11.04.2005

Vetospielertheorie (nach George Tsebelis)

Aus: Gerd Andreas Strohmeier (2003), Zwischen Gewaltenteilung und Reformstau: Wie viele Vetospieler braucht das Land?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (B 51/2003)

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George Tsebelis hat mit seiner Vetospielertheorie einen umfassenden Ansatz formuliert, der politische Systeme hinsichtlich ihrer Steuerungsfähigkeit klassifizierbar und vergleichbar macht. Im Mittelpunkt steht dabei die Steuerungsfähigkeit des politischen Systems in Abhängigkeit von dessen konkreter Ausgestaltung. Die bahnbrechende Idee von Tsebelis besteht darin, sämtliche Akteure, welche die politische Steuerungsfähigkeit direkt einschränken, in Vetospieler "zu übersetzen" und politische Systeme auf dieser Grundlage vergleichbar zu machen.

Vetospieler sind nach Tsebelis alle jene Akteure, die politische Reformen (Gesetze) direkt verhindern können: "Veto players are individual or collective actors whose agreement is necessary for a change of the status quo."[6] Tsebelis argumentiert, dass die politische Steuerungsfähigkeit von der Anzahl der Vetospieler und deren Distanz zueinander abhängt: "[T]he greater the distance among and the number of veto players, the more difficult it is to change the status quo."[7] Bei kollektiven Vetospielern, z.B. einem Parlament, seien im Gegensatz zu individuellen Vetospielern, z.B. einem Präsidenten, zusätzlich deren Kohäsion und interne Entscheidungsregel zu berücksichtigen: "[T]he more cohesive a collective veto player deciding by majority rule, the higher policy stability, while the more cohesive a collective veto player deciding by qualified majority, the lower policy stability."[8]

Besondere Bedeutung misst Tsebelis der Unterscheidung institutioneller und parteipolitischer Vetospieler bei. Institutionelle Vetospieler beschreibt er als in der Verfassung verankerte, konstante Vetospieler: "I will call institutional veto players individual or collective veto players specified by the constitution. The number of these veto players is expected to be constant but their properties may change."[9] Parteipolitische Vetospieler könnten sich nach Tsebelis in wechselnden Konstellationen innerhalb institutioneller Vetospieler bilden und diese als faktische Vetospieler ersetzen: "I will call partisan veto players the veto players who are generated inside institutional veto players by the political game. (...) Both the number and the properties of partisan veto players change over time."[10]

In Deutschland existieren gegenwärtig zwei parteipolitische Vetospieler - die Parteien, welche die Regierungskoalition bilden (SPD und Bündnis 90/Die Grünen) - sowie drei institutionelle Vetospieler - der Bundesrat (bei zustimmungsbedürftigen Gesetzen), das Bundesverfassungsgericht (sofern es nach einer Anrufung eine direkte oder indirekte Normenkontrolle vornimmt) und der Bundespräsident (im Rahmen seines abgeschwächten Prüfungsrechts).[11] In Großbritannien existiert hingegen nur ein einziger parteipolitischer Vetospieler: die Einparteienregierung - (New) Labour.

Wirkung von Vetospielern

Je nachdem, aus welcher Perspektive man Vetospieler betrachtet, fällt deren Bewertung höchst unterschiedlich aus: Aus der Perspektive der Gewaltenteilung erscheinen sie als Garanten der Demokratie und des Konsenses, aus der Perspektive der politischen Steuerungsfähigkeit als Ursachen des politischen Stillstands und der Reformunfähigkeit. Für Wolfgang Luthardt, der (implizit) Vetospieler aus der ersten Perspektive betrachtet, gehören diese "zu den großen geschichtlichen Leistungen des modernen demokratischen Verfassungsstaates"[12]. Für Joachim Heidorn, der (implizit) Vetospieler aus der zweiten Perspektive betrachtet, bilden diese eine große Gefahr für den modernen Verfassungsstaat, da sich dadurch die "relative Autonomie der politischen Entscheidung, die 'policy-making-power' als eine unverzichtbare Voraussetzung der Regierbarkeit, verengt"[13]. Dabei wird deutlich: Während Vetospieler dem modernen Verfassungsstaat einerseits Nutzen stiften, fügen sie ihm andererseits Schaden zu.

Zum einen sind Vetospieler ein direkter Ausdruck des Prinzips der Gewaltenteilung.[14] Infolgedessen haben sie die gleichen Ziele wie die Gewaltenteilung: die Sicherung der Freiheit des Einzelnen sowie eines Minimalkonsenses in der Gesellschaft und die generelle Abwehr des Missbrauchs staatlicher Gewalt.[15] Ein Missbrauch staatlicher Gewalt muss allerdings nicht immer so weit gehen, dass eine ganze Staatsform regelrecht entartet, wovor u.a. Aristoteles und Machiavelli gewarnt haben, sondern kann auch durch weniger radikale Bewegungen innerhalb einer Staatsform erfolgen: durch die Verfolgung von Sonderinteressen zu Lasten des Gemeinwohls. Daraus folgt, dass Vetospieler die Aufgabe haben, Konsens herzustellen. Grundsätzlich gilt: Je mehr Vetospieler existieren, desto größer ist die Konsensfähigkeit eines politischen Systems. Vetospieler realisieren Konsens jedoch nicht einfach, indem sie die Staatsgewalt willkürlich hemmen, sondern indem sie in einem bestimmten Rahmen spezifische Ziele verfolgen bzw. Interessen vertreten und dabei eine gewaltenteilende Wirkung entfalten.[16] So hat z.B. in Deutschland der Bundesrat Länderinteressen in Länderangelegenheiten und das Bundesverfassungsgericht (nach Anrufung) sowie der Bundespräsident (allerdings in geringerem Umfang) die langfristigen, im Grundgesetz niedergelegten Interessen des deutschen Volks zu vertreten. Die Mehrzahl parteipolitischer Vetospieler ergibt sich in Deutschland letztlich aus dem Verhältniswahlsystem (personalisiertes Verhältniswahlrecht), das weitest gehend für ein Vielparteiensystem und das Erfordernis einer Koalitionsregierung verantwortlich ist. Dem Verhältniswahlsystem wird grundsätzlich das Ziel zugeschrieben, für eine gerechte Repräsentation zu sorgen.[17]

Zum anderen schränken Vetospieler - wie Tsebelis deutlich gemacht hat - die Steuerungsfähigkeit eines politischen Systems ein. Grundsätzlich gilt: Je weniger Vetospieler existieren, desto größer ist die Steuerungsfähigkeit eines politischen Systems. Infolgedessen hängt sowohl die Steuerungsfähigkeit als auch die Konsensfähigkeit eines politischen Systems von der Anzahl der Vetospieler ab - allerdings diametral entgegengesetzt: Je mehr Vetospieler existieren, desto größer ist die Konsensfähigkeit und desto geringer ist die Steuerungsfähigkeit, und umgekehrt (vgl. Tabelle: s. PDF-Version).

Während vor dem Hintergrund der in der Tabelle dargestellten Varianten das politische System Großbritanniens - aufgrund des Minimums an Vetospielern - ein Maximum an Steuerungsfähigkeit bei einem Minimum an Konsensfähigkeit gewährleistet, realisiert das politische System Deutschlands - aufgrund des Maximums an Vetospielern - ein Maximum an Konsensfähigkeit bei einem Minimum an Steuerungsfähigkeit. Folglich bezieht sich die Kritik hinsichtlich der geringen Outputleistung des politischen Systems in Großbritannien auf die geringe Konsensfähigkeit und in Deutschland auf die geringe Steuerungsfähigkeit.

An dieser Stelle stellt sich nun die Frage, wie viele Vetospieler in modernen, gesellschaftlich homogenen Industrienationen mit Blick auf die Konsensfähigkeit nötig und mit Blick auf die Steuerungsfähigkeit erträglich sind. Um diese Frage annähernd beantworten zu können, empfiehlt sich eine eingehende Untersuchung der spezifischen Auswirkung der Anzahl der Vetospieler auf die Konsensfähigkeit der politischen Systeme Deutschlands und Großbritanniens.

Vetospieler in Deutschland als Falschspieler?

Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass Vetospieler die Staatsgewalt nicht einfach willkürlich hemmen, sondern in einem bestimmten Rahmen spezifische Ziele verfolgen bzw. Interessen vertreten und dabei eine gewaltenteilende Wirkung entfalten sollen. Andernfalls wird die intendierte Gewaltenteilung "wenn überhaupt, durch eine Gewaltenteilung widersinniger und offensichtlich nicht gewollter Art ersetzt"[18]. Genau dies ist jedoch mit Blick auf den Bundesrat, das Bundesverfassungsgericht und (indirekt) die Koalitionsregierung in Deutschland großteils der Fall.

Während der Bundesrat Länderinteressen vertreten und sich seine Vetomacht auf Fragen, die den Kernbereich der Länderinteressen berühren, beschränken soll, vertritt er zumindest in wichtigen Sachfragen regelmäßig Parteiinteressen und hat sich der Anteil zustimmungsbedürftiger Gesetze zunehmend auf Bereiche ausgedehnt, die kaum mehr zum Kernbereich der Länderinteressen gerechnet werden können. Vor diesem Hintergrund ist der Bundesrat "demokratisch kaum zu rechtfertigen und inzwischen das eigentliche Scharnier eines sich selbst blockierenden Parteienstaats"[19].

Während das Bundesverfassungsgericht Gesetze hinsichtlich ihrer Verfassungsmäßigkeit kontrollieren und sich seine Kontrollkompetenz nur auf die enumerativ im Grundgesetz bzw. im Bundesverfassungsgerichtsgesetz festgelegten Fälle beschränken soll, hat es in vielen Bereichen eine politisch-gestalterische Kontrolldichte entwickelt, in Einzelfällen Entscheidungen (partei)politischen Charakters getroffen, in einer Vielzahl von Urteilen eine über den konkreten Fall hinausgreifende Rechtsprechung entwickelt und sogar seine eigenen Kompetenzen sukzessive ausgeweitet. Insbesondere in den neunziger Jahren ist überdeutlich geworden, dass das Bundesverfassungsgericht immer mehr "aus dem Ruder läuft"[20].

Während das personalisierte Verhältniswahlrecht, das für das Erfordernis einer Koalitionsregierung weitest gehend verantwortlich ist, eine gerechte Repräsentation gewährleisten soll, führt es im Vergleich zu Mehrheitswahlsystemen auf der Parlamentsebene - wenn überhaupt - allenfalls zu mehr und nicht zu vollständiger Proportionalität zwischen Stimmen- und Mandatsanteilen der Parteien und auf der Regierungsebene sogar zu äußerst starken Disproportionalitätseffekten, da parlamentarische Minderheitsparteien auf der Regierungsebene einen - in jeder Hinsicht - überproportional starken Einfluss ausüben. Besonders deutlich wurde dies in Deutschland zwischen 1961 und 1983. Schließlich waren in diesem Zeitraum Regierungswechsel "nur als ein von der FDP zu vollziehender Partnerwechsel möglich"[21].

Es ist festzuhalten, dass die meisten Vetospieler in Deutschland ihre Vetomacht nicht unmaßgeblich missbrauchen und - zum Teil selbstständig - ausgedehnt haben, wodurch deren Ausmaß größer und deren Legitimationskraft geringer wurde.

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Fazit

Da die meisten Vetospieler in Deutschland ihre Vetomacht nicht unmaßgeblich missbraucht sowie ausgedehnt haben und in der Bundesrepublik grundsätzlich ähnliche Rahmenbedingungen herrschen wie in Großbritannien, erscheint eine Reduzierung der Vetospieler bzw. ihrer Vetomacht - soweit dies möglich ist - durchaus sinnvoll. Zu denken wäre beispielsweise an die Einführung eines moderaten Mehrheitswahlsystems (z.B. Mehrheitswahl mit proportionaler Zusatzliste), das als Repräsentationsziel eindeutig die Mehrheitsbildung (einer Partei) verfolgt, jedoch kleinen Parteien eine gewisse - wenn auch nicht gerechte - Repräsentation im Parlament garantiert. In Frage käme z.B. das AV-Plus System, das die Independent Commission on the Voting System in Großbritannien ausgearbeitet hat.[34] Zu denken wäre auch an eine Einschränkung der Vetomacht des Bundesrats durch eine Föderalismusreform. So könnten eine deutlichere Trennung der Aufgaben von Bund und Ländern, eine klar gegliederte Finanzverfassung, eine Rückübertragung originärer Länderkompetenzen auf Landesebene, eine Reform der Gesetzgebungskompetenzen zur weitest gehenden Vermeidung von Politikverflechtungen und eine konsequente Trennung des materiellen Gesetzesteils von den (zustimmungsbedürftigen) Verwaltungsvorschriften die Vetomacht des Bundesrats bzw. den Anteil zustimmungsbedürftiger Gesetze reduzieren. Dadurch würden die Länderkompetenzen nicht reduziert, sondern nur dorthin verschoben werden, wo sie am besten wahrgenommen werden können: in den Länderparlamenten.

Weiterführende Literatur:

W. Merkel (2003), Institutionen und Reformpolitik: Drei Fallstudien zur Vetospieler-Theorie, in: Berliner Journal für Soziologie, Heft 2, S. 255-274

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