23.03.2022

Die Zäsur vom 24. Februar 2022 und die Notwendigkeit, westliche Perspektiven auf Osteuropa abzulegen, um europäisch zu denken.

Überarbeitete und erweiterte Fassung der Rede auf dem Jahresempfang der Klassik Stiftung Weimar am 19. März 2022.

Auf die Frage, ob es so etwas wie einen roten Faden der Geschichte gäbe, antwortete Christopher Clark verneinend mit dem Hinweis, dass Geschichte keine Einbahnstraße sei. Man könnte, eine Aussage der früheren Bundessprecherin der Grünen, Verena Krieger, die heute an der Universität Jena forscht und lehrt, abwandelnd hinzufügen, dass nicht nur der Staat sondern auch die Geschichte kein Fahrrad ist, auf das man sich einfach setzen und in jede beliebige Richtung davonradeln kann.

Charakteristisch für Geschichte insgesamt und somit auch für die europäische Geschichte sind die zahllosen Umbrüche und Diskontinuitäten. Europa ist Schauplatz schlimmster Kriege – seit dem 24. Februar 2022 auf dem Gebiet der Ukraine. Aber Europa ist eben auch Ursprungsort von Vernunft, Friedensordnungen und Aufklärung. Dies mag uns Hoffnung geben, dass dieser Krieg bald beendet wird. Nicht durch einen Siegfrieden, sondern durch ein Schweigen der Waffen aufgrund einer Verständigung, die zu anhaltendem Frieden und der Wiederherstellung der territorialen Souveränität der Ukraine führt.

In den frühen 2000er Jahren arbeitete ich für die damalige Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (GTZ) in Montenegro und Serbien. Beide Länder, die sich 1992 zur Bundesrepublik Jugoslawien zusammengeschlossen hatten, ersetzten diese im Februar 2003 durch den Staatenbund namens „Serbien und Montenegro“, bevor ein Referendum im Mai 2006 mit einer Mehrheit von 55,5 Prozent die Eigenstaatlichkeit Montenegros beschloss.

Die von 1991 bis 2001 andauernden postjugowslawischen Kriege waren nicht lange vorher zu Ende gegangen. Meine Bemühungen, mehr darüber zu erfahren, blieben in der Regel erfolglos. Über die Kriege wurde wenig gesprochen und wenn, waren „der Krieg“ immer „die anderen“. Ich dachte oft, so oder so ähnlich muss es wohl auch in den 1950er und 1960er Jahren gewesen sein, als die späteren 1968er über die Verstrickungen ihrer Eltern in den Nationalsozialismus sprechen wollten.

Ein für mich bemerkenswertes Gespräch führte ich damals mit dem Vorsitzenden des Rechtsausschusses im montenegrinischen Parlament. Er war Jurist, Sozialdemokrat nicht nur dem Parteinamen, sondern der Überzeugung nach. Ausgangspunkt war seine kritische Sicht auf die Bestrebungen einiger US-amerikanischen Berater, eine Mehrwertsteuerreform in Montenegro umzusetzen, von der er überzeugt war, sie wäre eher von den Interessen potenzieller Investoren als einem modernen Steuerrecht getrieben. „Wissen Sie“, sagte er zu mir: „unser Land war eine Zeitlang osmanisch aber doch über einen viel längeren Zeitraum durch Österreich-Ungarn geprägt. Unser historisches Gedächtnis beginnt nicht erst 1945. Woran wir jetzt anknüpfen müssten, wäre die Verwaltungserfahrung Österreichs-Ungarns. Aber dieser Krieg und der Nationalismus haben uns von der EU fortgetrieben. Vor 1990/1991 sah es um den Beitritt Jugoslawiens zur EG besser aus. Slowenien hat es richtig gemacht. Wir ersticken im Nationalismus.“

Mir fiel diese Begebenheit ein, als ich den Essay „Wird der Osten diesmal im Westen bleiben?“ von Matthias Nawrat auf ZEIT-Online las. „Viele Beispiele aus der Kulturgeschichte Europas belegen“, so Nawrat „dass die Gesellschaften, die sich einmal im Einflussbereich des Österreichischen Kaiserreichs befunden hatten – so auch die Ukraine –, lange Zeit progressive multikulturelle Räume gewesen waren, bevor sie nach dem Ersten Weltkrieg zwischen den deutschen Hammer und den russischen Amboss gerieten“ und deren Schicksal mit dem Hitler-Stalin-Pakt besiegelt wurden. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden diese Länder, die Demokratien sein wollten, dem sowjetischen Einflussbereich überlassen. Und mit den antisemitisch konnotierten Säuberungen der späten 1940er Jahre, ob nun die Prozesse gegen den Ungarn Lazlo Rajk, den Tschechoslowaken Rudolf Slanskij-Prozess, die Absetzung des Polen Gomolka oder die Noel-Field-Kampagne in den mittel- und osteuropäischen wurden zuerst bürgerlich-liberale Demokrat:innen und demokratische Sozialist:innen und anschließend Kommunist:innen entweder vertrieben, verurteilt und inhaftiert oder auch ermordet (vgl. Hodos 2001). Die letzte Phase dieser Säuberungen (Slansky-Prozess 1952) hatte eine so offensichtlich antisemitische Stoßrichtung, dass  Führungskräfte jüdische Gemeinden in der DDR, Julius Meyer (Berlin), Leon Löwenkopf (Dresden), Günther Singer (Erfurt), Leo Eisenstädt (Jena) und weitere Repräsentanten am 16. Januar 1953 nach West-Berlin flohen. Sie wurden als „zionistische Agenten“ gebrandmarkt. Seitens der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes gab es keine Unterstützung für sie. Aus Angst vor weiteren Verhaftungen oder gar Pogromen flüchteten in der Folge weitere etwas 300 Jüdinnen und Juden aus der DDR (Reuter/Hansel; Leo 2022: 44).

Nawrat nimmt ausdrücklich Bezug auf Milan Kunderas Essay „Die Tragödie Mitteleuropas“ (1983), der in unterschiedlichen Fassungen nachgedruckt mit György Konráds „Antipolitik. Mitteleuropäische Meditationen“ (1984) den Ausgangspunkt der sogenannten Dissidenten-Diskussion bildete. In Abgrenzung zur deutschnationalen Mystifizierung des 19. und 20. Jahrhunderts formulierten sie die Idee der Mitte Europas als metaphorische und symbolische Brücke zwischen dem geteilten Europa, das im westlichen Teil von der US-amerikanischen und im Osten von der sowjetischen Großmacht dominiert wurde (vgl. Schuch 2006: 117). Mitteleuropa liegt, von diesem Standpunkt aus gesehen, nicht zwischen Ost und West, sondern im Westen: „Einige Nationen, die sich immer als westlich verstanden hatten, erwachten eines schönen Tages“ so schreibt Kundera 1986, „und stellten fest, daß sie sich im Osten befanden. Folglich bildeten sich nach dem Krieg in Europa drei grundlegend verschiedene Zustände heraus: der von West- und der von Osteuropa und, am kompliziertesten von allen, der jenes Teils, der geographisch im Zentrum, kulturell im Westen und politisch im Osten liegt.“ (Kundera 1986: 133).

Der kulturelle Herzschlag des Westens würde nicht, so liest Nawrat seinen Kundera, in den vom Kapitalismus abgestumpften und entkernten Gesellschaften wie Frankreich, England, Westdeutschland oder den USA schlagen, sondern in den unterdrückten kleinen Nationen Mittel- und Osteuropas und in ihrem Wunsch nach Selbstbestimmung. Ausgehend davon formuliert Nawrat mit Blick auf den Ukraine-Krieg: „So groß die Euphorie über den neuen Zusammenhalt des Westens, sein ‚Aufwachen‘ angesichts der Ukraine-Invasion und die neue starke Rolle der Bundesrepublik zu sein scheint – leider muss man die Frage stellen, ob sich die Tragödie Mitteleuropas nicht wiederholen wird, ob der Ukrainekrieg nicht den sichtbaren Teil eines gesamteuropäischen Prozesses darstellt, der schon längere Zeit in Gang ist. Reichen die Konstrukte Nato und EU aus, um den kleinen Staaten, den jüngsten Demokratien Europas, die am Rand der Herde stehen und sich gelegentlich etwas zu weit vom Brüsseler Zentrum entfernen, Schutz zu bieten? […] Staaten wie Litauen, Polen oder Ungarn, aber auch die Slowakei oder die Ukraine, und genauso Staaten im Süden Europas wie Griechenland, Bosnien-Herzegowina oder Nordmazedonien existieren heute wieder nur in der europäischen Peripherie. Sie kommen im westlichen Bewusstsein, wenn überhaupt, lediglich als ‚Problemfälle‘ vor. […]Das Wegdriften von Ländern wie Polen und Ungarn ist nicht einseitig verschuldet. Der Kolonialismus in Ost- und Südosteuropa und seine Fortführung (nicht nur der herabstufende westliche Blick, auch das ökonomische Ungleichgewicht in der EU, das sich in den Hunderttausenden billiger Arbeitskräfte aus Rumänien, Polen oder Bulgarien auf den westeuropäischen Feldern oder im westlichen Pflegesektor spiegelt), haben ein Aufbegehren zur Folge, das von den Populisten seit Jahren genutzt wird. […] Ihre Gesellschaften hatten 1990 ein schweres Erbe zu schultern: Über Jahrhunderte wurden ihre Intelligenz und ihre Eliten ausgerottet oder ins Ausland vertrieben, ihre Ökonomien wurden durch kommunistische Misswirtschaft und Korruption zerstört, der zu Nepotismus erzogene Geist hat sich zum Teil in ein brutales kapitalistisches System herübergerettet. Einen Marshallplan gab es für sie nach dem Zweiten Weltkrieg nicht. Und für westliche Unternehmen stellten sie nach dem Mauerfall eine Art Selbstbedienungsladen dar.“

Die von Nawrat aufgeworfene Frage und Kritik sind hoch berechtigt. Sie finden ihr Äquivalent im innerdeutschen Diskurs, in dem „der Osten“ gemeinhin nach Landtags- und Bundestagswahlen als Problemfall wahrgenommen und im Übrigen weitgehend ignoriert wird.

In einem Gedankenexperiment stellte ich vor einiger Zeit die These auf, dass – wäre es 1990 nicht zum Beitritt der DDR zur Bundesrepublik gekommen, sondern hätte die DDR als Teil einer deutsch-deutschen Konföderation Eigenstaatlichkeit behalten – diese Region hier, in der wir uns befinden, wohl Teil der Visegrad-Gruppe wäre. Also Warschau, Bratislawa und Budapest näher als Bonn wäre.

Der 24. Februar 2022, der eine Zäsur in so vielfacher Hinsicht darstellt, wird in den politisch westlich bzw. östlich geprägten Teilen unseres Landes ebenso wie Europas, verschieden reflektiert. Diese Divergenz erkennbar und verständlich zu machen, erfordert zunächst, unseren Blick zu hinterfragen.

Elisa Satjukow (2022) erinnert daran, dass „Osteuropa oder der Balkan nicht nur als Geschichtsräume, sondern auch als mentale Landkarten des Westens fungieren. In unserer Vorstellung von Modernität ist dieser Osten immer ein Stückchen rückständiger, gewaltvoller, weniger ‚entwickelt‘“. Boris Previšić, dem die Debatte über Mitteleuropa ein „Gespenstergerede“ war, kritisierte: „Im Zuge der EU-Osterweiterung wird genau dieselbe Rhetorik der Ausgrenzung bedient (einfach ohne idealistischen Überbau einer sogenannten mitteleuropäischen Kultur, deren Grenzen auch nicht zu verorten sind). Bezeichnenderweise wird dadurch ein weiterer Außenraum jenseits des transatlantischen EU-Bollwerks geschaffen: Diesen Außenraum nennt man – euphemistisch grundiert – im Moment noch ‚Osteuropa‘ und ‚Westbalkan‘.“ (Previšić 2013: 133)

Behoben wird das Problem dieses spezifischen Blicks aus Sicht von Satjukow durch eine „kritische und postkolonial informierte Perspektive […], um unser Verständnis von Osteuropa neu zu denken. […] Wir brauchen keine weiteren Osteuropa-Institute, was wir brauchen ist eine integrative Geschichtsschreibung, in der Osteuropa genauso selbstverständlich Bestandteil ist wie Westeuropa“ (ebd.).

Nötig sind also aus meiner Sicht Institutionen wie die Klassik Stiftung Weimar und deren breites Netzwerk internationaler Partner. Die Klassik Stiftung Weimar zwingt uns durch ihre Arbeit, durch Gedankenexperimente und Interventionen uns schwarze Schwäne vorzustellen. Das ist enorm wichtig, denn so trägt sie Schicht für Schicht auch der Zäsur des 24. Februar 2022 ab und dazu bei, sie zu erfassen und zu verstehen.

„Unvergangen“ nannnte Clemens J. Setz in seiner Büchnerpreis-Rede im vergangenen Jahr ein Stück Geschichte, dass sich so oder anders auf der Erde zugetragen hat. Und er betont das Recht, es als „unvergangen“ zu denken. Die Klassik Stiftung Weimar versammelt in sich „Unvergangenes“. Sie ist Wissensspeicher, Ort an dem erinnert, überliefert, neu konfiguriert wird. Und da im Krieg die Wahrheit bekanntlich als erstes stirbt, ist die Klassik Stiftung Weimar in Zeiten des Informationskrieges, der Fake News, Manipulation etc. in den Worten ihrer Präsidentin Frau Dr. Lorenz ein „Faktenbergwerk mit Fundstelleneruptionen“.

Die Klassik Stiftung ist ein Tanker. Aber sie hat schnelle Beiboote und deshalb unmittelbar nach Ausbruch des Ukraine-Kriegs begonnen, vertriebenen Künstler:innen und Wissenschaftler:innen aus der Ukraine ebenso wie russischen Systemkritiker:innen Unterschlupf anzubieten. Sie reiht sich damit ein in ein Netzwerk der Solidarität. Durch das frei räumen von Depots trägt sie auch dazu bei, Kulturgüter vor der Zerstörung zu bewahren und ihnen ein temporäres Asyl zu gewähren, bevor sie im Frieden wieder zurückkehren können.

 

Sehr geehrte Damen und Herren,

wir gingen davon aus, dass der Krieg als Mittel und Fortsetzung der Politik in Europa geächtet sei. Gleichzeitig zeigten die Balkankriege der 1990er Jahre, wie normativ und wohl auch amorph diese hoffende Annahme war. Es gehört zu unserem historischen Kurzzeitgedächtnis, dass viele im Schreiben und Reden über den vermeintlich ersten Krieg in Europa seit 1990 diese Ereignisse ausblendeten bzw. auf den nicht durch die UN-mandatierten NATO-Einsatz reduzierten, statt die Vor- und Nachgeschichte zu reflektieren. Eine Vorgeschichte, die eben nicht erst mit dem 10-Tage-Krieg in Slowenien 1991 begann und eine Nachgeschichte, die auch mehr als 20 Jahre nach dem Kosovo-Krieg nicht zu Ende gegangen, sondern nach wie vor virulent und gefährlich ist.

Dass der Umbruch der Jahre 1989/1990 ein Wandel von welthistorischer Größe aber eben nicht das Ende der Geschichte war, wurde in unterschiedlichen Untersuchungen herausgearbeitet. Andreas Reckwitz formuliert in der aktuellen Ausgabe der ZEIT: „Es gibt kaum eine These, die in der intellektuellen Debatte so viel Widerspruch hervorrief wie die Fukuyamas. Trotzdem scheint der Glaube an den Automatismus der Modernisierung im westlichen-liberalen Sinne tief verankert.“

Doch die liberalen Demokratien stehen unter Druck. Beispielhaft sei auf die erklärende Betrachtung der illiberalen Demokratien Ungarns und Polens von Ivan Krastev und Stephen Holmes einerseits verwiesen und andererseits auf die Analyse, wie Demokratien sterben von Steven Levitsky und Daniel Ziblatt. Letztere weisen anhand von Beispielen rund um den Globus und über das 20. Jahrhundert bis heute nach, dass Gewaltenteilung und gegenseitige Kontrolle Machtmissbrauch verhindern. Verfassungen normieren Demokratie doch man kann ihren Buchstaben folgen und dennoch dem Geist widersprechen. Nötig ist neben der Verfassung eine demokratische Kultur, die durch informelle Regeln ‚Leitplanken‘ setzt: Respekt vor dem Andersdenkenden, Zurückhaltung im Ton und in den Mitteln des Strebens nach staatlicher Macht. Besteht diese Kultur nicht oder wird sie unterminiert, stirbt die Demokratie.

Holmes und Krastev zeichnen nach, dass das „Ende der Geschichte“ vielmehr eine Periode der Adaption und Nachahmung einläutete. Drei Jahrzehnte war der Osten bemüht, den Westen zu imitieren und erlebte dabei Unzulänglichkeit, Abhängigkeit und einen Identitätsverlust. Zunehmender Widerwille gegen die Nachahmungspolitik läutete den antiliberalen Gegenschlag ein. Das antiwestliche Ethos innerhalb der postkommunistischen Gesellschaften ist dabei, so Krastev und Holmes, weniger die Anziehungskraft einer autoritären Vergangenheit oder historisch verwurzelte Abneigung gegen den Liberalismus, sondern vielmehr der Mangel an Alternativen.

Es gibt deshalb gute Gründe, kritisch auf die allzu selbstzufriedene Gewissheit von der Überlegenheit der westlichen Demokratien zu blicken – ebenso wie auf die zerstörerische Wirkung neoliberaler Dogmen, zu denen es vermeintlich keine Alternative gäbe. Die „Anomalien, die der vermeintlichen Zwangsläufigkeit des westlichen Modernisierungsprozesses weltweit widersprechen“ (Reckwitz 2022) sind zahlreich. Sowohl exogen als auch endogen.

 

Sehr geehrte Damen und Herren,

in seiner Rede zur Anerkennung der selbsternannten ostukrainischen "Volksrepubliken" Donezk und Luhansk, nur Stunden vor dem Einmarsch in die Ukraine, gewährte Putin einen unverstellten Einblick in sein Weltbild der Wiederherstellung vormaliger russischer Größe und seines Kampfes gegen westliche Werte und die westliche Demokratie, die er für schwach und dekadent hält.

Wer sich die Mühe machte, diese Rede zu lesen, ist zwiegespalten zwischen dem Wunsch kopfschüttelnd abzubrechen und dem Zwang bis zu Ende zu lesen, da es notwendig ist, zu verstehen, was den russischen Präsidenten antreibt und warum sich so viele in ihm irrten, die meinten, ihn zu verstehen.

Bereits seit langer Zeit beharrt Putin auf dem ideologischen Narrativ einer russischen Gemeinschaft, die auf der Kiewer Rus gründet und durch den russisch-orthodoxen Glauben geprägt wird. Er verneint eine historische ukrainische Eigenständigkeit und argumentiert in seiner Rede, dass die Schwäche Russlands nach dem Ersten Weltkrieg die Bolschewiki unter Wladimir Iljitsch Lenin gezwungen habe, um das Überleben der jungen Sowjetmacht zu gewährleisten, den jahrhundertelang unterdrückten Völkern im vormaligen zaristischen Russland nationale Souveränität zugestehen zu müssen.

In seinem großrussischen imperialen Verständnis kann die Akzeptanz und Förderung des Selbstbestimmungsrechts der Völker, für die Bolschewiki ihrer Zeit die Voraussetzung für die freie Assoziation sozialistischer Republiken, nur ein Ausdruck von Schwäche sein.

Dass dieses Selbstbestimmungsrecht, insbesondere unter Joseph Stalin, mit Füßen getreten wurde und im Hitler-Stalin-Pakt 1939 Polen verraten, okkupiert und aufgeteilt wurde, findet bei Präsident Putin kein kritisches Wort. Er wirft Stalin nur eins vor: das in der sowjetischen Verfassung niedergelegte Selbstbestimmungsrecht der Völker nicht getilgt zu haben.

Denn dieser vermeintliche Fehler habe in einer Phase der erneuten Schwäche, in den 1980er und zu Beginn der 1990er Jahre dazu geführt, dass Sowjetrepubliken, darunter die Ukraine ihre Unabhängigkeit erklärten. 

[Nachtrag: Juliette Faure porträtierte in der Le Monde diplomatique vom April 2022 (S. 8/9) im Artikel "Wer sind die russischen Falken?" die ultranationalistischen Ideologen, die hinter dem Großmachtstreben Putins stehen und sich im sogenannten Isborsk-Klub zusammengeschlossen haben.]

Es ist wichtig, sich dies vor Augen zu führen. In den vergangenen Tagen und Wochen wurde in der deutschen Debatte vielfach die Auffassung vertreten, dass die militärische Bedrohung der Ukraine seine Ursache in einer westlichen Bedrohung Russlands habe.

Der Westen und insbesondere die NATO habe, so die Logik dieser Argumentation, Russland so oft und lange gedemütigt, dass Russland nun zwar inakzeptable aber letztlich vom Westen selbst provozierte Maßnahmen ergreife.

Von Egon Bahr stammt die am 3. Dezember 2012 in Heidelberg im Gespräch mit Schüler:innen getätigte Aussage „In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte. Es geht um die Interessen von Staaten. Merken Sie sich das, egal, was man Ihnen im Geschichtsunterricht erzählt.“ Und so muss gerade auch mit Blick auf Egon Bahr festgehalten werden, dass nach dem Weltereignis 1989/1990 die NATO eben nicht zugunsten eines kollektiven Sicherheitssystems unter Einschluss Russlands abgelöst wurde, als es zumindest die Option gab, dass Russland dazu bereit gewesen wäre. Gleichzeitig beantwortet keine Kritik an den „den Atlantikern“ die Frage, welche Antwort man denjenigen Staaten Osteuropas hätte geben sollen, deren historisch begründete Befürchtung, eines Tages erneut Spielball russischer imperialer Bestrebungen zu werden, eben nur durch einen NATO-Beitritt abgewendet werden konnten.

Halten wir deshalb fest: Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine dient allein dem Ziel, eine Korrektur der geschichtlichen Ereignisse der Jahre 1990 bis 1992 vorzunehmen. Die Ukraine sieht der russische Präsident nicht nur als Einflusssphäre, sondern er will die Ukraine heimholen ins russische Reich. 

Kurz nach dem Beginn der Invasion erschien auf der russischen Seite ria.ru ein aufschlussreicher Beitrag „Die Offensive Russlands und die neue Welt“ . Der Beitrag wurde bekannt, weil er kurz nach seinem Erscheinen gelöscht wurde, denn offenbar war er vor Kriegsbeginn bereits geschrieben und in der Annahme eines siegreichen Blitzkrieges voreilig publiziert worden. Chefkommentator Petr Akopow beschreibt drei Dimensionen einer „neuen Welt, die vor unseren Augen geboren wird. Russlands Militäroperation in der Ukraine hat eine neue Ära eingeläutet“. Neben der ersten schon dargelegten Dimension ist die zweite Dimension die Annahme, dass trotz der momentanen Einheit des Westens die europäische Union auseinanderfallen wird an der Nahtstelle zwischen Atlantikern einerseits und denjenigen, die sich gegen die angelsächsische Globalisierung stellen sowie der dritten Dimension, einer neuen Weltordnung, in der der Westen seine Dominanz verliert.

 

Sehr geehrte Damen und Herren,

warum beschreibe ich dies hier so ausführlich? Weil diese Narrative nicht allein irrsinnige Vorstellungen eines großrussischen Imperialismus des 19. Jahrhunderts sind. Sie sind nicht neu, denn eine aggressive Geschichtspolitik betreibt der Kreml schon seit zwei Jahrzehnten, wie Corinna Kuhr-Korolev (2022) wenige Tage nach Kriegsbeginn prägnant zusammenfasste. Die gerichtlich angeordnete Auflösung von Memorial International liest sie in dreifacher Hinsicht: Erstens als „Rollback in der Aufarbeitung des Stalinismus […]. Zweitens bezweckte die Schließung „Memorials“ die Einschüchterung von Oppositionellen und Menschenrechtsaktivist*innen und die Schwächung ihrer Netzwerke, vermutlich schon in der Voraussicht auf den Krieg gegen die Ukraine und die Proteste, die er im eigenen Land hervorrufen würde. Drittens zeigte die Art des Vorgehens Ende letzten Jahres, dass die russische Führung zu diesem Zeitpunkt schon beschlossen hatte, sich nicht mehr um ihre Reputation im Ausland zu sorgen. Im Gegenteil: es war ein Zeichen Richtung Westen, die in Europa geltenden Regeln zukünftig nicht mehr anzuerkennen.“ 

Der „Westen“ von dem nun derzeit alle sprechen ist ebenfalls eine mentale Landkarte. Identifiziert mit den Ideen der Aufklärung, der liberalen Demokratie. Doch diese Ideen sind universell und räumlich, geographisch unabhängig. Es sind die Ideen und Werte für die derzeit Menschen in der Ukraine sterben. Für die Menschen in Russland oder in China in Arbeitslager oder Gefängnisse gesteckt werden. Es sind die Ideen und Werte, für die polnische Frauen und Männer demonstrieren, wenn sie sich für ein liberales Abtreibungsrecht einsetzen.

Diese als universell anerkannten Werte und Gleichheitsmaßstäbe sind, wie Ulrich Beck im Eröffnungsvortrag zum Soziologentag, der 2008 in Jena stattfand, feststellte, für alle Menschen gleich. Doch obwohl die Menschen zugleich gleich sind, sind sie, wie er weiter ausführte „nicht gleich entlang nationaler Grenzen. Nationale Grenzen wirken als Wasserscheiden der Wahrnehmung: Sie machen soziale Ungleichheiten zum Politikum – nach innen – und produzieren, stabilisieren, legitimieren sie zugleich – nach außen.“ (Beck 2008: 11) Und er fragte, was dieses Weltbild brüchig mache. Die bestehende soziale Ungleichheit wird umso weniger akzeptiert, wie Gleichheitsnormen als allgemein anerkannt und zum Maßstab werden. Beck führt aus: „Je mehr Gleichheitsnormen sich weltweit ausbreiten, desto mehr wird der globalen Ungleichheit die Legitimationsgrundlage des institutionalisierten Wegsehens entzogen. Die reichen Demokratien tragen die Fahne der Menschenrechte in die letzten Winkel der Erde, ohne zu bemerken, daß auf diese Weise die nationalen Grenzbefestigungen, mit denen sie die Migrantenströme abwehren wollen, ihre Legitimationsgrundlage verlieren. Viele Migranten nehmen die verkündete Gleichheit als Menschen recht auf Mobilität ernst und treffen auf Länder und Staaten, die – gerade unter dem Eindruck zunehmender Ungleichheiten im Inneren – die Norm der Gleichheit an ihren bewaffneten Grenzen enden lassen wollen.“ (Beck 2008: 15)

Und auch dies gehört zu den Realitäten einer höchst widersprüchlichen Migrationspolitik Europas, in der die richtige humanitäre Aufnahme der Kriegsflüchtlinge und Vertriebene aus der Ukraine einerseits und ein repressives, tödliches Grenzregime im Mittelmeer sowie Pushbacks nicht nur an der Grenze zu Belarus andererseits zwei Seiten der gleichen Medaille darstellen.

„Nicht die ersten drei Tage dieses Krieges haben die Ukraine so verändert, dass dieses vernachlässigte Grenzland am Rande Europas der Herausforderung gewachsen scheint, sich glaubhaft zur Verteidigerin universaler demokratischer Werte aufzuschwingen. Der schwierige und immer wieder von Hindernissen und Widersprüchen begleitete Weg der ukrainischen Gesellschaft in eine leidlich stabile demokratische Ordnung hat schon viel früher begonnen, spätestens mit der Maidan-Revolution von 2013/14“ erläutert der Jenaer Wissenschaftler Florian Peters.

„Russlands unablässige Versuche, diesen Weg mit Gewalt zu versperren, haben die Ukraine nicht aufhalten können. Dass der Westen und auch Deutschland all dies erst jetzt mitzubekommen scheinen, kann man nur ignorant und bedauerlich finden. Hunderte, wohl Tausende Ukrainerinnen und Ukrainer bezahlen für diese Ignoranz jetzt mit ihrem Leben. Vielleicht sorgt das grelle Licht der Weltöffentlichkeit, das nun auf Kiew und die Ukraine gerichtet ist, dafür, dass wir zumindest in dieser Hinsicht eine Zeitenwende erleben?“

Adam Ostolski plädierte 2015 dafür, „die Europäische Union, nationale Staaten u.ä. nicht als fertige Existenzen [zu] betrachten und nicht als Quelle irgendwelcher Normen oder Werte, sondern als gewisse Niveaus sozialer Kämpfe um für uns wichtige Dinge.“ (Ostolski 2015: 29) Diese Sichtweise ist mir deshalb wichtig, weil es den umkämpften Charakter der Institutionen unserer Zeit widerspiegelt und deutlich macht, dass das nicht existente Ende der Geschichte den Möglichkeitsraum eröffnet. Einen Möglichkeitsraum, der Fortschritt ebenso ermöglicht wie Regression.

Den Krieg in der Ukraine so schnell wie möglich zu beenden und ihre territoriale Souveränität wiederherzustellen, Putins Handlungsspielraum so umfassend wie möglich einzuschränken und die europäische Integration in postkolonialer Perspektive voranzutreiben – um nicht weniger als darum, muss es gehen.

[Einfügung am 22.03.2022: Am Montag, dem 21. März 2022 erfuhren wir durch die Gedenkstätte Buchenwald und Mittelbau Dora, dass der frühere KZ-Häftling, Zwangsarbeiter und Überlebender von Buchenwald und Bergen-Belsen, Boris Romantschenko, im Alter von 96 Jahren bei der Bombardierung seines Wohnhauses in Charkiw ermordet wurde. Er sprach 2013 als Vizepräsident des Internationalen Komitees Buchenwald-Dora den 1945 formulierten Schwur von Buchenwald noch einmal: "Der Aufbau einer neuen Welt von Frieden und Freiheit ist unser Ideal!" Sein Tod ist brutal, sinnlos und zeigt, dass Geschichte nie gerecht ist.]

Wir können den Prozess einer erweiterten und neuen europäischen Integration zu der auch ein Russland nach Putin gehören muss, begleiten, unterstützen und vorantreiben. Über den Weg und die dafür erforderlichen Mittel gibt es und muss es auch Debatten geben, die bereits jetzt geführt werden. Die Klassik Stiftung kann und wird, so bin ich sicher, in diesem Prozess und dieser Debatte Orientierungspunkte setzen.

 

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Verwendete Literatur

 

Hodos, Georg Hermann (2001): Schauprozesse. Stalinistische Säuberungen in Osteuropa 1948-1952, Berlin.

Hoff, Benjamin-Immanuel (2022): Es herrscht Krieg in der Ukraine, https://www.benjamin-hoff.de/de/article/4091.es-herrscht-krieg-in-der-ukraine.html.

Kuhr-Korolov (2022): Mission und Macht. Putins Instrumentalisierung der Geschichte, in: Zeitgeschichte-online, Februar 2022, URL: https://zeitgeschichte-online.de/kommentar/mission-und-macht.

Kundera, Milan (1984): Un occident kidnappé oder die Tragödie Zentraleuropas, in: Kommune. Forum für Politik und Ökonomie, Nr. 7, S. 43-52 sowie Kundera, Milan (1986): Die Tragödie Mitteleuropas, in: Busek, Erhard/Wilfinger, Gerhard (Hrsg.): Aufbruch nach Mitteleuropa. Wien, S. 133-143.

Leo, Annette (2022): „Opfer der Nürnberger Gesetzgebung“. Die VVN und ihre jüdischen Mitglieder, in: Leo, Annette/Reif-Spirek, Peter (Hrsg.): Widerspruchsvoller Neubeginn. Ostdeutsch-jüdische Geschichten nach 1945, Publikation der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen, Erfurt.

Nawrat, Matthias (2022): Wird der Osten diesmal im Westen bleiben?, https://www.zeit.de/kultur/2022-03/osten-westen-beziehung-russland-ukraine.

Ostolski, Adam (2015): Die Krise der europäischen Integration, in: Negt, Oskar/Ostolski, Adam/Kehrbaum, Tom/Zeuner, Christine (Hrsg.), Stimmen für Europa, Göttingen, S. 23-33.

Peters, Florian (2022): Verändert der Krieg alles? . Wie Russland und die Ukraine für ihr Militär werben, in: Zeitgeschichte-online, März 2022, URL: https://zeitgeschichte-online.de/themen/veraendert-der-krieg-alles.

Previšić, Boris (2013): „Das Gespenstergerede von einem Mitteleuropa“ – Die Imagination eines Un-Orts, in: Fountulakis, Evi/Previšić, Boris (Hrsg.): Der Gast als Fremder. Narrative Alterität in der Literatur, Bielefeld, S. 113-136.

Reckwitz, Andreas (2022): Der Optimismus verbrennt, in: DIE ZEIT Nr. 12/2022, https://www.zeit.de/2022/12/krieg-ukraine-westen-liberalismus-geschichtsphilosophie

Reuter, Elke/Hansel, Detlef (1997): Das kurze Leben der VVN von 1947-1953, Berlin.

Satjukow, Elisag (2022): Osteuropa (ver)lernen. Ein Plädoyer für eine neue Geschichtskultur, zeitgeschichte online, 15. März 2022, https://zeitgeschichte-online.de/node/58644.

Schuch, Gereon (2006): Plädoyer für Mitteleuropa. Ost-, Ostmittel- MOE? Die Sprache hinkt der Geschichte hinterher, in: Internationale Politik, Heft 2, S. 116-119.

Setz, Clemens J. (2021): Dankesrede zur Verleihung des Büchnerpreises, https://www.sueddeutsche.de/kultur/clemens-j-setz-georg-buechner-preis-woyzeck-karl-krall-denkende-tiere-pferde-1.5457889.

 

 

 

* Benjamin-Immanuel Hoff (*1976, DIE LINKE) ist Minister für Kultur, Bundes- und Europaangelegenheiten sowie Chef der Staatskanzlei des Freistaates Thüringen. In der Funktion als Kulturminister ist er seit 2015 Vorsitzender des Stiftungsrates der Klassik Stiftung Weimar sowie u.a. des Stiftungsrates der Gedenkstätte Buchenwald und Mittelbau-Dora.