04.04.2005

Fachmenschen ohne Geist

MARTIN HECHT in der Frankfurter Rundschau vom 21. April 2004

In Schröders Staat dominiert der Typus des Expertenpolitikers, der nichts will, als seinen Job gut zu machen / Wirtschaft als alleiniger Maßstab

Es waren die korrupten Parlamentarier der französischen Julimonarchie, die in den 1840er Jahren immer wieder Gegenstand der Kritik von Alexis de Tocqueville waren. Eine ganze Gesellschaft, angeführt von politisch trägen Eliten, die es sich im biederen englischen Nachtwächterstaat bequem gemacht hatten, verurteilte zeitgleich John Stuart Mill in seinem Essay "On Liberty". Und auch in Deutschland gab der jammervolle Zustand des politischen Personals immer wieder Grund zu heftiger Beanstandung. Max Weber veranlasste der Typ des leidenschaftslosen Bürokraten im preußischen Obrigkeitsstaat, jener politisch-sterile "Fachmensch ohne Geist", zu seiner oft missverstandenen Forderung nach charismatischen Führerqualitäten.

Zu den vorläufig Letzten, die durchaus in diese Reihe passen, zählten hier zu Lande Kurt Schumacher und Carlo Schmid. Schmid vermisste den humanen Geist in der Politik als vermenschlichendes Element aller Macht und beklagte immer wieder den "Absentismus" der deutschen Bildungsschichten von der Politik.

Politiker kamen und gingen. Die Kritik blieb. Sie wurde laut wie lange nicht, als Kohls "geistig-moralische Wende" über die Republik kam, mit ihr eine lang anhaltende politische Gegenreformation, ein Stillstand an politischer Kultur, verkörpert in den Lemurengesichtern, die nun oberste Ämter besetzten. 1998 trat Rot-Grün scheinbar ein leichtes Erbe an. Sich von der alten Entourage Kohls abzusetzen, sollte nicht schwer fallen, hätte man meinen sollen.

Das Bury-Syndrom - die neue Blässe
Wer die gegenwärtige politische Landschaft nach bedeutenden Typen absucht, dem dürften auf den ersten Blick höchstens Schröder und Fischer auffallen. Auch wenn man die von Robert Michels in seiner Parteiensoziologie von 1910 ausgeführten "akzessorischen Eigenschaften der politischen Führer" wie Redegabe, Körperschönheit, Energie, Berühmtheit und Alter auf heutige Verhältnisse anlegt, bleibt nur Schulterzucken. Wohin auch das Auge blickt, Blässe nur ringsum. Mit nur einem Unterschied zwischen Regierung und Opposition: In der Regierung öffnet sich die Farblosigkeit unmittelbar hinter den Schultern von Schröder und Fischer, bei der Opposition dagegen setzt sie gleich ganz vorne ein.

Und doch gibt es einen Wandel in der Blässe: Wo einst die Seiters-Bohl-Schäuble-Bücklinge der Kohlschen Ära hockten, rücken mit einem Mal jene "Fachmenschen ohne Geist" in den Blick, oder, wie man sie heute nicht nur in Kommissionen und Ausschüssen, sondern zum politischen Geschäft überhaupt einsetzt, als hinge von ihnen allein das Glück des Gemeinwesens ab, die Experten: Haushaltsexperten, Steuerexperten, Arbeitsmarktexperten, Rentenexperten, Gesundheitsexperten. Der neue Typ des rot-grünen Expertenpolitikers ist ein Geschöpf Schröders und hat doch nicht viel mit ihm gemein, nur so viel: Zur Politik fühlt er sich nicht berufen, er will nur wie dieser, "einen guten Job machen". Ökonomistisch, anti-intellektuell, dafür karrierefixiert, durchsetzungsfähig. Nicht Clement oder Eichel kommen diesem Typ nahe, sondern einer wie Hans Martin Bury, Schröders Kanzleramtsminister, ist solch ein Typ: Diplom-Betriebswirt (BA), Versicherungsexperte, ehemaliger Vorstandsassistent der Volksbank Ludwigsburg, einst heftiger Gegner von Plänen zur Aktienfondsbesteuerung, ein Mann mit Designerbrille und Zahlenschloss am Aktenköfferchen, weitgehend frei vom Stallgeruch und anderen weltanschaulichen Konturen. Der zeitgemäße Typ legt statt auf parteiliche, auf personale Loyalität Wert: zum Chef Gerhard Schröder, nicht zum Werteprogramm der Partei, der er angehört, wie es etwa auch Regierungssprecher Béla Anda dargelegt hat.

Die politische Elitenauslese scheint ohne Alternative dem Wandel der Politik zu folgen. Hier setzt seit längerem einzig die Wirtschaft Zeichen, und es bleibt offenbar nur, auch das Personal anzupassen. Politik reduziert sich auf Wirtschaftsmanagement, also wird der Ökonom mit dem Bild des neuen Politikers identisch. Das geht bis hinein in das Verständnis dessen, was ein Bundespräsident wissen sollte. Keine Ahnung über die brisante Problematik eines Präsidentenplebiszits, dafür aber Kompetenz auf globalen Märkten. Das scheint zu genügen. Horst Köhler ist zwar nicht Schröders Kandidat, aber er könnte es sein, denn er passt in sein Weltbild. Das Primat der Ökonomie verdrängt, was einst zum Feld der Politik gehörte. Die Folge ist, dass Expertenpolitiker Debatten, die keine ökonomischen sind, als nicht mehr zum Gegenstand der Politik zugehörig werten. So gibt es, bis auf das außenpolitische Thema des neuen, weltpolitischen deutschen "Auftritts" bis heute kein nennenswertes gänzlich unökonomisches Feld, in dem die Regierung Schwerpunkte gesetzt hätte. Und wenn schon andere politische Themen anstehen, dann werden sie nur noch unter ihrem ökonomischen Gesichtspunkt verhandelt.

Wo Politik gleich Wirtschaft ist, wird etwa ihre einstig wichtigste Gegenspielerin, die Bildung, nur noch als Afterthema behandelt. Den letzten Beweis lieferte Pisa. Die Debatte wird einseitig um die geeignetste Nachwuchs-Optimierung auf volkswirtschaftliche Ziele hin geführt. Bildung wird nicht als eigenständiges Gut erfasst, sondern als eine Ressource, die dem Zweck des Wachstums dienen soll, um die enteilte Konkurrenz auf den Weltmärkten wieder einzuholen. Eine Politik jedoch verarmt, die sich auf das Befriedigen von Elementarbedürfnissen beschränkt und keine Antworten zu demokratischen Grundfragen anbietet. Auf der Strecke bleibt jener Geist, den Carlo Schmid bezeichnet hat als "die Weigerung, der Quantität den Rang eines wertverleihenden Arguments zuzuordnen". Das Problem der blassen Eliten wirkt direkt ins Volk. Die Demokratie ist die einzige Staatsform, die in einem konkreten sittlichen Sinn auf die Beteiligung ihrer Staatsbürger setzt. Deren Erziehung ist hier so wichtig, wie sonst nirgendwo. Deswegen haben politische Philosophen von Aristoteles bis Max Weber immer wieder Fragen der politischen Erziehung eines Volkes breiten Raum geschenkt.

Erziehung zum Haushälter
Schröders Demokratie erzieht, wenn überhaupt, nur noch zum haushaltenden Menschen, nicht aber zum politisch-geistigen Staatsbürger. Der homo öconomicus als ihr Menschenbild ist nicht nur eine Verkürzung der demokratischen Idee, sondern der Abschied von ihr. Schröders politische Vision erschöpft sich darin, der Volkswirtschaft verlorene Gewinne zurückzuholen. Wie aber der geistige Surplus aussieht, wie heute in dieser globalisiert-heimatlosen Gesellschaft nicht so sehr Gleichheit, sondern auch Freiheit und Brüderlichkeit zu verwirklichen sind, diese Antwort ist er schuldig geblieben. Dabei könnte eine zeitgemäße Politik doch ausgerechnet von der Wirtschaft lernen, dass beizeiten gerade antizyklisches Handeln zum Erfolg führt.

Wer die gegenwärtige politische Landschaft nach bedeutenden Typen absucht, dem dürften auf den ersten Blick höchstens Bundeskanzler Gerhard Schröder oder Außenminister Joschka Fischer auffallen.

Ökonomistisch, anti-intellektuell, dafür karrierefixiert und durchsetzungsfähig sind die Expertenpolitiker, mit denen sich Schröder umgibt. Bei der Opposition ist das nicht anders. Dabei könnte eine zeitgemäße Politik von der Wirtschaft antizyklisches Verhalten auch in dieser Hinsicht lernen, meint Dr. Martin Hecht.

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