerium für Infrastruktur und Landwirtschaft mit den Abteilungen Städtebau/Wohnen, Landesplanung und Raumordnung, Ländlicher Raum, Verkehr, Landwirtschaft und Forst thematisch zusammengefasst sind.

Jörn Fischer stellte deshalb in einem Beitrag über die Selektion und Deselektion von Bundesminister:innen fest: "Normative Urteilsmaßstäbe an Politiker lassen sich zwar anhand von Funktionsanforderungen erstellen oder theoretisch ableiten, aber eine aus Idealpolitikern nach normativen Kriterien zusammengestellte Bundesregierung ist in der Praxis undenkbar. Neben der fehlenden Verfügbarkeit von Idealpolitikern hindern komplexe strategische Überlegungen, etwa hinsichtlich des Umgangs mit potenziellen Rivalen oder der Notwendigkeit der Repräsentation bestimmter Gruppen, die Regierungschefin an der Komposition eines Kabinetts der Vollkommenen. "

Sieht man davon ab, dürfte es in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland wohl keinen nachweisbaren Fall einer aufgrund fehlenden Berufs- oder Hochschulabschlusses gescheiterten Minister:in geben.

Die Anlässe für Rücktritte oder Entlassungen von Minister:innen auf Landes- und Bundesebene sind vielfältig. Jörn Fischer identifiziert für die Bundesregierungen zwischen 1949 und 2017 insgesamt 212 Personen im Bundeskabinett, von denen 67 Personen zurückgetreten sind (25 Prozent). Für die Landesebene liegt eine solche Übersicht bislang nicht vor. Werfen wir einen mehr oder weniger zufälligen Blick auf die Anlässe für Rücktritte, müssen wir zunächst differenzieren zwischen:

- Rücktritten aufgrund eigenen Fehlverhaltens,

- Rücktritte aus Opportunitätsgründen,

- Rücktritte aufgrund politischer Differenzen bzw. Regierungswechseln.

Für die Auseinandersetzung mit dem populistischen "Störgefühl" der Thüringer CDU interessieren uns nur die Rücktritte aufgrund eigenen Fehlverhaltens. Einige parteiübergreifende Beispiele:

Gregor Gysi (PDS/DIE LINKE), gelernter Rinderzüchter und Jurist, trat 2001 im Zuge der sogenannten Bonusmeilenaffäre als Berliner Wirtschaftssenator zurück, bei der es um die unzulässige private Nutzung von Bonusmeilen in seiner Zeit als Bundestagsabgeordneter ging.

Andrea Fischer (GRÜNE) nahm in Folge der BSE-Krise ihren Hut als Bundesgesundheitsministerin zurück. Sie ist gelernte Offset-Druckerin und absolvierte später ein Volkswirtschaftsstudium.

Aufgrund von Fehlern als vertretende Umweltministerin bei der Bewältigung der Flutkatastrophe im Ahrtal und in der politischen Kommunikation trat Bundesfamilienministerin Anne Spiegel (GRÜNE) nach kurzer Zeit aus dem Bundeskabinett zurück. Sie hatte ein Philosophie und Psychologie-Studium abgeschlossen.

Der diplomierte Ingenieur Günter Krause (CDU) trat aufgrund kumulativer Affären als Bundesminister zurück und zwar der "Raststättenaffäre", der "Autobahnaffäre", der "Umzugsaffäre" sowie der "Putzfrauenaffäre".

Nach nur 30 Tagen im Amt bot am 27. November 2009 der vormals als Rechtsanwalt und Notar sowie Bundesverteidigungsminister tätige Franz Josef Jung (CDU) seinen Rücktritt als Bundesminister für Arbeit und Soziales mit den Worten an: „Ich übernehme damit die politische Verantwortung für die interne Informationspolitik des Bundesverteidigungsministeriums gegenüber dem Minister bezüglich der Ereignisse vom 4. September in Kunduz“,

Hans-Peter Friedrich (CDU), Jurist und Volkswirt, trat aufgrund der Edathyaffäre als Bundeslandwirtschaftsminister zurück.

Der Christdemokrat und Bundesvertriebenenminister Hans Krüger hatte, um den NS-Machthabern zu gefallen, angegeben, er hätte als Mitglied der Schwarzen Reichswehr im November 1923 am Hitlerputsch in München teilgenommen. Dies traf zwar nicht zu, kostete ihn aber dennoch sein Amt in der Regierung Adenauer.

Als furchtbarer Jurist, wie Rolf Hochhuth den Baden-Württemberger Ministerpräsidenten Hans Filbinger (CDU) nannte, war dieser als NS-Marinerichter an wenigstens vier bekannt gewordenen Todesurteilen gegen Matrosen und Deserteure beteiligt. Er vertrat in einem Interview nach bekannt werden seiner NS-Täterschaft die Auffassung: „Was damals rechtens war, kann heute nicht Unrecht sein“. Er trat am 7. August 1978 zurück.

Als Beteiligte eines der größten Parteispendenaffäre der Bundesrepublik, dem sogenannten Flick-Skandal, musste der Jurist und Bundeswirtschaftsminister Hans Friederichs (FDP) zwar nicht zurücktreten - er trat vielmehr vom Amt zurück, um direkt in den Vorstand der Dresdner Bank zu wechseln, doch wurde er später wegen Steuerhinterziehung verurteilt, da der „erhebliche Verdacht“ bestehe, dass der Flick-Konzern Friderichs „die angeklagten Barzahlungen tatsächlich hat zukommen lassen“. Sein Parteifreund und einer der Nachfolger im Amt als Bundeswirtschaftsminister, Otto Graf Lambsdorff, gelernter Jurist, hingegen musste tatsächlich in Folge von Ermittlungen aufgrund des Flick-Skandals 1984 seinen Hut nehmen.

Der studierte Lehrer und FDP-Bundeswirtschaftsminister Jürgen W. Möllemann wiederum trat 1993 nicht zurück, weil er beim Flick-Konzern gearbeitet hatte, sondern nachdem offenbar wurde, dass Möllemann mehreren deutschen Handelsketten einen Kunststoffchip, der als Pfandmünze bei Einkaufswagen zum Einsatz kommen sollte auf einem Briefkopf des Bundeswirtschaftsministers empfohlen hatte. Dieser Chip wurde von der Firma eines angeheirateten Vetters Möllemanns vertrieben. Der Vorgang wurde als "Briefbogenaffäre" bekannt.

Reinhard Klimmt (SPD), studierter Historiker, wurde nach der verlorenen saarländischen Landtagswahl 1999 ins Bundeskabinett berufen, musste jedoch bereits im November 2000 als Bundesverkehrsminister zurücktreten. Er hatte sich kein Vergehen im Amt zuschulden kommen lassen, übernahm jedoch als Präsident des 1. FC Saarbrücken die Verantwortung für unrechtmäßig abgeschlossene Verträge seines Vorgängers.

Der Politikwissenschaftler Rudolf Scharping (SPD) trat trotz der sogenannten Mallorca-Affäre und der "Hunzinger-Affäre" nicht zurück, sondern wurde auf Bitte von Bundeskanzler Gerhard Schröder durch den Bundespräsidenten aus dem Amt entlassen. Scharping fehlten „in diesem Zusammenhang die nötige Einsicht, wie er die Veränderungen in seinem privaten Umfeld diskret in der Öffentlichkeit behandeln sollte“ kommentierte seinerzeit der Deutschlandfunk.

All diese Beispiele zeigen, dass das Scheitern von Minister:innen seine Ursache nicht im formalen Bildungsabschluss hat. Zumal der absolut überwiegende Teil von Minister:innen über eine langjährige politische und berufliche Karriere verfügt, bevor die Berufung in ein Kabinett erfolgt.

Hätten Karl-Theodor zu Guttenberg (CDU), Annette Schavan (CDU) und Franziska Giffey (SPD) nie einen Hochschulabschluss gemacht, wären sie zur Promotion nicht zugelassen worden und hätten nicht infolge sogenannter Plagiatsaffären von ihren Ämtern als Bundesverteidigungsminister (2011), Bundesbildungsministerin (2013) und Bundesfamilienministerin (2021) zurücktreten müssen. Kein deutsches Phänomen übrigens. S0 trat 2021 die ÖVP-Familienministerin Christine Aschbacher aus dem österreichischen Bundeskabinettv aufgrund von Plagiatsvorwürfen zurück.

Nimmt man allein die Zahl der Politiker:innen, die aufgrund erwiesenen schwerwiegenden wissenschaftlichen Fehlverhaltens ihren Doktortitel verloren (MdB Frank Steffel, CDU; MdB Bijan Djir-Sarai, FDP; MdEP Silvana Koch-Mehrin, FDP; MdEP Georgios Chatzimarkakis, FDP; Politikberaterin Margarita Mathiopoulos, FDP) und die damit verbundene öffentliche Aufmerksamkeit, müsste man der Thüringer CDU empfehlen, statt ein Hochschulstudium zur Berufungsvoraussetzung für Minister:innen zu machen, wohl eher ein ministerielles Ernennungsverbot für Promovierte gesetzlich zu regeln.

Dieser Widerspruch zeigt jedoch nur, worum es der CDU mit ihrer Gesetzesinitiative tatsächlich nicht geht: Fakten. Statt dessen soll die Initiative zur Änderung des Thüringer Ministergesetzes und der Thüringer Verfassung dazu beitragen, ein vermeintliches "Störgefühl in der Bevölkerung" erst zu erzeugen bzw. medial wahrnehmbar zu behaupten.

Gegen wen sich die damit verbundene Erzählung richtet, liegt auf der Hand: BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, die seit einiger Zeit vom CDU-Parteivorsitzenden Friedrich Merz zum "Hauptgegner" der Christdemokratie erkorene politische Konkurrenz. Das Klischee, wer bei den Grünen sei, hätte einen Waldorfschulabschluss und danach nichts anständiges gelernt oder sei vom Kreißsaal über den Hörsaal (natürlich ohne Abschluss) in den Plenarsaal gelangt, wird von der Thüringer CDU qua Gesetzesinitiative als vermeintlicher Fakt legitimiert.

Ich kritisierte in einem anderen Beitrag auf diesem Blog bereits, dass die Thüringer CDU unter der Führung des Partei- und Fraktionsvorsitzenden Mario Voigt eine schwerwiegende Tea-Partyisierung ihrer politischen Kommunikation vorgenommen hat. Wir können in den USA sehen, wie die Tea Party-Bewegung die Grand Old Party zu einer extremistischen Trumpisten-Bewegung ruinierte. In Thüringen profitiert von diesem Kurs, der darauf abzielt, Voigts Hauptgegner, die rot-rot-grüne Koalition zu schwächen, allein die AfD. Die jüngste Umfrage sah die Thüringer CDU zwar mit 21% vor der Partei DIE LINKE (20%) aber beide, CDU und LINKE hatten ein bzw. zwei Prozentpunkte verloren, während die AfD mit 34% ein Allzeithoch konstatierte.

Es steht zu befürchten, dass Prof. Dr. Mario Voigt, der kürzlich mit dem gegen Bundeswirtschaftminister Robert Habeck (Grüne) gerichteten obszönen Vorwurf der "Energie-Stasi" bundesweit zweifelhafte Aufmerksamkeit erregte, die Lektion erst lernt, wenn es zu spät ist. Doch die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.

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