24.05.2022

"Die Linke muss endlich drei Kernfragen beantworten"

Weniger als 5 Prozent bei der Bundestagswahl, in diesem Jahr aus den Landtagen des Saarlands und Nordrhein-Westfalens geflogen, ein mieses Ergebnis auch in Schleswig-Holstein: Die Linkspartei ist in der Krise. "Die Partei hat schwierige Monate hinter sich, wir wissen, dass wir nicht zu alter Stärke zurückkehren werden, wenn wir so weitermachen wie bisher", sagt der linke Thüringer Staatskanzleichef und Kulturminister Benjamin-Immanuel Hoff im Interview mit ntv.de.

Die Kandidatur des Europapolitikers Martin Schirdewan für den Parteivorsitz begrüßt Hoff. Er selbst will auf dem Parteitag im nächsten Monat als stellvertretender Linken-Chef antreten. Das Interview findet in Hoffs Büro in der Thüringer Landesvertretung in Berlin statt, vor der die ukrainische Fahne weht. Der Ramelow-Vertraute ist für Waffenlieferungen an das von Russland überfallene Land, betont aber: "Ich kann damit leben, Positionen einer Minderheit innerhalb meiner Partei zu vertreten."

Hoff fordert eine Erneuerung seiner Partei. Die Linke müsse entscheiden, was ihre Mehrheitspositionen seien. "Dann können Parteimitglieder immer noch eine Minderheitenposition einnehmen", sagt er. "Aber die Position der Partei wird nicht durch Talkshow-Auftritte bestimmt, sondern durch Entscheidungen auf Parteitagen."

ntv.de: Was ist das zentrale Problem Ihrer Partei?

Benjamin-Immanuel Hoff: Das Problem der Linken bestand über lange Zeit darin, dass Pluralität verstanden wurde als Möglichkeit, jede Position gleichberechtigt nach außen zu vertreten. Dadurch ist nicht mehr klar, was eine abseitige Minderheitsposition ist und was die Mehrheitsposition. Inhaltlich hat die Linke drei Kernfragen, die sie seit mehr als zwanzig Jahren diskutiert und endlich beantworten muss.

Welche sind das?

Das sind Punkte, die Linke seit mehr als hundert Jahren beschäftigen. Erstens, die Frage nach der richtigen linken Gestaltungspolitik. Darf die Linke sich auf den Staat einlassen, indem sie mitregiert?

Ihre Antwort darauf lautet ja.

Als Kulturminister sage ich: Auf einem Instrument spielt man mit allen Tasten oder Saiten. Wir müssen in der Lage sein, die gesamte Klaviatur zu bedienen, von außerparlamentarischer Opposition über die parlamentarische Opposition bis hin zur Tolerierung einer Regierung oder der aktiven Mitgestaltung einer Regierung - ob als kleiner Koalitionspartner oder als stärkste Partei, die den Ministerpräsidenten stellt, wie in Thüringen.

Das zweite Thema ist vermutlich die NATO.

Es ist unser Verhältnis zu internationalen Organisationen wie der NATO und der Europäischen Union. Eine der spannendsten Debatten, die wir innerhalb der Partei geführt haben, war die Frage vor dem letzten Europawahlkampf über unsere Vorstellung von der EU als einer echten Solidarunion. Wir müssen diese Debatte mit einer Haltung führen, die deutlich macht, dass es an der EU viel zu kritisieren gibt, die aber gleichzeitig proeuropäisch ist.

Und das Dritte …

… ist die Außen- und Sicherheitspolitik. Wir haben eine Parlamentsarmee, wir haben Staatsbürgerinnen und Staatsbürger in Uniform, die einen Anspruch auf eine angemessene Ausstattung haben. Anders als die Bundesregierung würde ich allerdings sagen: Die Bundeswehr ist nicht kaputtgespart worden, denn es gibt seit 2014 mehr Geld für die Bundeswehr. Aber wir haben eine erhebliche Fehlallokation von Mitteln, was eine euphemistische Umschreibung für das schlechte Wirtschaften des über Jahre unionsgeführten Verteidigungsministeriums ist. Darüber müssen wir reden, auch über unser Verhältnis zu Auslandseinsätzen: Können wir als Linke in einer Situation, in der es um die Rettung von Menschen aus Afghanistan geht, sagen, dass wir gegen diesen Bundeswehreinsatz sind? Die Grünen hatten zu diesem Thema von 2006 bis 2008 eine friedens- und sicherheitspolitische Kommission, die SPD hat eine Kommission eingesetzt, die eine neue Form der Entspannungspolitik entwickeln soll. Ich habe vorgeschlagen, dass wir eine friedens- und sicherheitspolitische Kommission einsetzen, die an solchen Fragen arbeitet.

Taugt Russland als Fixpunkt für eine linke Partei?

Ich glaube, dass Russland nur im Konrad-Adenauer-Haus als Fixpunkt taugt, und zwar für Plakate, auf denen steht: "Alle Wege des Kommunismus führen nach Moskau". Insofern sollte man sich davon einfach verabschieden. Ein kluger Mensch hat mal gesagt, dass Linke nicht auf der Seite von Staaten stehen, sondern an der Seite von Menschen. Ich bin zum Beispiel auf der Seite von Memorial, der Bürgerrechtsorganisation, die in Russland verboten wurde, ich bin auf der Seite von Nawalny und anderen Bürgerrechtlern, ich bin auf der Seite derjenigen, die in Russland gegen den Krieg auf die Straße gehen und dafür drakonische Strafen befürchten müssen.

Was halten Sie persönlich von Waffenlieferungen an die Ukraine?

Artikel 51 der UN-Charta gibt allen Ländern das Recht auf Notwehr. Das nimmt die Ukraine in Anspruch. Zu Notwehr gehört die Nothilfe, und zu dieser Nothilfe gehört, dass die Ukraine sich verteidigen können muss. Das muss sie schon deshalb können, weil nicht das Recht des Stärkeren, sondern die Stärke des Rechts gelten muss. Es ist Russland, das die UN-Charta verletzt. Daraus entsteht aus meiner Sicht eine Pflicht Deutschlands zur Nothilfe für die Ukraine.

Können Sie sich vorstellen, dass diese Position je mehrheitsfähig wird in Ihrer Partei?

Ich kann damit leben, Positionen einer Minderheit innerhalb meiner Partei zu vertreten. Am Ende wird es darum gehen, dass wir uns als Linke nicht gegenseitig Verrat vorwerfen, sondern Gemeinsamkeiten in den Vordergrund stellen und bereit sind, Widersprüche auszuhalten. Und ich sage Ihnen ganz deutlich: Die Frage nach Waffenlieferungen beantwortet nicht die Frage, vor der wir auch stehen, nämlich wie eine neue Abrüstungs- und Entspannungspolitik aussehen muss. Übrigens ist es auch eine Verletzung internationalen Rechts, dass das NATO-Mitglied Türkei im Windschatten des Ukraine-Kriegs Angriffe gegen die Kurden im Nordirak fliegt.

Für den Parteitag in Erfurt haben Sie eine Alternative zum Leitantrag der Linken-Spitze geschrieben. Das übliche Vorgehen wären Änderungsanträge gewesen. Was an dem Leitantrag ist so schlecht, dass er komplett ersetzt werden muss?

Ich will nicht darüber reden, ob etwas schlecht ist. Die Partei hat schwierige Monate hinter sich, wir wissen, dass wir nicht zu alter Stärke zurückkehren werden, wenn wir so weitermachen wie bisher. Aber wir wollen wieder stärker werden. Deshalb müssen wir ein paar Dinge klären. In den Leitantrag des Parteivorstandes wurden aus meiner Sicht eine Reihe von zu klärenden Fragen nicht aufgenommen. Ich stand vor der Entscheidung, ob ich versuche, Formelkompromisse durch Änderungsanträge zu erreichen, oder dem Parteitag eine alternative Möglichkeit zur Verfügung zu stellen. Für meinen Alternativantrag, den ich mit einer Reihe von Genossinnen und Genossen entwickelt habe, bekomme ich aus unterschiedlichen Landesverbänden die Bestätigung, dass es als Gewinn gesehen wird, sich zwischen zwei Optionen entscheiden zu können.

Ist es nicht als Misstrauensantrag gegen den Parteivorstand zu verstehen, wenn man den kompletten Leitantrag ablehnt?

Ich glaube nicht. Nicht in einer Partei, die Lust auf Streit als konstruktive Debatte hat.

Was sagt Ministerpräsident Bodo Ramelow zu Ihrem Antrag?

Die Zusammenarbeit zwischen meinem Ministerpräsidenten und mir ist so eng und so gut, dass solche politischen Interventionen nicht ohne gemeinsame Abstimmung laufen können.

Mit welchem Personal soll die Linke Ihrer Meinung nach zu alter Stärke zurückfinden?

Janine Wissler hat angekündigt, erneut als Vorsitzende anzutreten. Martin Schirdewan, unser Vorsitzender der Linksfraktion im Europäischen Parlament, hat seine Kandidatur angekündigt, was ich sehr begrüße. Die europäische Linksfraktion ist sehr plural und seine Erfahrungen werden uns von großem Nutzen sein.

Sie selbst wollen nicht kandidieren?

Ich habe Martin Schirdewan angeboten, im Falle seiner Kandidatur als stellvertretender Vorsitzender Teil des Teams zu sein, wenn der Parteitag dies auch so sieht.

Wie wollen Sie die Spagate lösen, vor denen linke Parteien zwangsläufig stehen - zwischen Klimaschutz und der klassischen Industriearbeiterschaft, zwischen Akademikern und Hartz-IV-Empfängern, zwischen Internationalisten und Linken, die Ängste vor Überfremdung haben oder schüren?

Meine Yoga-App zeigt mir an, dass mittlerweile Tausende in Deutschland versuchen, Spagat zu machen. Manchmal stellt man aber fest, dass ein Spagat zu schmerzhaft wird. Dann sollte man eine günstigere Position wählen. Aus meiner Sicht muss die Partei klären, was Pluralität heißt. Sie muss entscheiden, was ihre Mehrheitsposition ist. Dann können Parteimitglieder immer noch eine Minderheitenposition einnehmen. Aber die Position der Partei wird nicht durch Talkshow-Auftritte bestimmt, sondern durch Entscheidungen auf Parteitagen.

Sie wollen Parteifreundinnen verbieten, in Talkshows zu gehen?

Ich verbiete niemandem, in Talkshows zu gehen. Der Anspruch von Führung in einer Partei - und zwar Führung von oben wie von unten - ist, dass man deutlich macht, wofür diese Partei steht, was Mehrheits- und was Minderheitspositionen sind. Ich will nicht mehr, dass die Partei Die Linke permanent über Minderheitsposition definiert wird. Ich will, dass wir es schaffen, als eine sozialistische Gerechtigkeitspartei wahrnehmbar zu sein.

Mit Benjamin-Immanuel Hoff sprach Hubertus Volmer