04.03.2023

Auf der schiefen Bahn

Die Berliner SPD hat sich nicht nur für die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen mit der CDU entschieden, sondern fatalerweise zugleich die Brücken zu Rot-Grün-Rot abgebrochen.

Ob und wann in Berlin SPD, Grüne und LINKE wieder vertrauensvoll miteinander verhandeln können ist derzeit offen

Alexander Fischer / Benjamin-Immanuel Hoff

„Wenn man einmal auf der schiefen Bahn ist, kommt man davon nicht mehr runter“, lernten wir als Kinder. Was passiert, wenn auf einer schiefen Bahn das Rutschen einsetzt, zeigen die Ereignisse in Berlin.

Am Mittwoch dem 1. März entschied der Landesvorstand der Berliner SPD mit 25 zu 12 Stimmen, in Koalitionsverhandlungen mit der CDU einzutreten. Die Verhandlungen sind auf rund vier Wochen angesetzt. Danach wird die SPD in Berlin einen Mitgliederentscheid durchführen. Auch wenn die Berliner Jusos auf Twitter ankündigen: „Was jetzt folgen wird und muss, ist die größte parteiinterne Kampagne, die die @spdberlin je gesehen hat“, gehen wir davon aus, dass rot-grün-rot spätestens Anfang Mai durch ein schwarz-rotes Bündnis abgelöst wird.

Zweiundzwanzig Jahre zuvor, am 16. Juni 2001, wurde Klaus Wowereit mit den Stimmen von SPD, Grünen und der damaligen PDS zum Regierenden Bürgermeister gewählt. Er stand einem rot-grünen Minderheitssenat vor, der von der PDS toleriert wurde. Nach der Abgeordnetenhauswahl im Herbst des gleichen Jahres, bildete er die erste rot-rote Landesregierung der Hauptstadt.

Dem Wechsel im Roten Rathaus vom langjährigen Regierenden Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU) zu Klaus Wowereit gingen Jahre sozialdemokratischer Agonie und das Fortbestehen der politischen Klasse des alten West-Berlins voraus.

 

Garski-Skandal, Antes-Affäre, Banken-Pleite – das Überleben West-Berlins bis 2001

Von 1955 bis 1981 stellte die SPD den Regierenden Bürgermeister Berlins.  Im Zuge der Affäre um den Bauunternehmer Dietrich Garski verlor sie die Macht an die CDU. Diese hatte die SPD aber bereits 1975 in der Wähler:innengunst überflügelt und konnte bis 1989 gemeinsam mit der FDP den Senat stellen.

Eberhard Diepgen übernahm 1984 das Amt des Regierenden Bürgermeisters in der Nachfolge Richard von Weizsäckers, der für das Amt des Bundespräsidenten kandidierte.

Nachdem im Zuge der Korruptionsaffäre um den CDU-Baustadtrat Wolfgang Antes bekannt wurde, dass auch Eberhard Diepgen eine „Spende“ in Höhe von 75.000 Mark aus den Händen des Bauunternehmers Kurt Franke erhalten hatte, die CDU bei der Berlin-Wahl 1989 spürbare Verluste einfuhr und die FDP aus dem Abgeordnetenhaus flog, bildete Walter Momper (SPD) den ersten rot-grünen Senat. Die Alternative Liste verließ die gemeinsame Regierung im November 1990 in Folge der Räumung der besetzten Häuser in der Ost-Berliner Mainzer Straße.

Die erste gesamtstädtische Berlin-Wahl im Dezember 1990 sah die CDU bei 40,4 Prozent; die SPD kam auf 30,4 Prozent. Die von Eberhard Diepgen geführte schwarz-rote Regierung zahlte vor allem auf das Konto der CDU. Während die SPD bei der Berlin-Wahl 1995 auf gerade einmal 23,6 Prozent kam und vier Jahre später auf 22,4 Prozent absackte, erreichte die CDU 1999 stabile 40,8 Prozent.

Auch wenn das Berliner Abgeordnetenhaus 1993 vom Rathaus Schöneberg in den Ostteil der Stadt umzog und seither im Gebäude des früheren preußischen Landtags residiert und der Sitz des Regierenden Bürgermeisters das Rote Rathaus nahe dem Alexanderplatz ist, regierte unter Eberhard Diepgen das alte West-Berlin. Sabine Beikler schrieb 2010 in einem ZEIT-Porträt des langjährigen CDU-Fraktionsvorsitzenden und Diepgen-Protegé, Klaus-Rüdiger Landowsky: „Diepgen und Landowsky verlängern den Einfluss der konservativen West-Berliner Kreise lange über die Vereinigung hinaus.“

Fünf Jahre zuvor formulierte Joachim Stoltenberg im WELT-Beitrag „Das alte West-Berlin: Klaus Rüdiger Landowsky auf der Anklagebank“:

„Der langjährige Generalsekretär und Fraktionschef der Berliner CDU hatte mit Eberhard Diepgen die eigene Partei im ursozialdemokratischen Berlin zur Regierungspartei gemacht, dann die Geschicke der Stadt aus zweiter Reihe gesteuert, um sich in der ersten Reihe einen Platz als Vorstand im landeseigenen Geldinstitut zu sichern - bis diese Berliner Bankgesellschaft am Größenwahn der Manager fast pleite ging.“

Ausgelöst wurde der milliardenschwere Berliner Bankenskandal durch zwei Barspenden von den mittelständischen Immobilienunternehmern Klaus Wienhold und Christian Neuling an Klaus-Rüdiger Landowsky. Mit einem Misstrauensvotum beendete Klaus Wowereit die Große Koalition, die Amtszeit Diepgens und die politische Hegemonie der konservativen  West-Berliner Eliten.

 

Große Koalitionen aus Mangel an Mut der Berliner SPD und Abneigung gegen die Grünen

Dass die Große Koalition Berlins überhaupt solange im Amt war, lag darin begründet, dass die SPD über die gesamten 1990er Jahre hinweg nicht den Mut hatte, die PDS als einen möglichen Regierungspartner in Betracht zu ziehen.

Bereits nach der Berlin-Wahl 1995 verfügten SPD, Grüne und PDS über 119 von 206 Mandaten im Landesparlament. Eine satte Mehrheit. Selbst ein rot-grüner Minderheitssenat, der sich nach dem Vorbild Sachsen-Anhalts (dort tolerierte die PDS seit 1994 eine rot-grüne Minderheitsregierung)hätte von der PDS tolerieren lassen, wäre auf nur 3 Stimmen der PDS angewiesen gewesen.

Auch nach der Berlin-Wahl 1999 – inzwischen regierte die PDS in Mecklenburg-Vorpommern mit der SPD und in Sachsen-Anhalt tolerierte die PDS seit 1998 die SPD-Minderheitsregierung – hätten sowohl ein rot-grüner Minderheitssenat als auch ein rot-rot-grüner Senat mit insgesamt 93 von 169 Stimmen über ein stabiles Polster verfügt.

Erst in Folge des Misstrauensvotums gegen Eberhard Diepgen bildeten SPD und Grüne im Sommer 2001 eine von der PDS tolerierte Minderheitsregierung. Eine Fortsetzung dieses Bündnisses mit dem Ziel einer eigenständigen Mehrheit strebte die SPD Berlin nicht an.

Nach der Berlin-Wahl 2001 sondierte die SPD zunächst eine Ampel-Koalition, um dann in Koalitionsverhandlungen mit der PDS einzutreten. Die Berliner PDS hätte auch das rot-rot-grüne Tolerierungsbündnis als Koalition fortgesetzt. Entsprechende Überlegungen gab es auch bei den Berliner Grünen, wie der SPIEGEL seinerzeit berichtete. Klaus Wowereit reagierte seinerzeit auf entsprechende Überlegungen mit dem Hinweis: „Bei der Grundfrage, ob die PDS mit in die Regierung soll oder nicht, wird es nicht besser, wenn man Grün dazu gibt". Eine ausgestreckte Hand sieht anders aus.

Die rot-rote Koalition amtierte zwei Wahlperioden bis 2011. Obwohl die SPD nach der Berlin-Wahl 2011 auch mit den Grünen rechnerisch eine Koalition (76 von 149 Mandaten) hätte bilden können, entschied sie sich wie in den Jahren 2001 und 2006 gegen ein Bündnis mit den Grünen.

 „Die rot-grünen Gespräche könnten als kürzeste Koalitionsverhandlungen aller Zeiten in die Geschichte eingehen. Nur gut eine Stunde brauchten SPD und Grüne in Berlin, dann stand schon in der ersten Runde fest: Es geht nicht“ formulierte Philipp Wittrock damals im SPIEGEL.

Die anschließend gebildete Große Koalition unter Führung der SPD war eine Notlösung, der es über den gesamten Zeitraum der Wahlperiode nicht gelang, Vertrauen in die Fähigkeit zu erzeugen, Probleme zu lösen, wie wir in unserer Wahlauswertung 2016 darlegten.

Insbesondere bei der Unterbringung von Flüchtlingen, symbolisiert an der dramatischen Rolle des Berliner Landesamtes für Gesundheit und Soziales (LAGeSo), zeigte sich das Scheitern des Bündnisses aus SPD und CDU. Der christdemokratische Sozialsenator und heutige CDU-Generalsekretär Mario Czaja hatte die Probleme zu lange unterschätzt, wurde von seiner Partei allein gelassen, und auch die SPD stahl sich aus der Verantwortung für eine menschenrechtsorientierte Politik für Geflüchtete.

 

Zwischen Hauptstadt-Beschimpfung und progressiver Stadtgestaltung – Rot-Rot-Grün 2016 bis 2023

Nach der Berlin-Wahl 2016 wurde erstmals in Berlin Rot-Rot-Grün gebildet. Ein Regierungsbündnis, das mit dem Anspruch im Koalitionsvertrag angetreten war, einen „Aufbruch“ und einen „Wandel zum Besseren“ zu vollziehen.

Die Ausgangslage dafür war alles andere als gut. Das Label «arm aber sexy» war zu Zeiten von Klaus Wowereit noch Ausdruck eines trotzigen Selbstbewusstseins einer von sozialen Verwerfungen und finanzieller Not gebeutelten Hauptstadtgesellschaft. Als Zitat eines städtischen Lebensgefühls hat es ikonographischen Charakter. Die Herausforderungen der schnell wachsenden und durch massive soziale Disparitäten geprägten Stadt, deren Verwaltung nach mehr als zwanzig Jahren extremer Haushaltsnotlage in schlechter Verfassung ist und die den Wechsel zu einer klimagerechten Metropolenentwicklung stemmen muss, hat es inzwischen nichts mehr zu tun.

Die Artikel in bundesweiten Zeitungen über eine Stadt, die ihre Chancen verspielt, füllen Regale, und in jeder Satireshow garantiert ein Beitrag über Berlin Lacher – außer in der Stadt selbst, in der dieses Image als nervend empfunden wird. Das in der politischen Öffentlichkeit gezeichnete Bild von Berlin war und ist das von einer wachsenden und für Zuziehende aus aller Welt attraktiven Stadt, die aber schlecht regiert wird, deren Bürgerinnen und Bürger mit wachsenden Alltagszumutungen zu kämpfen haben, während es kaum Aussicht auf eine Veränderung zum Besseren gibt. Diese Atmosphäre bestimmte sowohl die Berlin-Wahl 2016 als auch 2021 und wurde durch die aufgrund von dramatischen Wahlunregelmäßigkeiten notwendig gewordene Neuwahl 2023 genährt.

Dabei darf nicht übersehen werden: die Hauptstadt-Beschimpfungen sind oft genug auch Beleg für den manifesten Gestaltungswillen der rot-rot-grünen Stadtregierung. Etwa wenn bayerische Politiker:innen den Länderfinanzausgleich beschneiden wollen, damit Länder wie Berlin weniger Spielraum für sozialökologische Politik haben.

Gescheitert ist der Berliner Mietendeckel, weiterhin das ebenso sinnigste wie unmittelbar wirksame Instrument des Mieter:innenschutzes vor der Immobilienlobby, nicht inhaltlich oder aufgrund handwerklicher Mängel. Allein die fehlende Zuständigkeit des Landes aufgrund bundesgesetzlicher Regelungen führte zur Außerkraftsetzung dieses Instruments durch das Bundesverfassungsgericht. Die Bundesregierung hat seitdem keinen Finger gerührt, den Berliner Mietendeckel bundesgesetzlich zu ermöglichen. Für die Unionsparteien und die FDP ebenso wie für die ihr nahestehenden Immobilienkonzerne war die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hingegen eine willkommene Folie, um den eigenen Unwillen zur Lösung des Problems der Mieter:innenarmut  hinter Schadenfreude über das Scheitern des ambitioniertesten Gesetzgebungsprojekts zur Mietenregulierung zu verstecken.

Entgegen aller Schablonen hat Rot-Rot-Grün Berlin vorangebracht. Eine vierköpfige Familie hat im Ergebnis der von Rot-Rot-Grün beschlossenen Entlastungen durchschnittlich rund 400 Euro netto mehr pro Monat zur Verfügung als im benachbarten Potsdam. Die jetzt offenbar zur Disposition eines schwarz-roten Senats stehende Tariftreueregelung für Unternehmen, die öffentliche Aufträge wollen, ist die weitreichendste bundesweit.

Berlin gab sich als erstes Bundesland 2021 einen Masterplan zur Beendigung der Obdachlosigkeit, eine entsprechende nationale Strategie steht zwar im Ampel-Koalitionsvertrag, lässt aber auf sich warten. Die Berliner Rettungsprogramme für Kultureinrichtungen während der Corona-Zeit wurden bundesweit als vorbildlich beachtet und geachtet. Berlin war das erste Bundesland, das einen Härtefallfonds zur Verhinderung von Energiesperren auflegte.

Das zum Teil zu Recht vielgescholtene und genauso oft zu Unrecht karikierte Berlin hat auch gestanden und funktioniert, als 2022 innerhalb weniger Monate hunderttausende Flüchtlinge aus der Ukraine erstversorgt und zu Zehntausenden auch untergebracht und integriert werden mussten. Die Fähigkeit der Stadt, ihrer Bürger:innen und der Verwaltung unter rot-grün-roter Führung gab anderen Ländern erst die Möglichkeit, sich auf die Ankunft der Ukraine-Geflüchteten vorzubereiten.

Und es war nicht zuletzt Berlin, wo mit der Schulbauoffensive ein fiskalpolitisches Modell realisiert wurde, mit dem trotz Schuldenbremse expansive öffentliche Investitionspolitik realisiert werden kann, auch dies mit Auswirkungen weit über die Stadt hinaus.

 

Erheblicher Flurschaden bei Rot-Grün-Rot

Am Ende von 6 Jahren und 3 Monaten steht Rot-Rot-Grün nun dennoch vorerst vor einem erheblichen Flurschaden. Für das Projekt einer progressiven Stadtpolitik stellen sich die Fragen nach dem Warum und dem Wie-weiter.

Der wichtigste Grund für das Ende von R2G in Berlin ist nicht der Rückgang der Zustimmung an den Wahlurnen. Gewiss, die summierten Zweitstimmen für die drei Parteien haben sich zwischen 2016 und 2023 um 13 Prozent verringert, wobei am meisten die SPD (-28%) und etwas weniger DIE LINKE (-13%) verlor, während die Grünen die Zahl ihrer Zweitstimmen sogar um 12 Prozent steigern konnten. Der summierte Prozentanteil der R2G-Parteien verringerte sich in dieser Zeit um 3,4 Prozentpunkte. Dennoch errangen  SPD, Grüne und LINKE auch im Februar 2023 mit 49 Prozent der Zweitstimmen erneut eine komfortable parlamentarische Mehrheit.

Die Berlinerinnen und Berliner verpassten der rot-grün-roten Koalition einen deutlichen Denkzettel. Eine konservative Wende wurde mit Sicherheit nicht gewählt.

Die FDP flog ganz aus dem Parlament, und auch die CDU konnte zwar deutlich von Proteststimmen gegen die vielen Dysfunktionalitäten von Politik, Verwaltung und lebensweltlichen Zumutungen in der Hauptstadt profitieren, ist aber mit 28,2 Prozent der Zweitstimmen weit von einer neuen bürgerlich-konservativen Hegemonie entfernt. Der SPD-Wahlkampf-Experte Frank Stauß drückte es in einem Gastbeitrag für den Tagesspiegel treffend aus: „Die Berliner*innen haben Rot-Grün-Rot bestätigt. Und nicht einmal knapp. Das Bündnis verfügt über 90 von 159 Sitzen – Schwarz-Rot oder Schwarz-Grün über 86. Was gibt es daran nicht zu verstehen?“

Natürlich ist ein Regierungswechsel ein normaler Teil des demokratischen Prozesses. Ebenso natürlich ist er schmerzhaft für diejenigen Parteien, die der neuen Regierung nicht mehr angehören. Selbst dies in Rechnung gestellt, ist die Art und Weise bemerkenswert, in der die Sondierungen verliefen und in der die Sondierungsgruppe der SPD die Brücken zu den beiden bisherigen Koalitionspartnern abbrannte. Dies wirft ein symptomatisches Licht auf die Schlussphase des nun endenden Regierungsbündnisses.

Das Wahlergebnis vom 12. Februar 2023 war für alle Parteien zweifellos schwierig, weil zunächst vier, dann drei mögliche Koalitionsoptionen im Raum standen: Rot-Grün-Rot, Grün-Rot-Rot, Schwarz-Grün und Schwarz-Rot. Entsprechend wurde parallel zur Feststellung des amtlichen Endergebnisses mit der Antwort auf die wichtige Frage ob nun die SPD oder doch die Grünen die zweitplatzierte Partei sein würden, in drei verschiedenen Formaten parallel sondiert.

SPD, Grüne und LINKE signalisierten in der Öffentlichkeit sowohl die Bereitschaft als auch die Tendenz, die Koalition fortzusetzen. Aus den Sondierungen der drei Parteien verlautete nach außen, dass es keine unüberwindlichen substanziellen Hindernisse für eine Fortführung der Koalition gegeben habe. Sogar für das schwierige Thema des Umgangs mit dem erfolgreichen Volksentscheid über eine Vergesellschaftung großer Wohnungskonzerne wurde ein gangbarer Pfad entwickelt. Nach der letzten Sondierungsrunde von Rot-Rot-Grün am 27. Februar waren offenbar die jeweiligen Sondierungsteams von Grünen und LINKEN davon überzeugt, dass auch die Sondierer:innen der SPD eine klare Präferenz für die Fortführung der Koalition hatten.

Gleichwohl blieben die noch anstehenden Sondierungsrunden der CDU mit SPD und Grünen abzuwarten. Bereits am 28. Februar kursierte unter Hauptstadtjournalist:innen das Gerücht, die SPD tendiere zur Bildung einer „Großen Koalition“ unter Führung der CDU. Einen Tag später verdichteten sich die Meldungen soweit, dass der Tagesspiegel parallel zur laufenden letzten Sondierung zwischen CDU und Grünen meldete, das SPD-Sondierungsteam wolle dem Landesvorstand Koalitionsverhandlungen mit der CDU vorschlagen.

Wer das kommunikative Geschäft von Sondierungen und Regierungsbildungen kennt, sah sofort den doppelten Affront. Eine solche Meldung hätte niemand zu einer Meldung gemacht, wenn sie nicht absolut belastbar gewesen wäre, also direkt aus dem Umfeld der Regierenden Bürgermeisterin und Landesvorsitzenden Franziska Giffey oder wenigstens des Fraktions- und Landesvorsitzenden Raed Saleh stammte.

Dies parallel zu einer laufenden Sondierung zwischen CDU und Grünen durchsickern zu lassen, dürfte beim Sondierungsteam der Grünen mindestens zu einer massiven Irritation, vermutlich aber zu einem abschließenden negativen Urteil über die Belastbarkeit der Aussagen ihrer Pendants bei der SPD geführt haben.

Die Irritation aber auch die Verärgerung im Sondierungsteam der LINKEN war nicht minder groß. Eine Aufnahme von Koalitionsverhandlungen über eine Fortsetzung der rot-grün-roten Koalition und noch mehr ihr erfolgreicher Abschluss waren faktisch schon zu diesem Zeitpunkt vom Tisch. Mit anderen Worten: Die gezielte Indiskretion aus dem Umfeld von Franziska Giffey und Raed Saleh hatte das Ziel, die Option einer Fortsetzung der rot-grün-roten Koalition auszuschalten und damit den Entscheidungsspielraum des linken und r2g-freundlichen Parteiflügels zu reduzieren, erreicht.

Zu erfolgreichen Verhandlungen gehört ein Mindestmaß an Vertrauen mindestens in die Vertraulichkeit und Belastbarkeit von Absprachen, und wenn dieses Vertrauen mutwillig zerstört wird, ist das eine Botschaft, die alle Beteiligten sofort verstehen.

Das Ende von Rot-Grün-Rot mag formal mit dem Beschluss des SPD-Landesvorstands eingeläutet worden sein, faktisch gab es diese Option bereits am Tag zuvor nicht mehr.

Das unwürdige Ende von Rot-Grün-Rot wurde mit dem Papier der SPD-Sondierungskommission, das (vermeintliche) Sondierungsinterna quasi öffentlich machte, und die bisherigen Partner mit Vorwürfen überhäufte, zu einem politischen Totalschaden.

Der vormalige Bildungs-Staatssekretär und SPD-Linke Mark Rackles legte in einer Kritik der SPD-Sondierungsbewertung dar, dass darin mit „drei Kniffen“ gearbeitet werde:

  • „[…]Erstens wird die in der Selbstwahrnehmung gescheiterte Giffey-Regierung (2021) getilgt und die geschmähte Rot-Grün-Rote-Regierung ist plötzlich seit 2016 im Amt (lange vor Giffey!).
  • Zweitens werden die beiden Parteien der aktuell bestehenden Koalition mit jeweils 8 knappen
    Zeilen diskreditiert. Ihnen wird mit vagen Andeutungen die komplette Regierungsfähigkeit abgesprochen mit massiven Vorwürfen in Bezug auf Verlässlichkeit.
  • Drittens wird die angeblich gleichberechtigt geprüfte Option der Koalition mit der CDU auf ganzen drei Seiten wohlwollend und vollkommen unkritisch mit vagen Sätzen unterlegt. […]“
      Dass die Berliner Grünen einen Faktencheck zu den im Sondierungsbefund der SPD erhobenen Vorwürfen veröffentlichten, dürfte ein wohl einmaliger Akt sein.

Der Befund dieses kurzen Abrisses ist bestürzend. Schon der Weg zu den Sondierungen war kaum geeignet, das Vertrauen in den demokratischen Prozess und die Professionalität der handelnden Akteur:innen zu stärken:

  • eine von eklatanten und vermeidbaren Mängeln überschattete Wahl im September 2021, für die der zuständige SPD-Innensenator nicht nur nicht die Verantwortung übernahm und zurücktrat, sondern mit dem einflussreichen Bauressort belohnt wurde, um dort vor allem den Mietenvolksentscheid zu hintertreiben,
  • eine gerichtlich angeordnete Wiederholungswahl, in deren Folge der SPD-Ex-Innensenator weiterhin im Amt bleiben durfte,
  • ein polarisierter und selbst für Berliner Verhältnisse überspannter Wahlkampf,
  • eine lokale Nachzählung aufgrund 466 später aufgetauchter Stimmen, in deren Ergebnis DIE LINKE mit einer Differenz von nur 9 Erststimmen einen ihrer Direktwahlkreise an die CDU abgeben muss,
  • die mediale Polarisierung nach der Wahl.

Die Unfähigkeit, einen anspruchsvollen Sondierungsprozess zu einem geräuscharmen Ende zu bringen, dürfte deshalb zwar viele nicht mehr überrascht haben, doch kommt es eben genau darauf an, die disruptive Entwicklung politischer Prozesse als Konstanten des Berliner Politikbetriebs anzuerkennen und steuern zu können. Dazu war die Berliner SPD-Führung weder willens noch in der Lage.

 

Kai Wegner – Vorwärts in die Vergangenheit

Der CDU-Herausforderer Kai Wegener, der weder mit einem solch guten Wahlergebnis für seine in Berlin seit Jahren gebeutelte Partei rechnete, als auch nicht erwarten konnte, tatsächlich ins Rote Rathaus einzuziehen, tat mit fortgesetztem lauten Schweigen während der laufenden Sondierungen genau das, was in jedem Lehrbuch erfolgreicher Regierungsbildung stehen würde.

Am Ende der Sondierungen steht nun der Pfad in eine erneute „Große Koalition“, an dessen Ende voraussichtlich mit Kai Wegener zum ersten Mal seit 22 Jahren ein CDU-Mann als Regierender Bürgermeister ins Rote Rathaus einziehen wird.

In einem taz-Kommentar zu den gescheiterten rot-grünen Gesprächen in Berlin schrieb Ines Pohl 2011:

„Schock. Ausgerechnet Berlin, die Stadt, in der sich 70 Prozent der WählerInnen für ein linkes Regierungsbündnis ausgesprochen haben, sind die rot-grünen Koalitionsgespräche geplatzt, bevor sie überhaupt richtig begonnen haben. Ausgerechnet die Stadt, die weltweit für ihr alternatives Leben gefeiert wird, bekommt jetzt aller Wahrscheinlichkeit nach eine Große Koalition. Sie wird also regiert von selbstverliebten Sozialdemokraten, die in den vergangenen zehn Jahren unter der Führung von Wowereit den öffentlichen Nahverkehr ruinierten. Gehsteige wurden im Innenstadtbereich auch nicht mehr enteist. Die Partei, die die vergangenen zehn Jahre mit den Linken regiert hat, geht nun mit demselben Mann an der Spitze mit einer CDU zusammen, die spießiger, rückwärtsgewandter und weltferner kaum sein kann. Das ist bitter für alle, die darauf gebaut haben, dass der WählerInnenauftrag ernst genommen wird, und im Berliner Roten Rathaus endlich wieder eine Politik gemacht wird, die eine zukunftsfähige Mischung hinbekommt zwischen sozialer Gerechtigkeit und ökologischer Wirtschaftspolitik und dabei das, was Berlin so liebenswert macht, bewahrt und weiter entwickelt: Das Konzept einer offenen Stadt.“

Dem ist zwölf Jahre später nichts hinzuzufügen, außer dass der Name Wowereit durch Giffey zu ersetzen wäre.

Berlin wird in den kommenden drei Jahren vorwärts in die Vergangenheit reisen. Mit Kai Wegener wird voraussichtlich ein Mann zum Regierenden Bürgermeister, der in der Diepgen-Landowsky-CDU sozialisiert wurde. Er ist kein Vertreter der weltoffenen Christdemokratie. Im Gegenteil: deren Vertreter:innen wie Monika Grütters, Peter Kurth und auch Mario Czaja, für die schwarz-grün eine attraktive Option war, hat er über Jahre erfolgreich verbissen. Habituell und auch politisch zieht das alte West-Berlin wieder ins Rote Rathaus ein.

Und auch die Berliner SPD wirkt mit der sich allein machttaktisch ausrichtenden Logik eher wie eine schlechte Kopie der SPD aus den frühen 1990er Jahren.

Nicht ausgeschlossen ist ein möglicher Entwicklungspfad, der sich aus dem aktuellen Desaster ergibt: Eine Berliner CDU, die auf Jahre deshalb im Zentrum des Parteiensystems steht und an der vorbei keine Regierung gebildet wird, weil die politische Alternative Rot-Grün-Rot aufgrund einer Politik der abgebrannten Brücken nicht zustande kommt. Das wäre gewiss der Traum bürgerlich-konservativer Kommentator:innen.

 

Brücken bauen und Vertrauen wiederherstellen, weil es um die Menschen geht

Umso wichtiger ist es, den Sondierungsprozess ehrlich aufzuarbeiten, Schlussfolgerungen zu ziehen, über Schatten zu springen und neue Brücken des Vertrauens einerseits und der Ideen für eine sozial-ökologische Stadtgestaltung andererseits aufzubauen.

Halten wir deshalb erst einmal fest: Der Sondierungsprozess hat derart viel Vertrauen zwischen den handelnden Akteur:innen zerstört, dass ein erneuter Versuch nach den regulären Wahlen im Herbst 2026 mit denselben handelnden Personen sehr unwahrscheinlich erscheint.

Drastischer ausgedrückt, mit dem Ende dieser Sondierungen wurde R2G aus sich selbst heraus um die Fähigkeit gebracht, die größte Metropole der Bundesrepublik weiter progressiv zu gestalten.

Dennoch dürfen wir bei aller Frustration und auch Wut nicht aus dem Blick verlieren: In Berlin herrschte nicht erst seit 2016, sondern bereits seit den 1990er Jahren eine von regelmäßigen Umfragen genährte Überzeugung, dass SPD, Grüne und LINKE sich auf eine stabile strukturelle Mehrheit für Parteien diesseits der CDU stützen können. Vorausgesetzt sie finden einen Weg der stabilen Zusammenarbeit und eine gemeinsame Idee, um zu gestalten. Daran muss gearbeitet werden, weil es letztlich um die Menschen geht, die Hoffnung in unsere drei Parteien setzen, die Stadt sozial-ökologisch zu gestalten.

Wir haben in den vergangenen Jahren immer wieder auch und gerade auf Bundesebene der LINKEN dafür geworben, die pathologische Abneigung und das notorische Eindreschen auf die SPD zu überwinden. Dies stellen wir in Rechnung, wenn wir am konkreten Einzelfall der gescheiterten rot-grün-roten Sondierungen festhalten müssen: R2G in Berlin ist in erster Linie am fehlenden Willen von Franziska Giffey und Raed Saleh und der sie tragenden SPD-Funktionär:innen gescheitert, in zweiter Linie am fehlenden Können für ausreichende Gemeinsamkeiten und Vertrauen zwischen SPD und Grünen. Beide Parteien haben ein enormes Potenzial wechselseitiger Enttäuschungserfahrungen aufgebaut, das durch die Konkurrenz um den Status als (zweit)stärkste Kraft der Stadt verschärft wird.

Wenn nach der Berlin-Wahl 2026 - also in nur drei Jahren - erneut eine rot-grün-rote Regierungsmehrheit möglich ist, müssen alle Beteiligten in Kenntnis vergangener Enttäuschungen aber mit dem Ziel progressiver Stadtgestaltung nach vorn schauen.

Dass es nicht nur die Notwendigkeit, sondern auch die Optionen  progressiver Gestaltungspolitik im Berliner Parteiensystem geben wird, halten wir für auf der Hand liegend.

Deshalb steht unserer Sicht zunächst und zuallererst die Berliner SPD in der Verantwortung, die verbrannten Brücken zu Grünen und LINKEN so zügig wie möglich wiederaufzubauen. Der sich in der Berliner SPD unausweichlich abzeichnende Generationswechsel kann dafür ein Gelegenheitsfenster bieten. Und dazu führen, dass die programmatische Diskussion über die Funktion einer revitalisierten und sozial-ökologisch ausgerichteten Sozialdemokratie in einer der bedeutendsten Metropolen Europas in den Mittelpunkt innerparteilicher Debatte rückt.

Eine Metropole, deren Zukunft als Drehkreuz zwischen Mittel- und Westeuropa buchstäblich auf der Hand liegt, und die immer noch Sehnsuchtsort für viele ist. Hier ist zum Beispiel gerade der Ort, wo sich russische Dissident:innen und osteuropäische Intellektuelle treffen können, um über eine Zukunft nach dem Krieg zu reden. Hier ist das Labor, in der zum Beispiel eine Wohnungskrise sozial gelöst werden muss, ohne auf einen selbstzerstörerischen Pfad von klimaschädlichen und spekulativ getriebenen Bauexzessen einzuschwenken. Soweit reichen letztlich die Herausforderungen und die Chancen, die sich in Berlin bieten.

Die Frage, ob sich diese Metropole mit einem Wiederaufguss der alten Landowsky-Diepgen-CDU progressiv gestalten oder eben bestenfalls nur verwalten lässt, müssen sich auch die Berliner Grünen vorlegen, wenn sie 2026 in Sondierungen mit der CDU eintreten. Entscheidungsleitend sollten die Zukunftsfragen der Stadt sein, nicht die Enttäuschungen über eine Berliner SPD, die ihre pathologische Abneigung gegenüber den Grünen endlich ablegen muss. Das historische Gedächtnis der Berliner Grünen ist lang und die Verkehrspolitik war seit jeher ihr wesentlicher Dreh- und Angelpunkt. Noch 2011 erinnerte der Grünen-Politiker Michael Cramer nach den am innerstädtischen Ausbau der A100  gescheiterten rot-grünen Koalitionsverhandlungen im Tagesspiegel daran, „dass es in der ersten rot-grünen Koalition 1989 möglich war, einen Autobahnbau zu stoppen, Busspuren und Tempo 100 auf der Autobahn einzuführen sowie vier neue S-Bahn-Linien einzurichten. Wowereit falle hinter Walter Momper (SPD) zurück.“ Kurzum: Gemeinsam haben rot-grün-rote Politiker:innen in Berlin nun drei Jahre Zeit, sich am Beispiel Paris, Barcelona etc. anzuschauen, wie die metropolitane Verkehrswende nicht nur geplant, sondern auch partizipativ und in Übereinstimmung mit den Stadtbewohner:innen und ihrer sozialen Lage umgesetzt werden kann.

Aber auch für DIE LINKE stehen Klärungsprozesse an, die weit über den bundespolitisch anstehenden Häutungsprozess von der Fixierung auf die Zerstörungsmission Sahra Wagenknechts und ihrer Anhänger:innen hinausgehen. Sechs Jahre Rot-Grün-Rot in der Hauptstadt haben zusammen mit dem Thüringer und Bremer Regierungsprojekt den Abschied vom verschämten Mitregieren bedeutet.

Dass die Partei bei der Wahl bewusst als „Berliner Linke“ antrat, war nicht nur der Klarstellung gegenüber den Wähler:innen geschuldet, nicht für jede Volte der Linksfraktion im Bundestag in Haftung genommen zu werden. Sondern ebenso als selbstbewusster Ausdruck dafür, dass sich die Landespartei als Pol für einen stadtpolitischen progressiven Veränderungswillen versteht, der den Willen hat, den utopischen Überschuss in Regierungshandeln umzusetzen. Die Fähigkeit, aus der Regierung heraus einen Volksentscheid für die Vergesellschaftung von großen Wohnungskonzernen zu unterstützen, Gestaltungsprojekte zu verfolgen und zugleich über Jahre pragmatische Krisenbewältigungspolitik zu vollziehen, ist ein Sprung. Die Berliner Linke zeigte damit nicht weniger als den Weg einer reformsozialistischen Partei mit Gestaltungsanspruch. Hinter diese Erfahrungen werden wir nicht mehr zurückkehren und das ist gut so.

Die ehrliche Auswertung von 6 Jahren Regieren in Berlin darf Fehler nicht ausblenden, aber genauso wenig dazu führen, dass DIE LINKE in einer Farce der Wiederaufführung des alten Berliner Politikbetriebs einfach wieder eine Rolle auf der Zuschauertribüne einnimmt. „Wir sind die Berliner LINKE, und wir kommen wieder“, sagte die Landesvorsitzende Katina Schubert am Freitag dieser ereignisreichen Woche unter dem Beifall der Delegierten des Landesparteitags. Das kann nur heißen, die Berliner Linke kommt als munizipalistisch-linker Block wieder und kämpft 2026 wieder um die Gestaltungskraft für die sozial-ökologische Transformation der Stadt.

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Alexander Fischer ist seit 2016 Staatssekretär in der Berliner Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales. Zuvor war er Regierungssprecher der Thüringer rot-rot-grünen Landesregierung.

Benjamin-Immanuel Hoff ist seit 2014 Chef der Thüringer Staatskanzlei. Zuvor war er Staatssekretär im rot-roten Senat von Berlin (2006-2011).  

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