24.05.2006

Küssen Sie mal einen Bildschirm

Gleichförmig, selbstherrlich, machtversessen - diesen Eindruck machen die deutschen Medien auf den Schweizer Journalisten Frank A. Meyer. Er vermisst Eigenwilligkeit und Ausbruchsversuche. Journalismus habe früher von Begegnungen, von sinnlichen

(...) Ich habe bei der Verfertigung dieser Rede gemerkt, dass ich nicht nur von außen komme, weil ich Schweizer bin. Auch was meine journalistische Tradition und meine Vorstellungen von unserem Beruf betrifft, komme ich irgendwie von außen.

Dazu zwei Beispiele 1. Im Hamburger Schauspielhaus wurde vor einer Woche der Henri-Nannen-Preis vergeben. Einen Journalistenpreis! Ein Preis für journalistische Leistung! Die Feier wurde, wie ich lesen durfte, inszeniert als glamouröses gesellschaftliches Ereignis, mit abgesperrten Straßen zur Vorfahrt der Limousinen, mit rotem Teppich, mit Hostessen, mit Showeffekten. Das Programm versprach übrigens, es werde Qualitätsjournalismus erlebbar gemacht.

Die geehrten Kollegen nahmen die Preise zum Teil im Smoking entgegen. Sie hatten über Sterbehilfe und Arbeitslosigkeit, über Kriegsversehrte und Mord und Globalisierungsopfer geschrieben. Sie strahlten, die Henri Nannen-Büste in den Händen. Aus einem journalistischen Monument meiner Generation hat man ein Bambi gemacht.

Die Auszeichnung von Journalismus als ballähnliche Veranstaltung? Eine Gala für Gala. Das irritiert mich. Das macht mich doch irgendwie ratlos.(...)

2. In der Tageszeitung Die Welt las ich, wie sehr die Medien unzufrieden seien über die große Koalition von CDU/CSU und SPD. Ich zitiere folgenden Satz: "Die große Koalition stellt in der Tat für die Medien ein großes Dilemma dar." Das Klagelied über die medial so unergiebige große Koalition erklingt seit einiger Zeit auch in anderen Zeitungen und Zeitschriften. Man ist ganz offensichtlich ungehalten unter den Kollegen über diese Regierung, die den Anforderungen und Wünschen der Medien so ganz und gar nicht gerecht wird.

Die Medien als selbstbezogene gesellschaftliche Kraft, die es zu befriedigen gilt, neben, ja sogar vor allen anderen Kräften wie Wirtschaft und Kultur - und Volk. Noch nie habe ich dieses neue journalistische Selbstverständnis so unverhüllt erlebt wie jetzt gerade in Deutschland.

Vierzig Jahre lang betrieb ich meinen Beruf im Bemühen, als politischer Journalist dem Begriff Medium gerecht zu werden. Das heißt: vermittelndes Element zu sein, also Vermittler zu sein von Meinungen und Stimmungen und Nöten und Freuden. Auch betrieb ich mein Metier im Bewusstsein, nur eine Stimme zu sein unter vielen Stimmen. Schließlich war ich stolz darauf, dass mein Berufsstand mit all den eigensinnigen und eigenständigen Kolleginnen und Kollegen die Vermittlerrolle wahrnahm zwischen den verschiedenen Kräften der Gesellschaft, zwischen den verschiedenen Strömungen der Gesellschaft, vor allem zwischen den Bürgern unterschiedlichster kultureller und sozialer Herkunft.

Auch hier bin ich irritiert, sogar befremdet: Die deutschen Medien betrachten sich offenbar als eigenständige Macht, noch vor dem Volk bestimmend für die Politik, insbesondere für die Regierungspolitik. Da diese neu erwachte Medienmacht gegenwärtig ungehalten ist, überlegt sie sich, ob sie der gewählten Regierung ihre Gunst entziehen will oder nicht. (…)

Neben der Finanzwirtschaft bilden die Medien die einzige Branche, die tatsächlich vollständig globalisiert ist. Die Medien haben ihr Netz über den Erdball geworfen. Niemand entgeht ihnen. Sie sind immer schon da. Rund um den Globus und rund um die Uhr. Sie sind omnipräsent. Oh, ich weiß! Wir sind nicht schuld daran, wir nutzen nur die Technik, und wir wären pflichtvergessen, täten wir es nicht. Auch sind wir zurückhaltend, geradezu kleinlaut, wenn man uns fragt, wie wir es denn mit dieser Omnipräsenz ethisch und moralisch halten. Wir tun unsern Job. Nach bestem Wissen und Gewissen. Was sollen wir sonst tun?

Für die Konsumenten wirkt unsere Omnipräsenz wie Omnipotenz. Und es ist auch so, dass Quantität in eine neue Qualität umschlagen kann. In der Wahrnehmung der Menschen, die sich den Medien, die sich uns Journalistinnen und Journalisten ausgeliefert fühlen, ist dies bereits geschehen.

Ich möchte auch dazu ein Beispiel anführen: Die mächtige, die unbeirrbare, die dogmatisch immer noch so gefestigte katholische Kirche hat erfahren müssen, dass die Medien die größere Macht sind als der Vatikan. Sie erinnern sich an das quälend langsame Sterben des Papstes Johannes Paul II. Sie haben das Bild noch vor Augen, wie er moribund am Fenster sitzt, einen Ölzweig hilflos in der zitternden Hand, den Mund aufgerissen, das Gesicht verzweifelt, der Stimme beraubt.

Showtime mit einem Sterbenden

Fanden wir diese Bilder unwürdig, schamlos, impertinent? Ich habe sie auch hingenommen als Magic moment im Fernsehen, in den Zeitungen und Zeitschriften. Wann hat man schon einen solch dramatischen Augenblick vor der Kamera? Können wir uns darauf hinausreden, dass der Vatikan diese Inszenierung seinerseits betrieben habe? Der Vatikan hat sich den Anforderungen des Medienzeitalters angepasst. (...) Auch der tote Papst hatte dem Anspruch der medial total vernetzten Welt-Gesellschaft zu genügen.

Darf ich zum Begriff "total" eine ganz böse Provokation hinzufügen: Total und totalitär liegen sehr nahe beieinander. Hat nicht das totale mediale Erfassen von allem und jedem, das totale Entblößen von allem und jedem, das totale Beschwatzen von allem und jedem - hat das nicht etwas Totalitäres?

Die Menschen zappeln in unserem Netz. Das beängstigt sie. Wir Journalisten waren einst die besten Verbündeten Machtloser im Kampf gegen Mächtige, gegen Mächte, vor allem gegen Herrschaftswissen, das die Mächtigen für sich nutzten. Heute sind wir selbst Mächtige: Wir wissen, wie wir unsere Macht umsetzen und einsetzen. Und unsere Medienmacht ist dem einfachen Bürger ganz und gar nicht transparent. Wir verfügen über Herrschaftswissen. Wir sind zu Machtträgern von eigenen Gnaden geworden.

So hat sich der Beruf verändert, den ich in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts erlernte. Es war damals ein Laufberuf. Ich fuhr zu den Politikern, (...) zu den Beamten, Unternehmern, Künstlern, Forschern. Ich lebte journalistisch von Begegnungen, von sinnlichen Eindrücken, von Gesichtern, die meine Recherchenarbeit begleiteten. Ich eilte zu Versammlungen und Protestmärschen. Es war ein ununterbrochenes Kennenlernen anderer Menschen.

Wie gestaltet sich der journalistische Alltag heute bei meinen jungen Kolleginnen und Kollegen? Ich sehe sie gebannt am Laptop sitzen. Sie rufen ab, was andere schon formuliert haben. Sie schreiben Geschichten, die sie aus anderen, vorgeformten Geschichten im Netz verfertigen. Sie zeichnen Porträts aus biografischen Versatzstücken und Gerüchten, wie sie auf dem Internet in Unzahl vorzufinden sind. So werden Vorurteile und Falschurteile, Unwahrheiten und Unterstellungen über Menschen im System nicht nur konserviert, sondern auch regelmäßig neu aufbereitet. Oft sind es vernichtende Bilder, die so gezeichnet werden, in der Regel sind es Bilder voller Häme. Häme hat sich ja mittlerweile durchgesetzt als Stilersatz - Muckefuck statt Kaffee. Am Bildschirm lässt es sich sehr bequem über Politiker oder Unternehmer journalistisch zu Gericht sitzen. Man begegnet den Opfern nur noch selten. Richter sollten für einige Monate ins Gefängnis gesteckt werden, bevor sie richten dürfen. Dann wüssten sie, was sie tun. Auch Journalisten sollten einer Kampagne von Kollegen ausgesetzt werden. Dann wüssten sie, was sie anrichten können.

Mehr und mehr lebt unser Berufsstand vom Copy-&-Paste. Sie kopiert sich fortwährend selbst. Seit Jahren schon. Und wie es aussieht, auch in Zukunft. Allzu viele Journalistinnen und Journalisten verlernen es, fiebernd vor Spannung hinauszugehen und nachzusehen, bevor sie schreiben.

Könnte es damit zu tun haben, dass - um ein deutsches Beispiel anzuführen - die Resultate der CDU/CSU und, vor allem, der SPD bei den letzten deutschen Wahlen so viele Kollegen so gewaltig überraschten? Lasen sie womöglich, vom Laptop hypnotisiert, allzu ausschließlich die Meinungsumfragen? Und die Meinungen der Kollegen? Vergaßen sie womöglich, an die Wahlveranstaltungen zu eilen, wo sie die Wählerinnen und Wähler hätten erleben können? …

Auch das nur die Frage eines verwunderten und etwas ratlosen Schweizers. Erfahren wir noch genügend sinnliches, wirkliches Leben in unserem Beruf? Küssen Sie einmal einen Bildschirm, dann wissen Sie, woran uns mangelt. Doch es gibt noch ein weiteres Netz, das uns gefangen hält. Ein intimeres: Wir bewegen uns mehr und mehr und am liebsten untereinander. Neben dem Arbeits-Bildschirm ist die Medienszene unsere engere, unsere enge Heimat geworden. Wir sind auf dem besten Weg, eine Kaste zu werden. Und die eherne Regel jeder Kaste heißt: Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus. (...)

Und dennoch ergeben sich ob so vieler verständlicher Gemeinsamkeiten auch fatale Gemeinsamkeiten: Zum Beispiel ganz plötzlich und ganz ohne böse Absicht ein Mainstream in der Einschätzung von Politik oder Wirtschaft, von Politikern und Unternehmern, von Parteien und Verbänden und Gewerkschaften. Gesellschaftliche Entwicklungen werden plötzlich, ohne böse Absicht, von den führenden Medien, von den Stimmungs- und Meinungsmachern unter den Journalisten sehr, sehr ähnlich gesehen - fatal ähnlich.

Erliege ich einer Sinnestäuschung, wenn ich mich beim Lesen deutscher Zeitungen und Zeitschriften, beim Konsum deutscher Fernseh- und Radioprogramme des Eindrucks frappierender Gleichförmigkeit nicht erwehren kann? Die Kanzlerin gestern hui, morgen pfui? Bereits zeichnet sich der neuste Mainstream ab. Wer wagt es noch auszubrechen, andersherum zu denken, neu zu denken? Wer wagt noch den Konflikt, den Schlagabtausch - mit Florett oder mit Schwert - von Blatt zu Blatt, von Journalist zu Journalist? Und wer wagt noch Kritik an einem Kollegen?

Jüngst sah ich die ganzseitigen Annoncen, auf denen Groß-Talkmaster Kerner für die Aktien von Air Berlin warb. Ich will nicht davon reden, was aus diesen Aktien nach dem Börsengang wurde. Ich will auch nicht reden vom Schicksal der einfachen Kerner-Zuschauer, die sich auf die Empfehlung ihres Idols eingelassen haben und Air-Berlin-Aktien kauften. Ich frage mich nur, wie ein Journalist - notabene des öffentlich-rechtlichen Programms - dazu kommt, sich für kommerzielle Werbung kaufen zu lassen. Eigentlich hätte ihn die Anfrage von Herrn Hunold in der journalistischen Ehre treffen müssen. Er hätte das Angebot mit der Frage beantworten müssen: Wofür halten Sie mich, Herr Hunold, dass Sie es wagen, mir, einem Journalisten, ein solch sittenwidriges Angebot zu machen?

Nicht anders hätte Beckmann, der andere Groß-Talkmaster, reagieren müssen, als man ihn als Werbe-Model entdeckte. Als Journalist hätte er reagieren müssen! (...)

Was hätte der deutsche Journalismus mit der geballten Kraft des Mainstreams aus einem Politiker gemacht, der auf ähnliche Weise amts- und funktionsvergessen dem leichten Geldverdienen erlegen wäre? Ja, was macht der deutsche Journalismus mit Ministern, die nur mal auf offiziellem Papier einen Chip für Einkaufswagen empfehlen oder sich von einer PR-Agentur modisch ausstaffieren lassen?

Doch Kerner und Beckmann sind die Szene. Unsere Szene. Kerner und Beckmann sind prominent, sind überaus erfolgreich. Mit Prominenten und Erfolgreichen ist gut dabei sein - und schlecht Kirschen essen. Man möchte doch so gerne dabei sein, dazugehören, bei Wahlen zu den Siegern, am Wahlabend in der richtigen Parteizentrale. Wehe man steht in der falschen!

Ich habe Ihnen gesagt, dass ich hier ganz persönliche Eindrücke vortrage. Hunderte von Artikeln, zahlreiche Sendungen der deutschen Medien haben mir diese Eindrücke vermittelt. (…)

DER AUTOR: Frank A. Meyer ist Chefpublizist im Schweizer Ringier-Verlag. Der gelernte Schriftsetzer lebt in Kirchberg (Schweiz) und Berlin. Meyer bahnte auch das Engagement von Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder für den Ringier-Verlag an. Die hier gekürzt abgedruckte Rede hielt er auf der Jahrestagung des Netzwerks Recherche (http://www.netzwerk-recherche.de) vergangene Woche beim Norddeutschen Rundfunk in Hamburg.