08.03.2022
Benjamin-Immanuel Hoff

Die Weichen für die Zukunft stellen

Thüringer Herausforderungen im Frühjahr 2022

Die Corona-Pandemie, der Ukraine-Krieg, gesellschaftliche Polarisierungen – unser Gemeinwesen ist schweren Prüfungen ausgesetzt und die Herausforderungen ändern sich unvorhersehbar und schnell. Umso bedeutsamer ist es, bereits jetzt die richtigen Entscheidungen für die Zukunft zu treffen. Dafür müssen die rot-rot-grüne Minderheitskoalition einerseits und die demokratische Minderheitsopposition aus CDU und FDP andererseits weiterhin pragmatische Lösungen trotz weltanschaulicher Differenzen finden. Krisenzeiten erfordern neues Denken.

Der Text kann nachstehend als Fließtext gelesen und untenstehend als PDF-Datei abgerufen werden.

 

Seit dem Frühjahr 2020 hielt uns das Corona-Virus in Atem, dominierte die mediale Berichterstattung ebenso wie die gesellschaftspolitische Debatte. Die staatlichen Maßnahmen zur Bewältigung der Pandemie, mehr noch aber erratisch wirkende und nur wenig kommunikativ erläuterte sowie in ihrer Wirkung einer Evidenzprüfung nicht ausreichend unterzogene Entscheidungen haben - auf den ersten Blick - vormals bestehende Haarrisse in der Gesellschaft zu tatsächlichen Spaltungslinien vertieft. Inzwischen verdichten sich die Anzeichen dafür, dass wir die Pandemie hinter uns lassen. Wir werden mit dem Virus zu leben lernen, ohne die tiefen Eingriffe in das öffentliche und private Leben fortzusetzen.

Wer hätte freilich noch vor wenigen Wochen gedacht, dass nach der weltweiten Bedrohung durch einen Virus, die internationale Sicherheitslage sich noch einmal radikal verschärfen würde. Der von Präsident Putin befohlene Angriffskrieg auf die Ukraine hat vermeintlich bestehende Gewissheiten über die europäische Friedensordnung implodieren lassen. Der militärische Terror der russischen Armee gegen ukrainische Städte, militärische Einrichtungen ebenso wie gegen die Zivilbevölkerung richtet nicht nur milliardenschwere Schäden in der Ukraine an, sondern hat die größte Flüchtlingsbewegung nach dem 2. Weltkrieg ausgelöst. Die Menschen, die aus der Ukraine zu uns flüchten oder vertrieben werden, werden unsere Hilfe lange benötigen.

 

Pandemie und Polarisierung

Mehr als ein Fünftel der Thüringerinnen und Thüringer infizierte sich nachweislich mit dem SARS-CoV-2-Virus. Mehr als 6 600 Menschen sind inzwischen an bzw. mit dem Virus verstorben. Trotz phasenweise sehr hoher Belastung des Gesundheitssystems ist es gelungen, die nötige Versorgung zu gewährleisten.

Die staatlichen Eingriffe zur Vermeidung einer Überlastung des Gesundheitssystems waren zugleich notwendig und belastend. Insbesondere für die Schwächsten in unserem Land und für Familien. Dass diese Maßnahmen gesetzlich normiert, zu jeder Zeit verfassungsrechtlich legitimiert werden mussten, dass Gerichte korrigierend eingegriffen haben und die Maßnahmen nun schrittweise aufgehoben werden, ist Ausdruck unserer funktionierenden Demokratie mit stabilen Checks-and-Balances. Es gibt in unserem Land kein staatliches Interesse an der Einschränkung von Freiheits- und Bürgerrechten. Dies müssen auch diejenigen zur Kenntnis nehmen, die überzeugt vom Gegenteil sind.

Wir alle lernten: Es gibt keine einfache Antworten auf die Herausforderungen der Zeit. Die von jeher falsche und auf Margaret Thatcher zurückgehende Aussage, es gäbe keine Alternativen, wurde in der Pandemie erneut widerlegt. Es gibt stets eine Alternative. Sie muss jedoch einer Abwägung von Kosten und Nutzen sowie einer Folgeabschätzung unterzogen werden. Erst dann kann entschieden werden, ob die Alternative der bessere Weg wäre.

Die Haltungen, die in der Pandemie jeweils mehr öffentliche und staatliche Aufmerksamkeit reklamierten, sind so differenziert wie unsere komplexe Gesellschaft. Feststellen lässt sich, dass eine stabile Mehrheit die Pandemie-Maßnahmen in den vergangenen zwei Jahren kontinuierlich als angemessen befürwortete. Relevante Minderheiten wiederum hielten die Maßnahmen jeweils entweder für nicht ausreichend oder für überzogen. Forderten die einen, die Schulen endlich wieder zu öffnen und die Maskenpflicht zu beenden, hielten die anderen diesem Wunsch die Befürchtung einer Durchseuchungsstrategie entgegen. Inkonsistente und vielfach widersprüchliche politische Entscheidungen trugen zu Vertrauensverlust – auch in die Handlungsfähigkeit des bundesdeutschen Föderalismus in Krisenzeiten bei.

Die gesellschaftspolitische Debatte, die bereits vor der Pandemie polarisiert war, hat sich verhärtet. Gleichzeitig sollten wir uns davor hüten, Mythen über eine hoffnungslose Polarisierung ungeprüft zu übernehmen. Sicherlich ist die öffentliche Diskussion nicht einfach. Das gesellschaftliche Klima rauher. Aber für Defätismus besteht kein Anlass und die Vergangenheit erscheint in der Rückschau zumeist attraktiver als die damalige Gegenwart tatsächlich aussah.

Polarisierung geht zumeist davon aus, dass sich zwei Pole, von denen die einen dies und die anderen das Gegenteil fordern, gegenüber stehen. In der Realität zeigt sich, dass diese Annahme nicht zutrifft. Studien weisen nach, dass die Gesellschaft statt in zwei Pole eher in unterschiedliche Lager oder Gruppen ausfranst. Sozio-ökonomische Kriterien differenzieren seit jeher zwischen einer Ober-, Mittel- und der prekarisierten Schicht. Wertebezogene Milieu-Betrachtungen unterscheiden zwischen traditionellen und modernen Sichtweisen. Eine weitere Beschreibung teilt die Gesellschaft in drei Lager. Dort stehen auf der Polarisierungsebene die Wütenden den Offenen gegenüber. Die zwei weiteren Lager werden als Stabilisatoren einerseits und die Unsichtbaren andererseits beschrieben. Dieses sogenannte unsichtbare Drittel umfasst diejenigen, die sich einsam und vom politischen System distanziert fühlen. Knapp die Hälfte der 18-29-jährigen zählte sich 2019 zu diesen „Unsichtbaren“, wie Paula Köhler von der Stiftung Wissenschaft und Politik mit Bezug auf eine Studie von More-in-Common beschreibt.

 

Politische Minderheiten und stabiles Regieren in Thüringen

Auch die vergangenen Wahlen auf Landes- wie auf Bundesebene sprechen eher gegen als für eine zunehmende Polarisierung. Mit Ausnahme der AfD, deren Anspruch nicht in der demokratischen Teilhabe besteht, sondern darin, dass politische System und ihre Repräsentanten verächtlich zu machen, sind die demokratischen Parteien grundsätzlich bereit, miteinander zu kooperieren. Die weltanschaulichen Unterschiede setzen dabei nachvollziehbare Grenzen der Kooperation. Weder CDU/CSU noch Linke streben an, miteinander zu koalieren. Und arbeiten dennoch in Parlamenten und Gremien zusammen. 

Die Thüringerinnen und Thüringer haben bei der Landtagswahl 2019 die Parteien vor eine heikle Aufgabe gestellt. Denn kein politisches Lager ist aus sich heraus mehrheitsfähig. Vielmehr stehen sich im Landtag drei Minderheiten gegenüber. Die rot-rot-grüne Minderheitskoalition, die schwarz-gelbe Minderheitsopposition und die Minderheitsopposition der AfD unter Björn Höcke.

Seitdem haben alle demokratischen Parteien Lehrgeld gezahlt – unter den Bedingungen der multiplen Minderheiten sowie der Ausnahmesituation des Pandemie-Managements. Und dennoch ist es nunmehr im dritten Jahr gelungen, nicht nur den Landeshaushalt zu beschließen, sondern die Funktionsfähigkeit unseres Thüringer Gemeinwesens zu gewährleisten. Die Bürger unseres Freistaates haben keine Nachteile aus der seit 2019 bestehenden Minderheits-Koalition. Denn Demokratinnen und Demokraten stellen parteipolitische Interessen hinter Gemeinwohlinteressen zurück. Man muss nur einen Blick auch in europäische Nachbarländer werfen, um den Wert dessen zu erkennen.

Gleichwohl ist die gegenwärtige Situation weit davon entfernt, Modellcharakter zu haben. Zwar könnten wir durchaus von Schweden lernen. Dort gehören Minderheitsregierungen zur politischen Kultur. Durch Enthaltung ermöglicht die Opposition gemeinhin die Mehrheitsbildung der jeweiligen amtierenden Koalition. Eine Praxis, die in Deutschland wie in Thüringen bislang nicht etabliert ist. Politisch gewachsene Kulturen sind freilich keine Blaupause, die einfach zu kopieren ist. Doch möglicherweise werden wir erst im Rückspiegel erkennen, wie weit wir tatsächlich gekommen sind beim Wandel parlamentarischer Praxis.

 

Soforthilfe jetzt und langfristige Integrationsperspektive für die ukrainischen Kriegsflüchtlinge

Statt in den Rückspiegel zu blicken, zwingt uns der Krieg in der Ukraine nach vorn zu schauen und unmittelbar zu handeln.

Über viele quälende Wochen hatte der russische Autokrat Wladimir Putin die Ukraine und die Welt in Geiselhaft genommen. Trotz aller widersprüchlichen Signale der Gesprächsbereitschaft marschierte er an der Grenze der Ukraine auf russischem und weißrussischem Gebiet auf, um letztlich den seit 2014 geführten hybriden und versteckten Krieg gegen die Ukraine zu einem offenen völkerrechtswidrigen Krieg zu eskalieren. Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine dient allein dem Ziel, eine Korrektur der geschichtlichen Ereignisse der Jahre 1990 bis 1992 vorzunehmen. Die Ukraine sieht der russische Präsident nicht nur als Einflusssphäre, sondern er will die Ukraine heimholen ins russische Reich. 

Erwarteten Putin und seine Generäle einen schnellen Sieg über die Ukraine, so täuschten sie sich heute genauso wie seinerzeit beim russischen Überfall auf Tschetschenien. Ebenso wie damals reagiert die Staats- und Militärführung auf den anhaltenden Widerstand mit blindwütigen, zerstörerischen Angriffen gegen zivile Einrichtungen und die zivile Bevölkerung.

Infolge dessen steigt die Zahl der ukrainischen Vertriebenen stark an. Nach Angaben des UNHCR sind innerhalb von 10 Tagen mehr als 1,5 Millionen Menschen aus dem Land geflohen. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen hat die Ukraine zum Notstandsgebiet der Stufe 3 ausgerufen - die höchstmögliche Stufe.

In unserem Freistaat wurden unmittelbar nach Kriegsausbruch die Voraussetzungen für die schnelle Ankunft von Kriegsflüchtlingen geschaffen und in Landeseinrichtungen Platzkapazitäten geschaffen. So konnte Thüringen dem Land Berlin, das der bundesdeutsche Hotspot der Zuwanderung ist, unbürokratische Hilfestellung leisten und Flüchtlinge aufnehmen. Darüber hinaus leistete Thüringen Hilfestellung bei Hilfslieferungen für die Ukraine-Hilfe.

Unabhängig vom weiteren Verlauf des Krieges ist damit zu rechnen, dass die Menschen, die zu uns fliehen, über längere Zeit bei uns leben werden. Deutschland und Thüringen können bei der Integration dieser Kriegsflüchtlinge auf den Erfahrungen sowohl der Zuwanderung von Kriegsflüchtlingen aus dem früheren Jugoslawien aufbauen, als auch der Zuwanderung der Jahre 2015 und 2016. Angesichts der Traumatisierung vieler dieser Menschen müssen zügig Strukturen der Be- und Verarbeitung dieser Traumata geschaffen werden.

Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit (IAB) hat sich mit der aktuellen Fluchtmigration aus der Ukraine befasst und einen ersten Bericht vorgelegt. Die Wissenschaftler:innen empfehlen im Hinblick auf eine gewünschte zügige Arbeitsmarktintegration insbesondere folgende erste Maßnahmen. Es sollte:

  • schnell für Rechtssicherheit durch längerfristige - und nicht nur einjährige - Aufenthaltsrechte außerhalb des Asylbewerberleistungsgesetzes gesorgt werden;
  • darauf verzichtet werden, Geflüchtete in strukturschwachen Regionen mit schlechten Arbeitsmarktbedingungen zu konzentrieren und dies durch Wohnsitzauflagen zu verfestigen;
  • Geflüchteten aus der Ukraine frühzeitig ein Sprach- und Arbeitsmarktprogramm ebenso wie Arbeitsmarktberatung und -vermittlung angeboten werden;
  • die Anerkennung im Ausland erworbener Berufsqualifikationen erleichtert und weitergehende Bildungsabschlüsse mit Fort- und Weiterbildung gefördert werden;
  • auf eine gezielte Förderung von Frauen geachtet werden;
  • die Integration von Kindern in Bildungs- und Betreuungseinrichtungen erleichtert werden.

Darüber hinaus müssen auf Bundesebene Regelungen getroffen werden, die den Status der Ukraineflüchtlinge denen nach der Genfer Kriegskonvention anzugleichen, um neben der selbständigen Tätigkeit auch die abhängige Beschäftigung zu ermöglichen, um die Integration in den Arbeitsmarkt zu schaffen.

Möglicherweise sollte Thüringen jedoch noch einen Schritt weiter gehen und sagen: Wir wollen als Freistaat mehr als nur die nach dem sogenannten Königsteiner Schlüssel zwischen den Ländern umverteilten Kriegsflüchtlinge aufnehmen. Also mehr als die auf Thüringen entfallenden 2,7 Prozent.

Deutschland ist es – unter viel schwierigeren ökonomischen und finanziellen Rahmenbedingungen – gelungen, Millionen Kriegsflüchtlinge und Vertriebene nach dem Zweiten Weltkrieg mit Wohnraum, Arbeit und Perspektiven zu versorgen. Hierfür wurden Strukturen geschaffen (Landesflüchtlingsverwaltung) und Leistungsgesetze auf den Weg gebracht (Lastenausgleichsgesetz).

Heute können wir auf jahrzehntelanger Erfahrung und guten Strukturen aufbauen. Dennoch stellen sich bislang eher theoretisch diskutierte Fragen ganz praktisch. Die Schaffung eines Landesamtes für Flüchtlinge und Integration beim Ministerium für Migration, Justiz und Verbraucherschutz, in dem neben den bislang im Landesverwaltungsamt zuständigen Organisationseinheiten auch die Ausländerbehörden der Thüringer Kommunen gebündelt und eine einheitlich agierende Integrationsverwaltung entsteht, ist nun sinnvoller als je zuvor.

Die Ressorts für Migration, Bildung, Soziales, Infrastruktur und Kultur sollten übergreifend eine neue „Vertriebenenstrategie“ für die ukrainischen Kriegsflüchtlinge und Vertriebenen erarbeiten, die auf eine langfristige und zahlenmäßig relevante Ansiedlung orientiert. Als einen Gewinn für alle Beteiligten und für unseren Freistaat.

 

Zukunft gestalten, statt den Status quo zu verwalten – unter schwierigen Bedingungen

In allen bislang getroffenen Vereinbarungen zwischen der rot-rot-grünen Minderheitskoalition und der oppositionellen CDU bemühten sich beide Seiten, nicht nur den Status quo fortzuschreiben oder Minimalkompromisse zu machen. Das ist richtig, denn dies würde nicht weniger als Stillstand bedeuten. Und Stillstand bedeutet in bewegten Zeiten Rückschritt.

Es muss uns gelingen, sowohl die aktuellen Krisen zu bewältigen als auch gleichzeitig den Freistaat auf die Herausforderungen der dritten Dekade dieses Jahrhunderts vorzubereiten. Die ökologische und digitale Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft, die Gewährleistung sozialer und räumlicher Gerechtigkeit, gute Bildung und moderner Staat sind die Megathemen und künftigen Herausforderungen. Hinzu kommen – wie der Ukrainekrieg nachdrücklich vor Augen führt – neue/alte Aufgaben des Zivilschutzes, der Krisenresilienz kritischer Infrastrukturen zu bewältigen.

Dieser Wandel der vor uns liegt, entspricht in Wirkung und Umfang nicht weniger als demjenigen der Nachwendezeit. Die Thüringer haben die Nachwendezeit sozio-ökonomisch erfolgreich gemeistert. Die Arbeitsmarktdaten sind dafür ein beredter Ausdruck. Wir gehören kontinuierlich zur Spitzengruppe der Länder in den Bildungsrankings.

Gleichwohl schauen Bürgerinnen und Bürger auf den vor uns liegenden Wandel mit Erwartung und Befürchtung. Sie erwarten, dass die Herausforderungen klug gemeistert werden. Statt Klein-Klein, bei dem am Ende Wichtiges versäumt und die Kosten ungerecht aufgeteilt werden, soll es einen umfassenden Ansatz geben. Befürchtet wird, dass der seit 1990 erarbeitete bescheidene Wohlstand in Frage gestellt und gewonnene Sicherheiten verloren gehen.

Die demographische Entwicklung am Arbeitsmarkt stellt öffentliche Verwaltung und private Wirtschaft vor die größte Herausforderung seit 1989. Zwischen 2020 und 2037 verringert sich das Arbeitskräftepotenzial im Freistaat aufgrund des Renteneintritts um rund 297.000 Personen. Im öffentlichen Dienst des Landes und der Kommunen scheidet damit fast jeder zweite Beschäftigte in diesem Zeitraum aus.

Darin zeigt sich einerseits deutlich: die Nachwendezeit ist abgeschlossen. Wer sozialversicherungspflichtig arbeiten und zügig aufsteigen will, muss nicht mehr aus Thüringen abwandern, sondern hierbleiben oder zuwandern. Die Arbeitskräftelücke ist Realität. Investitionen in gute Bildung sind wichtiger denn je.

 

Nachhaltige Industrie- und Mobilitätspolitik

Gemeinsam und parteiübergreifend konnte die Standortgarantie für OPEL Eisenach erneuert werden. Das ist ein Erfolg. Sichtbar wurde in dieser Auseinandersetzung gleichwohl die Vulnerabilität der Automobil- und Zuliefererindustrie in Thüringen. Die rot-rot-grüne Koalition hat hierzu – wiederum mit Unterstützung der CDU – ein Handlungspaket auf den Weg gebracht, um die Transformation im Freistaat zu gestalten. Die Automotive Agenda wurde ins Leben gerufen und wird umgesetzt. Bei der Landesentwicklungsgesellschaft Thüringen (LEG) nahm die Transformationsagentur Automotive ihre Arbeit auf und setzte bislang mehr als 20 Vorhaben um, darunter 17 betriebliche und 3 überbetriebliche Transformationsprojekte.

Seit 2017 fördert das Umweltministerium neben dem Kauf von E-Bussen auch den Umbau von Depots und Werkstätten sowie die Erstellung von Machbarkeitsstudien. In sieben Regionen fahren aktuell 24 Elektrobusse. Bald werden es 30 sein. Und dies ist nur der Anfang einer vollständigen Umstellung des öffentlichen Busverkehrs auf Elektro-Antrieb. Dafür müssen die Regionalisierungsmittel eingesetzt und vom Bund erhöht werden.

Mit dem Thüringer Innovationszentrum Mobilität (ThIMo), das an der Technischen Universität Ilmenau angesiedelt ist, verfügt der Freistaat seit über zehn Jahren über ein international renommiertes Wissenschaftszentrum für Mobilitätsforschung. Gemeinsam mit der Stadt Gera können von hier aus wichtige Impulse gesendet werden. .

Am Erfurter Kreuz wird das Batterie-, Innovations- und Technologie-Center mit Hilfe von Fördermitteln aus dem Thüringer Wissenschaftsministerium zu einem Forschungscampus erweitert. Entstehen wird ein Anwendungszentrum für industrielle Wasserstoff-Technologien.

In Sonneberg erfolgte der Spatenstich für ein wirtschaftsnahes Forschungsinstitut, um die Prototypen der Wasserstoffnutzung in die serielle Anwendung zu überführen.

Thüringen war in seiner Geschichte stets ein Land der Innovation. Eine kleinräumige Wirtschafts- und Industriestruktur mit weltweiter Wirkung. Dies ist das Fundament unserer nachhaltigen Industriepolitik und guter Arbeit, wie der Ministerpräsident in seiner jüngsten Regierungserklärung ausführte, aus der vorstehende Beispiele zitiert sind.

 

Kluge Haushaltspolitik baut vor.

Die haushaltspolitischen Entscheidungen dieses Jahres sind deshalb wichtige Weichenstellungen. Für die Bewältigung der vor uns liegenden Herausforderungen. Und für das notwendige Vertrauen der tüchtigen Leute, die sich anstrengen, der Ehrenamtlichen die unsere Gesellschaft gestalten und prägen sowie die Verantwortungsträger in Kommunen, Wirtschaft und Gesellschaft.

Sowohl für die vergangene als auch die laufende Wahlperiode formulierte die rot-rot-grüne Landesregierung als Leitlinie ihrer Haushalts- und Finanzpolitik den Dreiklang aus einer stabilen Investitionsquote, finanzieller Vorsorge und konsequenter Schuldentilgung.

Bei sehr unterschiedlicher Bewertung der drei Parteien hinsichtlich der Vor- und Nachteile einer Schuldenbremse waren sich die drei Partner einig, dass die langanhaltende Phase stark gestiegener Steuereinnahmen gute Rahmenbedingungen schuf. Staatsschulden konnten zunächst getilgt bzw. mit dem Ziel der Senkung von Zinsausgaben umgeschuldet werden. Es wurden finanzielle Rücklagen aufgebaut und gleichzeitig offensiv in die Modernisierung der Infrastruktur, Bildung und Wissenschaft sowie den Klimaschutz investiert. Zusätzliche Mittel wurden für den sozialen und regionalen Zusammenhalt, die Nachhaltigkeit und öffentliche Sicherheit bereitgestellt.

Dieser Paradigmenwechsel war nötig, weil Thüringen im Vergleich zu den anderen ostdeutschen Ländern in 2014 noch eines der höchsten Schuldenkonten aufwies, was zu Lasten kommender Generationen immer mehr Entscheidungsspielräume einengen würde, wenn wir nicht konsequent tilgen, vorsorgen und zielgerichtet investieren würden.

Über den Zeitraum seit Ende 2014 wurden deshalb erstmals seit Wiedergründung des Freistaates keine neuen Kredite aufgenommen. Allein in den Jahren 2017 und 2018 erfolgte – ausweislich des Stabilitätsberichts 2019 – eine Nettotilgung in Höhe von 272,7 Mio. EUR. Insgesamt wurden in der vergangenen Wahlperiode über 1,1 Mrd. EUR Altschulden getilgt und die Staatsschuld Thüringens erstmals seit 2004 auf den Wert von unter 15 Mrd. EUR zurückgeführt. Zusätzlich erfolgt auf Basis des Thüringer Nachhaltigkeitsmodells eine gesetzlich fixierte, planmäßige Schuldentilgung. Darüber hinaus konnte – trotz Rücklagenentnahme bereits in den Vorjahren – eine umfangreiche Haushaltsreserve gebildet werden. Zielgerichtet wurden kommunale Investitionspauschalen in Höhe von 100 Mio. EUR als auch das Thüringer Zukunftsprogramm im Umfang von 275 Mio. EUR für die Jahre 2018/2019 auf den Weg gebracht für Investitionen in Umwelt, Infrastruktur, Digitalisierung und Kultur.

Diese vorausschauende und im besten Sinne des Wortes antizyklische Haushalts- und Finanzpolitik der drei Parteien DIE LINKE, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im Freistaat trugen zum Werterhalt öffentlicher Infrastruktur bei. Sie schuf den Rahmen dafür, dass im Rückgriff auf die gebildeten Haushaltsreserven der Vorjahre noch vor Ausbruch der Corona-Pandemie 560 Mio. EUR für kommunale Investitionen freigegeben und die bisherigen Maßnahmen zum Bewältigen der Corona-Krise gemeinsam mit den vom Bund kurzfristig bereitgestellten Soforthilfen abgefedert werden konnten.

So konnten die Corona-bedingten kommunalen Mindereinnahmen und Mehrausgaben der Kommunen mit zusätzlichen Landesmitteln ausgeglichen werden:

  • Bereits im vergangenen Jahr wurden 182,5 Mio. Euro   zur Kompensation rückläufiger Gewerbesteuereinnahmen bereitgestellt und 85 Mio. Euro allgemeine Stabilisierungszuweisungen wurden ausgereicht.
  • Im laufenden Jahr schnürte der Landtag unter anderem ein 200 Mio.-Euro-Paket für alle Kommunen, für die Kur- und Erholungsorte sowie den Kulturlastenausgleich.

Für das Corona-Sondervermögen war eine erneute Kreditaufnahme in Höhe von einer Milliarde Euro nötig. Die solide Haushaltspolitik der Vorjahre zahlt sich nun aus. Thüringen ist grundsätzlich in der Lage, in die Zukunftsfähigkeit des Freistaates zu investieren.

 

Unsichere Perspektiven erfordern Umdenken und Handeln: die Schuldenbremse lockern.

Die Geschwindigkeit der wirtschaftlichen Erholung nach dem Ausbruch der Corona-Pandemie überraschte viele Beobachter:innen. Der Welthandel folgte einer V-Entwicklung statt dem befürchteten langen U. Im November2020 lag er bereits wieder über dem Vorkrisenniveau. In Deutschland wiederum sank das reale Bruttoinlandsprodukt - trotz einer Erholung im vergangenen Jahr - um 1,5 Prozent über zwei Jahre betrachtet. Die privaten Investitionen liegen bislang noch zwei Prozent unter dem Vorkrisenniveau, wie das Institut der deutschen Wirtschaft in Köln ermittelte.

Welche Wirkungen der Ukraine-Krieg und die Russland-Sanktionen haben, darüber gibt es noch wenige und nicht eindeutige Erkenntnisse der Wirtschaftswissenschaft. Inflations-Szenarien halten Preissteigerungen in Höhe von fünf oder sechs Prozent für nicht unwahrscheinlich. Beim Bruttoinlandsprodukt wird es vielleicht nur ein Wachstum von zwei oder drei Prozent sein, statt wie bislang erwartet vier Prozent. Angenommen wird zumindest derzeit, dass es keine Rezession geben wird, da die Auftragsbestände hoch sind und die Weltwirtschaft nicht von Russland abhängig ist. Wahrscheinlicher als eine Rezession erscheint wiederum manchen Beobachter:innen eine Stagflation, also eine stagnierende Wirtschaft bei kräftig steigenden Preisen. Gegen die Stagflation sprechen – zumindest derzeit – die niedrige Arbeitslosigkeit und die ausgebliebene Insolvenzwelle.

Dennoch: Die aktuellen Entwicklungen ausgehend vom Krieg in der Ukraine, der damit verbundenen problematischen Energieversorgung (mit exponentiell steigenden Energiekosten), sich bereits abzeichnende Unterbrechungen von Lieferketten und einem im Ergebnis stagnierenden Wirtschaftswachstum bedeuten für die Haushaltsplanung 2023 und 2024 erhebliche Risiken.

Gleichwohl stellte die Corona-Krise in Folge der durch den Lockdown verursachten Einbrüche in der Wirtschaftsleistung und der Steuereinnahmen die bisherigen Annahmen unserer Haushalts- und Finanzplanung - ähnlich einer Naturkatastrophe – in unvorhergesehener Intensität auf den Kopf. Der Ukraine-Krieg verlängert diese Katastrophen-Situation in dem Moment, in dem die Pandemie sich zur Endemie zu entwickeln schien.

Es kommt darauf an, sie wieder auf langfristig tragende Füße zu stellen: durch konsequent antizyklisches Handeln die soziale, ökologische und digitale Modernisierung von Infrastruktur, Bildung, Kommunen und Wirtschaft fortzuführen und auf die neuen Sicherheitsanforderungen reagieren zu können.

Die jetzige Situation erfordert ein Umdenken. Je eher wir klug investieren, umso besser. Das erfordert Mut und Bewegung raus aus den ideologischen Gräben rein in die Debatte über eine Schuldenbremse 2.0, die mit einem Update für Zukunftsinvestitionen aktualisiert wird. Wir können nicht einfach beim Mantra „Schulden ohne Sühne?“ stehen bleiben.

Der weitgehende, bei den Bundesländern im konjunkturellen Normalfall sogar vollständige, Verzicht auf öffentliche Verschuldung ist insbesondere angesichts der aktuellen Zinskonstellationen und des erheblichen Investitionsbedarfs generell fragwürdig.

Jedoch bewegt sich, trotz aller Anstrengungen der vergangenen Jahre, seit der Jahrtausendwende die Investitionsquote in Deutschland konstant – das heißt über alle Konjunkturzyklen und Krisen hinweg – unter dem Durchschnitt der OECD-Länder. Die Nettoanlageinvestitionen von Bund, Ländern und Gemeinden lagen im selben Zeitraum ebenfalls überwiegend im negativen Bereich, was nichts anderes heißt, als dass der Staat die Infrastruktur auf Verschleiß fährt. Die chronische Investitionsschwäche in Europa und insbesondere in Deutschland ist die Schattenseite der ausgeprägten Fokussierung auf die „schwarze Null“ in den öffentlichen Haushalten.

Hinzu kommen Einsparungen in den für Hoch- und Tiefbau zuständigen Behörden der Länder, die dazu führten, dass Investitionsmittel nur langsam abfließen konnten und öffentliche Baumaßnahmen vielfach verspätet und deutlich teurer als geplant fertiggestellt werden konnten.

Seit langer Zeit auf dem Tisch liegende Vorschläge, wie die Anwendung der „goldenen Regel“ der Fiskalpolitik wurden bislang nicht so umgesetzt, dass sie in den Regelungen des Bundes und der Länder zur Schuldenbremse berücksichtigt worden sind. Nach dieser Regel würden Nettoinvestitionen durch Kredite finanzierbar sein, während die anderen im öffentlichen Haushalt durchzuführenden Aufgaben ohne Anleihen über laufende Einnahmen gedeckt werden müssten. Dahinter steckt die Überzeugung, dass öffentliche Investitionen positive wirtschaftliche Wirkungen entfalten und die Ertragslage öffentlicher Investitionen eine Kreditfinanzierung dieser investiven Ausgaben rechtfertigen würde.

Der Bund kann durch das Gründen neuer Investitionsgesellschaften und das Schaffen eines Bundesinvestitionsfonds mit einem jährlichen Volumen von 35 Milliarden Euro die grundgesetzlich fest geschriebene Schuldenbremse erweitern. Diese Regelung muss auch für die Länder anwendbar sein und die Schuldenbremse vernünftig gelockert werden, damit der Motor der gesellschaftlichen Entwicklung nicht abgewürgt wird, wenn es vorwärts gehen muss.

 

Auf Sicht fahren und nötige Handlungsfähigkeit sichern.

Es zeigt sich: Ins Straucheln geraten wir immer dann, wenn statt pragmatischem und vorausschauendem Handeln parteipolitische Taktik oder Ideologie zur Stolperfalle wird.

Obwohl Thüringen nach aktuellem Stand über eine Haushaltsrücklage in Höhe von rund 1,5 Milliarden Euro verfügt, hat die CDU-Opposition als Preis für die Zustimmung zum Haushalt eine Globale Minderausgabe in Höhe von 330 Millionen Euro durchgesetzt. Die Finanzministerin hat dafür das Gleichnis verwendet, dass Thüringen über eine gut gefüllte Scheune verfüge aber die CDU den Schlüssel weggeworfen habe.

Dass die Globale Minderausgabe erbracht wird, steht außer Frage. Denn in allen öffentlichen Haushalten, ob Bund, Länder oder Kommunen werden nicht alle Ausgabenplanungen umgesetzt.

Doch statt am Ende des Jahres zu prüfen, wieviel Geld übrig blieb und dieses Geld sinnvoll einzusetzen, werden nun trotz Haushaltsüberschuss Einsparungen bei Investitionen und Förderprogrammen erbracht werden müssen. Wie kurzsichtig diese Haltung der CDU – ausgedrückt in der Aussage des CDU-Fraktionsvorsitzenden Mario Voigt: „Die CDU-Fraktion hat Rot-Rot-Grün zum Sparen gezwungen“ – ist, zeigt sich in der aktuellen Ukraine-Krise. Unmittelbares Handeln ist notwendig. Stehen dafür die notwendigen Spielräume nicht zur Verfügung, weil der Integrationsminister aufgrund der Globalen Minderausgabe Integrations-Vereinen die nötigen Mittel nicht bewilligen kann, sinkt das Vertrauen in die Politik insgesamt.

Wiederholen lässt sich die Operation Globale Minderausgabe in den kommenden Jahren nicht. Der Preis wäre nicht mehr und nicht weniger als der Substanzverlust öffentlichen Eigentums. Jede Investition die heute verschoben wird, ist wertmindernd und wird uns künftig teuer zu stehen kommen.

Nötig sind vielmehr Planungsbeschleunigungen einerseits bei Investitionssicherheit andererseits. Insbesondere um nun auf die Herausforderungen des Ukraine-Krieges, die Unterbringung, Versorgung und Integration in Bildung, Ausbildung und Arbeit der Kriegsflüchtlinge zu reagieren.

Die rot-rot-grüne Koalition beabsichtigte einen Doppelhaushalt für die Jahre 2023 und 2024 aufzustellen. Dies wurde angesichts der anhaltenden Inflation, den enorm gestiegenen Preisen für Energie aber auch im Bausektor aufgrund gestörter Lieferketten als sinnvoll erachtet, um der öffentlichen Hand und der privaten Wirtschaft langfristige Gewissheiten zu gewähren.

Angesichts des Ukraine-Kriegs, der damit verbundenen derzeit noch unabsehbaren Folgewirkungen für die weltweite Wirtschaft, die Zuwanderung nach Deutschland und die Integrationsaufgaben ebenso wie die Herausforderungen der Energiesicherheit und des Zivilschutzes hat sich die Koalition entschieden, umzusteuern. Wenn externe Rahmenbedingungen so massiv wirken und längerfristige Planungssicherheit unterbinden, ist es besser auf Sicht zu fahren.

Die Aufstellung von zwei Einzelhaushalten wird allen Beteiligten innerhalb der Ressorts, dem Parlament und den Zuwendungsempfänger:innen viel abverlangen. Denn die Mühen der Ebene eines Haushaltsaufstellungs- und Beschlussfassungsprozesses sind zweimal zu durchlaufen – unter den Bedingungen einer Minderheitskoalition und Minderheitsoppositionen.

Den politischen Akteur:innen stellt sich damit die Herausforderung, klug zu agieren. Das Verständnis für einen Streit um parteitaktische Geländegewinne der Minderheitskoalition oder der CDU dürfte ebenso gering sein wie für die generelle Ablehnung konstruktiver Mitarbeit an der Mehrheitsfindung seitens der vier FDP-Abgeordneten. Kluge und vorausschauende Gestaltungspolitik wird den demokratischen Parteien abverlangt. Niemand hätte Verständnis dafür, wenn CDU und FDP Ende des Jahres 2023 – mit Blick auf die kommende Landtags- und Kommunalwahl 2024 - keine Kompromisse mit Rot-Rot-Grün zu schließen bereit wären oder unerfüllbare Bedingungen stellen. Im März 2022 ebenso wie im Dezember 2023 gilt: Erst das Land, dann die Parteien.

 

(Fassung: 08. März 2022)                         * * *

 

* Benjamin-Immanuel Hoff (DIE LINKE) ist Chef der Thüringer Staatskanzlei und Minister für Kultur, Bundes- und Europaangelegenheiten

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