23.10.2018
Gesellschaft

Dialektik des ostdeutschen Arbeitsspartaners

In wenigen Tagen wird der »Thüringen Monitor« 2018 veröffentlicht. Dabei handelt es sich um eine Studie zu den politischen Einstellungen der Bürgerinnen und Bürger des Freistaates. Sie erscheint jährlich, von einer Forschungsgruppe der Friedrich-Schiller-Universität Jena erarbeitet.

Initiiert wurde die Untersuchung nachdem am 20. April 2000 drei Rechtsextreme einen Anschlag auf die Erfurter Synagoge verübten. Diese Tat löste nicht nur Bestürzung und Entsetzen aus. Vielmehr traf die damalige CDU-Regierung die richtige Entscheidung, mit dem Instrumentenkasten der empirischen Sozialforschung die Thüringer Gesellschaft untersuchen zu lassen. Inzwischen verfügt der Freistaat über Daten aus einem fast zwei Jahrzehnte umfassenden Längsschnitt. Mit ihnen lassen sich wichtige Erkenntnisse über das Stimmungsbild nicht allein in Thüringen, sondern auch in Ostdeutschland ableiten. Dem »OpenData«-Anspruch der rot-rot-grünen Koalition folgend, werden diese Daten übrigens beim Institut GESIS für die öffentliche Nutzung freigegeben. Inzwischen haben zumindest die zwei weiteren mitteldeutschen Länder, Sachsen-Anhalt und Sachsen eigene Erhebungen, jeweils auch als »Monitor« bezeichnet, veröffentlicht.

Angesichts dessen ist es erstaunlich, wie wenig die Erkenntnisse dieser Erhebungen in den öffentlichen Debatten über die Gemütslage Ostdeutschlands Berücksichtigung finden. Es scheint fast dreißig Jahre nach der Friedlichen Revolution und der Maueröffnung immer noch möglich zu sein, über Ostdeutschland zu sprechen, ohne das eigene Argument einer evidenzbasierten Faktenlage zu unterziehen.

Gleichzeitig kann eine Erhebung wie der »Thüringen Monitor« nicht alle Erkenntnisse erklären - dies ist auch nicht ihr Auftrag. Vielmehr ist der Monitor eine Sonde, die auf bestimmte Sachverhalte aufmerksam macht und auf die Notwendigkeit von weiteren Tiefenbohrungen. So beispielsweise im vergangenen Jahr, als der Monitor die Überschrift »Thüringens ambivalente Mitte« trug.

Die FSU-Forschungsgruppe legten seinerzeit den Finger auf einen wesentlichen Befund, dem auch im laufenden Jahr erhebliche Bedeutung zukommen wird - dem nur auf den ersten Blick widersprüchlichen Zusammenhang zwischen Zufriedenheit mit dem erreichten Lebensstandard bei gleichzeitiger erheblicher Kritik daran, weniger als den gerechten Anteil zu erhalten. Spürbar gestiegenen Einstellungswerten für die Demokratiezufriedenheit und das Institutionenvertrauen steht zugleich eine massive Eliten- und Demokratiekritik gegenüber. Eine Mehrheit von 57 Prozent der Befragten, die mit der demokratischen Praxis in Deutschland zufrieden sind, kritisiert im Gegenzug, dass die bundesdeutsche Demokratie die Anliegen der Menschen nicht mehr wirksam vertritt.

Als ob die FSU-Forschungsgruppe manchen Redebeitrag in der anlässlich des 3. Oktober 2018 durchgeführten Bundestagsdebatte zum Stand der Deutschen Einheit antizipiert hätte, konstatiert sie in ihrem Fazit: "Wieder einmal zeigen sich die immer wieder von uns [...] diagnostizierten 'gemischten Gefühle', mit denen die Bürger_innen besser umgehen können als die meisten ihrer Beobachter_innen. Hier offenbart sich ein 'wildes Denken', das sich den Erwartungen von Wissenschaft und Politik an Geschlossenheit und Widerspruchsfreiheit widersetzt, aber doch einer eigenen Logik folgt. So ist es auch im gegebenen Fall: Während sich die Demokratiezufriedenheit auf eine positive Bewertung der Ergebnisse politischen Handelns beziehen lässt, bezieht sich Demokratiekritik auf Defekte des politischen Betriebs und die dort wahrgenommene Abgehobenheit und Selbstbezüglichkeit der Eliten." (TM 2017: 197)

Die wichtige Erkenntnis lautet: Ein optimistischer Blick auf die Entwicklung des individuellen und gesellschaftlichen Wohlstands und ein kritischer Blick auf die Gerechtigkeitsverteilung schließen sich ebenso wenig aus, wie grundsätzliche Zufriedenheit mit der Demokratie und einem dennoch sehr grundsätzlichen Misstrauen, dass an der Gestaltung der Demokratie alle gerecht partizipieren können. Dennoch stellt sich die Frage nach dem Warum.

 

»Deprivation« in der weiterhin bestehenden Teilgesellschaft Ost

Bereits 2015 widmete sich der »Thüringen Monitor« dem Stand der Deutschen Einheit. Die FSU-Forschungsgruppe konstatierte damals, dass inzwischen zwei Generationen in Ostdeutschland bestehen. Eine, die nach der Wende geboren wurde und die DDR sowie die unmittelbare Nachwendezeit nur aus den Geschichtsbüchern kennt und die Erlebnisgeneration derjenigen, die in den vergangenen fast dreißig Jahren unmittelbar von den Wirkungen der Nachwendezeit betroffen waren. In dieser Generationsbeschreibung fehlt die sogenannte »3. Generation Ostdeutschland« , auf die an späterer Stelle eingegangen wird. Bestimmend für beide oder alle drei Generationen ist, dass auch nach bald 30 Jahren in den »Neuen Bundesländern« als einer Teilgesellschaft zu leben, ein konstitutives Element ihrer Identität und Alltagserfahrung ist. (vgl. TM 2015: 11) Geblickt wird, wie die Autoren festhalten, auf "eine Vergangenheit, die nicht vergehlt. Gemeint sind damit das Bild der DDR in den Köpfen der Menschen, ihre Wahrnehmung des Verlaufs und Erfolgs des Vereinigungsprozesses, schließlich die Bewertung ihres Status als Ostdeutsche im vereinten Deutschland. Diese Rückschau ist nicht nur wichtig als historische Reminiszenz und Studie zum Geschichtsbewusstsein der Bevölkerung, sondern auch und vor allem weil die Vergangenheit in hohem Maß wirkungsmächtig und damit gegenwärtig ist. Geschichte zählt, weil sie strukturell und mental massive Nachwirkungen in die Gegenwart hat." (TM 2015: 118)

Trotz einer von den Befragten persönlich und für die Ostdeutschen insgesamt positiv bewerteten Einheit hat diese nach überwiegender Ansicht einer deutlichen Mehrheit nicht zu gerechten Verhältnissen geführt. Diese Mehrheit erhöht sich bei den Jahrgängen, in denen sich der Berufseinstieg in den Jahren vor der Jahrhundertwende vollzog, auf zwei Drittel. Dieses seitdem im »Thüringen Monitor« als »Ostdeprivation« gekennzeichnete Gefühl, individuell oder kollektiv als Ostdeutsche benachteiligt zu sein, wird besonders stark in den seit den 1990er Jahren auf dem Arbeitsmarkt aktiven Alterskohorten beklagt. Es sprechen viele Gründe dafür, dass es vor allem Erfahrungen auf dem Arbeitsmarkt sowie die hartnäckig fortbestehenden Einkommensdifferenzen sind, die Gefühle der Benachteiligung bewirken. Sie sind gefährlich, weil sie zu den wirkungsmächtigen Erklärungsfaktoren für Rechtsextremismus und für die Ablehnung von Asylsuchenden gehören, wie die FSU-Forschungsgruppe feststellt. (TM 2015: 119)

Auffällig ist und bleibt, dass auch in den Daten des »Thüringen Monitor« die Bewertung der eigenen finanziellen Lage der Befragten nicht im gleichen Maß günstig bewertet wird wie die ökonomische Perspektive des Landes. Dieser Befund dürfte nicht überraschen, denn bei der Einkommenshöhe, die unmittelbar über die eigene finanzielle Lage entscheidet, ist eine Angleichung Thüringens an den Standard des Westes weiterhin nicht vollzogen - im Gegenteil. Dies gilt ebenso für die Privatwirtschaft wie für jene Sektoren des Beschäftigungssystems, in denen politisch über Einkommenshöhen entschieden werden kann. Die regionale Einkommensspreizung bei allgemein steigender Einkommenshöhe ist unverändert und wirkt als fortdauernde Diskriminierung, die nicht mehr mit den Erschwernissen des Übergangs gerechtfertigt werden kann, wie die FSU-Forschungsgruppe bereits 2015 prägnant formulierte.

Diese in Ostdeutschland bestehende Überzeugung, unabhängig von der positiven ökonomischen Entwicklung weiterhin nicht an gleichwertigen Lebensverhältnissen zu partizipieren und damit in der Teilgesellschaft Ost zu verbleiben, die eben kein vollwertiger Teil der »Berliner Republik« ist, konstituiert wesentlich jene Rahmenbedingungen, die unter anderem über die im Osten beginnende Erosion des bestehenden Parteiensystems eine neue »Berliner Republik« entstehen lässt. In dieser Republik bricht sich mittels PEGIDA und anderen Artikulationsformen die Erkenntnis durch, dass die Teilgesellschaft Ost den sogenannten Visegrad-Staaten näher als dem Konsens der »Bonner Republik« ist. Die Ursache dafür liegt in den Wirkungen eines insgesamt ökonomisch zwar gelungenen Einheitsprozesses, in dem jedoch die lange Phase ostdeutscher Massenarbeitslosigkeit bleibende Spuren in vielen Erwerbsbiographien und fast jeder Familie hinterließ. Dieses ostdeutsche Sonderschicksal hat bei den Betroffenen negative Folgen sowohl für das Lebenseinkommen und die Ansprüche an die Altersversorgung hinterlassen, aber auch eine ganze Arbeitsgesellschaft Ost geprägt.

Dieser Arbeitsgesellschaft Ost, ihren prägenden Merkmalen und ihrem Wandel sowie den daraus erwachsenden Konsequenzen widmet sich ein bereits im vergangenen Jahr in der 1990 gegründeten ostdeutschen sozialwissenschaftlichen Fachzeitschrift Berliner Debatte Initial erschienener Beitrag. Der Autor, Prof. Dr. Michael Behr ist langjähriger Leiter der Abteilung Arbeitsmarktpolitik im Thüringer Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie und legt dem lesenswerten Aufsatz »Das Ende des ostdeutschen Arbeitsspartaners« die Erkenntnisse der 2016 durchgeführten Zusatzerhebung für Thüringen im Rahmen der jährlichen repräsentativen Arbeitnehmer/-innenbefragung »DGB-Index 'Gute Arbeit« zugrunde.

 

»Arbeitnehmerfrühling« bei langfristig prägenden Folgen der entwerteten Arbeitsgesellschaft Ost

Behrs Erkenntnisinteresse gilt der Wucht des Umbruchs auf dem ostdeutschen Arbeitsmarkt, die wie eine zweite Wende wirkt und bislang konstituierende Merkmale der Nachwende-Arbeitsgesellschaft Ost überwinden wird. Insbesondere die stark auf Zurückhaltung in den tariflichen und innerbetrieblichen Auseinandersetzungen orientierte Arbeitskultur wird von diesem Wandel berührt sein. Dieser »Arbeitnehmerfrühling« (Behr 2017: 35) drückt sich aus in Betriebsratsgründungen, einem häufigeren Unternehmenswechsel von Beschäftigten in sogenannten Mangelberufen, der Nichtbesetzungsquote offener Stelle, gestiegenen Rückverhandlungen von Beschäftigten, die sich erfolgreich in anderen Unternehmen bewerben und dann im eigenen Unternehmen um die Verbesserung der Stellen- und Gehaltssituation verhandeln. Insgesamt also in einer erhöhten Souveränität der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer: "Arbeitnehmer oder Arbeitnehmerin in Ostdeutschland zu sein, wird nicht mehr gleichermaßen wie in den vergangenen Jahren als Negativschicksal, als Abstieg empfunden, dessen Positivum allein in der Verminderung von Arbeitslosigkeit besteht." (Behr 2017: 29) Vielmehr zeigt sich in überzeugenden Nachweisen, dass nicht allein die Sorge den Arbeitsplatz zu verlieren in den vergangenen Jahren spürbar rückgängig ist, sondern in der Folge eine neue, jüngere und wohl auch weiblichere Generation ostdeutscher Arbeitnehmer/-innen in den Unternehmen an Relevanz gewinnt, die in den Gehaltsvorstellungen offensiver, in ihrer Arbeitsplatzsouveränität stärker und hinsichtlich der Verhältnisses zwischen Kapital und Arbeit deshalb auch konfliktbereiter sein könnte. Für Ostdeutschland wäre dies ein nicht zu unterschätzender Kulturwandel, denn "wenn es richtig ist, dass es die Verfasstheit des Arbeitsmarktes war, der für die schlechte Stimmung in den neuen Ländern wesentlich verantwortlich war, so könnte die Wende auf dem Arbeitsmarkt den Stimmungsumschwung [also das neue Selbstbewusstsein der arbeitenden Menschen] zum Positiven durchaus erklären." (ebd.: 30)

Gleichzeitig darf dieser sukzessive Wandel in den ostdeutschen Unternehmen nicht gleichgesetzt werden mit einem Bewusstseinswandel in der ostdeutschen Gesellschaft selbst. Anzunehmen ist, dass die in den vergangenen 30 Jahren gesammelten Erfahrungen einer, wie Behr sie nennt, »gekränkten Arbeitsgesellschaft« - sachlich richtiger scheint der Begriff der entwerteten Arbeitsgesellschaft - noch lange im kollektiven Bewusstsein aber auch in den Handlungen, nicht allein an den Wahlurnen, nachwirken wird. Auch für die Betrachtung dieser Umstände liefert Michael Behrs Beitrag hochspannende und wichtige Erkenntnisse.

Wie bereits 2011 und 2013 zeigte sich auch 2016, dass kritische Aspekte der Arbeitssituation, wie psychische und physische Belastungen, Stress, Leistungsdruck, zunehmender Arbeitsanfall in Thüringen deutlich stärker empfunden werden als in Westdeutschland. Der Anteil von Befragten, die unzufrieden mit ihrer Entlohnung sind, ist ebenfalls deutlich höher. Diese liegen nach wie vor deutlich unter dem Bundesdurchschnitt und mit etwa einem Drittel unter den Werten der westdeutschen Spitzenreiter. Die Lücke in der Tarifbindung zwischen Ost und West ist auch 28 Jahre nach der Wiedervereinigung erheblich: 31 Prozent tarifgebundenen Betrieben West mit 58 Prozent aller Beschäftigten stehen 21% tarifgebundene Betriebe Ost mit 49 Prozent aller Beschäftigten gegenüber.

Obwohl Spitzenreiter bei der Arbeitsplatzentwicklung in Ostdeutschland und vor manchen westdeutschen Ländern liegt Thüringen bei den Bruttolöhnen und -gehältern auf dem drittletzten Platz im Ländervergleich. Im Zusammenspiel mit den Spätfolgen der Massenarbeitslosigkeit in den 1990er Jahren und zu Beginn des Jahrhunderts trägt dieses Lohn- und Gehaltsdifferential zu einer Minderung der Rentenansprüche bei, die als Altersarmut-Ost in den nächsten Jahren als Ergebnis jahrelanger Niedriglohnstrategien wie ein Bumerang in Ostdeutschland einschlagen wird. Das ausgeprägte Gefühl, dass man für die Arbeitsleistung keine angemessene Vergütung erhält und im Alter nicht ausreichend abgesichert sein wird, prägt eine ganze Arbeitnehmer/-innengeneration Ost.

Um diese Entwicklung zu verstehen erinnert Michael Behr daran, dass bereits 1991 die ostdeutsche Arbeitslosigkeit auf über 1 Million Menschen hochschnellte und bis 2003 ihren Höhepunkt mit 1,6 Millionen Arbeitslosen respektive einer Arbeitslosenquote von 20,1 Prozent erreichte. Diese in Zahlen ausgedrückte Arbeitslosigkeit wäre noch wesentlich größer gewesen, hätten nicht hunderttausende Ostdeutsche in den alten Bundesländern Arbeit gesucht bzw. bis 1994 etwas 1,4 Millionen Menschen frühzeitig die Rente angetreten. Die Wanderungsdynamik war stark altersselektiv. Die starken Nachwuchskohorten der 1980er Jahren waren am stärksten von der Arbeitslosigkeit betroffen und deshalb die größte Abwanderungsgruppe. Damit schmolz der Kern der ostdeutschen Arbeitsgesellschaft die heute 45-70-Jährigen in Folge des durch Abwanderung amputierten betrieblichen Generationenaustauschs.

Hinzu kam der Anteil der Frauenarbeitslosigkeit, der in den Nachwendejahren doppelt so hoch wie bei den Männern. Für eine Gesellschaft, in der die Frauenerwerbstätigkeit nicht nur selbstverständlich, sondern auch Ausdruck des Emanzipationsfortschrittes war, eine in jeder Hinsicht einschneidende wie als Rückschritt erlebte Erfahrung.

Arbeitslosigkeit wurde, wie Behr konstatiert, zu einer "beängstigenden Massenerfahrung. Selbst die, die persönlich davon verschont geblieben waren, erlebten es im Freundeskreis, bei ehemaligen Kollegen, im Verein und in der Nachbarschaft und lebten in ständiger Sorge, selbst arbeitslos zu werden. Ostdeutschland entwickelte sich zu einer gekränkten Arbeitsgesellschaft, in der Menschen Entwertungserfahrungen ihrer beruflich einschlägigen Qualifikationen erlebt haben, wie es hierfür zumindest in Deutschland keine Parallele gibt." (ebd.: 31) Diese Feststellung kann hinsichtlich ihrer Wirkung gar nicht hoch genug bewertet werden. Denn diese Massenarbeitslosigkeit war eben"nicht nur ein Schicksal von 15 oder 20% der Erwerbspersonen; sie hielt eine komplette Gesellschaft in Schach. Die Asymmetrie auf dem Arbeitsmarkt prägt die Arbeitsbeziehungen und auch das Lebensgefühl einer ganzen Generation von Arbeitnehmern und Unternehmern gleichermaßen."

Die Drohkulisse der Arbeitslosigkeit prägte die Asymmetrie und wurde zusätzlich gesteigert durch die flächendeckende Entwertung von Fachkräften, in deren Folge sich laut Behr eine gespaltenen Arbeitsgesellschaft zweier fremdbestimmter Geschwindigkeitszonen entwickelte (Behr 2017: 31):

a) der Gruppe der Angstbeschleunigten und

b) der Gruppe der Zwangsentschleunigten.

Die hohe Zahl der qualifizierten Arbeitslosen disziplinierte die angstbeschleunigten Arbeitnehmer/-innen, die in den Unternehmen bleiben konnten und wiederum alles taten, um Personalfluktuation und Rückgriff auf die zwangsentschleunigten qualifizierten Arbeitslosen unnötig zu machen. Geformt wurde im Ergebnis ein spezifisch ostdeutscher Sozialcharakter der Arbeit, den Behr metaphorisch als "Arbeitspartaner" bezeichnet und wie folgt charakterisiert: "Der Arbeitsspartaner zeichnet sich durch seine Bereitschaft aus, Leistung auch unter harten Arbeitsbedingungen abzuliefern und eigene Interessen in hohem Maße zurückzustellen. Das Ergebnis ist eine zur Kultur gewordene Nichtberücksichtigung subjektiver Orientierungen, emotionaler Befindlichkeiten oder gesundheitlicher Interessen. Diese Kultur zeichnet sich auch durch eine strukturelle Ignoranz gegeben den Ansprüchen der Sozial- und Lebenswelt der Beschäftigten aus, was Kinderbetreuung oder Sorgearbeit anbelangt. Ostdeutschland erlebt nach dem Systemumbruch eine regelrechte Deshumanisierung des betrieblichen Sozialraums und eine zunehmende 'Verzweckung' der Sozialbeziehungen." (ebd: 31) Gleichzeitig verschmolz, so Behr, das persönliche Schicksal des Einzelnen mit denen des Betriebs. Er spricht von "Notgemeinschaften, die im Chaos der Nachwendezeit überlebten" und zu "Bleibekollektiven mit eingeschränkten Optionen, also erzwungenen Arrangements" wurden, die gekennzeichnet waren durch:

a) eine hohe Leistungsabforderung und starke Gemeinschaftsorientierung

b) bei gleichzeitig autokratisch-paternalistischer Herrschaft,

c) einer schwachen demokratischen Beteiligungskultur sowie geringer Repräsentanz von Betriebsräten und Gewerkschaften.

In einem zur Jahrtausendwende erschienen Beitrag konstatierte Behr bereits diese Zusammenführung der Interessen auf das gemeinsame Ziel des Beschäftigungs- und Betriebserhalts. Dieser lasse in den Betrieben eine Schicksalsgemeinschaft entstehen, die sich gegen den gemeinsamen Feind „Arbeitslosigkeit“ und Schließung des Betriebes wende. Das Risiko, mit dem Konkurs der Firma die sozioökonomische Basis zu verlieren, gilt - dies ist ein nicht zu unterschätzendes Merkmal - in den allermeisten ostdeutschen Klein- und Mittelbetrieben für Geschäftsführer und Belegschaft gleichermaßen. Angesichts des hohen persönlichen – und nicht zuletzt finanziellen – Engagements der ostdeutschen Geschäftsführer stand für sie, so zeuigte sich Behr überzeugt, keineswegs weniger auf dem Spiel als für die Arbeitnehmer. Unter diesen Bedingungen können die Manager von einer ausgeprägten Bereitschaft der Beschäftigten zur Selbstoptimierung ihrer Tätigkeit im Interesse des Betriebes ausgehen, ohne dass es hierzu spezieller Anreize bedarf. (Behr 2000: 31) Wenn der »Thüringen Monitor« 2017 im Übrigen konstatiert, dass dem Kapitalismus von einer großen Mehrheit Skepsis und von einer großen Minderheit Ablehnung entgegengebracht wird, die Unternehmerinnen und Unternehmer aber gleichzeitig von einer großen Mehrheit der Befragten so ausdrückliches Vertrauen wie die Institutionenspitzenreiter Polizei und Justiz erhalten (vgl. TM 2017: 111f.), dürfte die Ursache dafür in den gemeinsam gesammelten Erfahrungen der unternehmerischen Nachwende-Schicksalsgemeinschaften liegen.

Neben den beiden Gruppen der Angstbeschleunigten und Zwangsentschleunigten gewinnt in Ostdeutschland die Kohorte derjenigen, die zur Wendezeit 10 Jahre bis Anfang 20 alt waren, also heute zwischen Ende 30 und Anfang 50 sind, auf dem Arbeitsmarkt Ost an Bedeutung. Sie sind von den Umbrüchen der Wendezeit unbelastet, denn sie verfügten noch nicht über in der DDR erworbene Qualifikationen, die entwertet werden konnten und stellten sich vergleichsweise schnell auf die neuen Verhältnisse ein. Nicht selten im Schuldkomplex gegenüber der Eltern- und Großelterngeneration, die es schwerer hatten und die wiederum darunter litten, im arbeitsspartanischen Alltag nicht diejenigen Sorgeleistungen tragen zu können, die Eltern gegenüber ihren Kindern wahrnehmen wollen. Diese Nachwendegeneration, von Behr als »kritische Optionisten« (ebd.: 36) bezeichnet, erlebt die Arbeitswelt anders als die angstgetriebenen Eltern, deren Haltung zur nicht selten autoritären Unternehmenskonstellation weniger durch Loyalität als durch Mangel an Alternativen geprägt war.

 

Die negative Dialektik des ostdeutschen Arbeitsspartaners

Diese spezifischen Verhältnisse des ostdeutschen Arbeitsmarktes geraten in Bewegung und zwar in einer so fundamentalen Weise. Positiven Entwicklungen stehen dabei qualitativ durchaus spürbar negative Wirkungen gegenüber, wie Behr am Beispiel der weiblichen Erwerbstätigkeit zeigt. Denn einerseits gleichen sich zwar die Beschäftigungsquoten zwischen Männern und Frauen an, wird also eine Nachwende-Ungerechtigkeit sukzessive überwunden, gleichzeitig werden auch in Thüringen 83 Prozent der Teilzeitbeschäftigungsverhältnisse von Frauen ausgeübt - in der Regel unfreiwillig. Seine Schlussfolgerung lautet prägnant, dass "jene Mechanismen, die in den alten Bundesländern eine gleichberechtigte Teilhabe an der Erwerbsarbeit, berufliche Weiterentwicklung und Karriereoptionen behindern, auch in den ostdeutschen Ländern - wenn auch mit Einschränkungen - greifen." (Behr 2017: 34) Doppelte Vergesellschaftung der ostdeutschen Frauen bedeutet in diesem Sinne, dass sie trotz eines Löwenanteils in Haushalt, Beziehungsarbeit und Kindererziehung, maßgeblich zum Haushaltseinkommen beitragen und dennoch im unteren mittleren Management hängen bleiben, wo sich die Frage stellt, ob das Wenige mehr an Geld das viel mehr an Stress und Verantwortung rechtfertigt. (ebd.) Die Sozialdemokratie der Jahre 1998 und 2002 konnte gerade die Interessen der ostdeutschen Frauen artikulieren und sie für sich gewinnen. Warum es ihr angesichts dieser naheliegenden Erkenntnisse nicht gelingt, bleibt bislang unbeantwortet.

Behr geht in seiner Betrachtung jedoch noch einen Schritt weiter und ruft - ohne dies zum Ziel seines Beitrages zu machen - die negative Dialektik des ostdeutschen Arbeitsspartaners und der von ihm geprägten Überlebensgesellschaft auf. Nach einem Vierteljahrhundert konstatieren die nun zunehmend in Rente gehenden Arbeitnehmer/-innen der Nachwendezeit ebenso wie diejenigen, die in der Phase der Niedriglohnpolitik eingestellt wurden sowohl die weiterhin spürbare Ungleichheit gegenüber den alten Ländern aber auch eine sich abzeichnende Ungerechtigkeit zwischen den bestehenden und den neuen bzw. künftigen Inhaber/-innen der ostdeutschen Arbeitsplätze.

Die vom ostdeutschen Arbeitspartaner zwangsweise ermöglichten und tolerierten Struktureffekte des niedrigen Lohnniveaus, der geringen Tarifbindung, der schwachen Gewerkschaftspräsenz, dem niedrigen Anteil an Betriebsräten, den Defiziten der Anerkennungskultur und des Gesundheitsmanagements werden nunmehr zum doppelten Problem. Voll berührt davon sind die ehemaligen und noch aktiven Arbeitsspartaner, während die Neuankömmlinge unter anderen Verhandlungspositionen, nämlich denen des Fachkräftemangels in die Unternehmen eintreten.

Gleichzeitig wird der viel zu lange als Standortvorteil gepriesene Niedriglohnmarkt nun zum Standortnachteil. Das Szenario eines Teufelskreises aus zurückgehender Wettbewerbsfähigkeit und sinkenden Unternehmenszahlen mit den Wirkungen auf Arbeitsplätze und Infrastruktur sowie die Attraktivität der Region führt zu einer fortgesetzt akkumulierten Enttäuschungserfahrung Ost: Trotz aller Anstrengungen abgehängt zu sein und zu bleiben.

Behr verweist angesichts dessen auf das Erfordernis weiterhin bestehender Modernisierungsaufgaben in Ostdeutschland. Der Auffassung, dass diese Modernisierung anders als in den vergangenen fast drei Jahrzehnten vor allem in moderne Arbeitsbeziehungen, nicht jedoch in bauliche Infrastrukturen oder den Breitbandausbau zu geschehen habe, muss widersprochen werden. Das eine wie das andere ist vielmehr erforderlich. Was dies für die künftige Ausrichtung der EU-Förderpolitik bedeutet, wurde durch den Autor dieser Rezension in einem Beitrag für diesen Blog bereits gezeigt.

Unabhängig davon lautet die Erkenntnis jedoch, dass wer die Stimmungslage in Ostdeutschland verstehen will, die sich unter anderem in den drei Landtagswahlen Brandenburg, Sachsen und Thüringen des kommenden Jahres ausprägen werden, muss die Entstehung und den Wandel der Arbeitsgesellschaft Ost und ihre bis heute bestehenden Wirkungen aber insbesondere die aus ihr erwachsenden Konsequenzen für die Zukunft in den Blick nehmen. Der Beitrag von Michael Behr leistet dafür unverzichtbare Aufklärungsarbeit.

 

Literatur

Behr, Michael 2017, Das Ende des ostdeutschen Arbeitsspartaners. Warum der Umbruch auf dem Arbeitsmarkt die Arbeitskultur verändern wird, in: Berliner Debatte initial, Heft 3.

Behr, Michael 2000, Ostdeutsche Arbeitsspartaner. Der positive Trend in der ostdeutschen Industrie führt zu neuen Herausforderungen, in: Die Politische Meinung Nr. 369.

Best, Heinrich et al 2017, Thüringens ambivalente Mitte: Soziale Lagen und politische Einstellungen. Ergebnisse des Thüringen Monitors 2017.

Best, Heinrich et al 2015, Thüringen im 25. Jahr der deutschen Einheit. Ergebnisse des Thüringen Monitors 2015.

 

Über mich
Foto von Benjamin Hoff

Ich bin Vater, Politiker und Sozialwissenschaftler. Herausgeber von "Neue Wege gehen. Wie in Thüringen gemeinsam progressiv regiert wird" (VSA-Verlag 2023).

Hier veröffentliche ich regelmäßig Beiträge in meinem Blog und andere Publikationen.

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Über die Praxis linken Regierens
Die rot-rot-grüne Thüringen-Koalition
Sozialismus.de Supplement zu Heft 4/ 2023
Rückhaltlose Aufklärung?
NSU, NSA, BND – Geheimdienste und Untersuchungs­ausschüsse zwischen Staatsversagen und Staatswohl
Erschienen im VSA-Verlag.