04.10.2021

Was Thüringen von Schweden lernen könnte

Minderheitsregierung Auch ohne Mehrheit stabil zu regieren, ist in Skandinavien politisch-kulturell und institutionell verankert. Für hiesige Verhältnisse könnte dies lehrreich sein

Blogbeitrag für www.freitag.de, erschienen am 01.10.2021, https://www.freitag.de/autoren/benjamin-immanuel-hoff/was-thueringen-von-schweden-lernen-koennte

In wenigen Wochen wird der Thüringer Landtag in erster Lesung den Entwurf des Haushalts für das Jahr 2022 der rot-rot-grünen Minderheitsregierung beraten. Anders als im Vorjahr gab es vor diesen parlamentarischen Beratungen keine Absprachen über eine verbindliche Beschlussfassung des Etats. Im Freistaat, der seit Herbst 2019 wahlweise als Labor oder als Tollhaus wahrgenommen wurde, beginnt damit ein weiterer spannender Abschnitt politischer Entscheidungsfindung.

Ein Blick zurück: Bei der Landtagswahl 2019 verlor die rot-rot-grüne Koalition ihre bis dahin bestehende Ein-Stimmen-Mehrheit, mit der sie seit 2014 regierte. Die Minderheitskoalition aus LINKE, SPD und Grünen verfügt zwar über 42 Mandate ist aber auf vier zusätzliche Stimmen angewiesen. Die demokratische Minderheitsopposition besteht aus der CDU-Fraktion (21 Sitze) und der inzwischen durch den Austritt einer Abgeordneten zur parlamentarischen Gruppe geschrumpften FDP (4 Sitze). Die extrem rechte Minderheitsopposition der AfD vereinigt 22 Mandate auf sich.

Am 5. Februar 2020 wurde der FDP-Politiker Thomas L. Kemmerich mit den Stimmen der CDU und der FDP aber auch der AfD zum Ministerpräsidenten gewählt. Er trat kurze Zeit später aufgrund massiver Proteste über diesen Coup und die Unterstützung durch die rechtsextreme AfD vom Amt zurück. Am 4. März 2020 wurde der rot-rot-grüne Kandidat Bodo Ramelow erneut das Amt des Ministerpräsidenten gewählt. Im entscheidenden dritten Wahlgang enthielt sich die Fraktion der CDU. Die FDP-Fraktion nahm an der Abstimmung nicht teil und enthielt und sich in dieser ungewöhnlichen Form ebenfalls.

Die rot-rot-grüne Koalition hatte sich vorher mit der CDU auf einen zeitlich bis zur Einleitung von Neuwahlen befristeten „Stabilitätsmechanismus“ verständigt. Dieser Mechanismus, der faktisch eine Tolerierung der Koalition durch die CDU beinhaltete, wurde Corona-bedingt einmalig verlängert, nach dem die für April 2021 vorgesehene Landtagsneuwahl nicht durchgeführt werden konnte.

Obwohl sich CDU und rot-rot-grün auf vorgezogene Neuwahlen verständigt hatten, kam die dafür notwendige Zweidrittel-Mehrheit zur Auflösung des Landtages nicht zustande. Die Wahlperiode wird nun voraussichtlich bis zu ihrem regulären Ende 2024 fortgeführt wird.

Unter den sehr spezifischen, turbulenten und bis in die Bundespolitik hineinreichenden Thüringer Verhältnissen zeigten die demokratischen Parteien am 4. März 2020 und mit dem „Stabilitätsmechanismus“ ein für Deutschland ungewöhnliches Verhaltensmuster. Die Konsensorientierung einerseits in Verbindung mit auf Enthaltung abzielenden Handlungsmustern andererseits lehnten sich mehr oder weniger unbewusst an skandinavische Politikgestaltung an. Es lohnt sich deshalb, diese in Nordeuropa gesammelten Erfahrungen bewusst zu betrachten, um ihre Adaption für Thüringen zu überprüfen.

 

Minderheitsregierungen – in Deutschland ungeliebt und woanders der Normalfall

Minderheitsregierungen sind in Europa keine Ausnahme. Doch die politischen Kulturen und die darauf aufbauenden verfassungsrechtlichen Grundlagen sind sehr unterschiedlich. Sie unterstützen oder beschränken die Handlungsmöglichkeiten solcher Regierungsformen.

Die überwiegende Mehrheit der europäischen Länder mit Erfahrungen aus Minderheitsregierungen sieht diese – wie in Deutschland – als eine Ausnahme vom Regelfall. Minderheitsregierungen in diesen Ländern bestanden zumeist nicht über den Zeitraum einer ganzen Wahlperiode und stützten sich auf die Tolerierung durch Oppositionsfraktionen oder einzelner Abgeordneter.

Die Diversifizierung der gesellschaftlichen Milieus und die wachsende Zahl von Parteien, denen der Einzug in die Parlamente unabhängig von den unterschiedlichen Sperrklauseln gelingt, dürfte wie u.a. in Thüringen dazu führen, nach denjenigen Stabilisatoren zu schauen, die eine kontinuierliche Regierungsarbeit auch in der Minderheit ermöglichen.

In den skandinavischen Ländern Dänemark, Norwegen und Schweden bestehen langjährige Erfahrungen mit Minderheitsregierungen, die weniger Ausnahme als vielmehr den Regelfall darstellen. Trotz eines auf Parteienwettbewerb ausgerichteten politischen Systems und spürbaren Unterschieden in den politischen Lagern gilt eine pragmatische und konsensorientierte politische Kultur als wesentlicher Stabilisator der Tätigkeit von Minderheitsregierungen. Diese Orientierung am Konsens, die sich unter anderem in normativ abgesicherten aber auch ungeschriebenen Verfahren abbildet, wird freilich von rechtspopulistischen Parteien, die auch in diesen Ländern relevanten Einfluss gewonnen haben, infrage gestellt.

 

Positive Effekte des "negativen Parlamentarismus"

Gleichwohl lohnt es sich, die verfahrensmäßigen Stabilisatoren in den Blick zu nehmen. Wesentlicher Unterschied zwischen Deutschland und den skandinavischen Ländern besteht im sogenannten positiven bzw. negativen Parlamentarismus. Der Unterschied lässt sich anhand der Thüringer Ministerpräsidentenwahl gut beschreiben.

Die Minderheitskoalition aus LINKE, SPD und Grünen verfügt über 42 Landtagsmandate. Nötig für die Wahl von Bodo Ramelow waren 46 Stimmen im ersten und zweiten Wahlgang. Stimmenthaltungen wirken sich nach diesem Muster wie Neinstimmen aus. Allein im dritten Wahlgang reicht die einfache Mehrheit der abgegebenen Stimmen. Durch diese einfache Mehrheit gelangte Ramelow am 5. März 2020 wieder ins Amt. Negativer Parlamentarismus geht vom entgegengesetzten Ansatz aus. Eine Regierung kommt ins Amt bzw. bleibt im Amt, bis eine parlamentarische Mehrheit dies ablehnt.

Die Thüringer Verhältnisse skandinavisch gewendet hätten im Winter 2019/2020 bedeutet, dass nach Sondierungen der Parteien die rot-rot-grünen Partner eine Minderheitskoalition gebildet hätten, da sich andere Parteien nicht auf eine Koalition verständigen konnten bzw. wollten. In der pragmatisch-konsensualen politischen Kultur Skandinaviens hätten CDU und FDP bei der Wahl des Ministerpräsidenten am 5. Februar 2020 mit Enthaltung votiert, womit der Kandidat der Koalition ins Amt gewählt worden wäre, da keine Mehrheit gegen ihn zustande gekommen wäre.

Die FDP, die sich bei der Wahl am 4. März 2020 durch Nichtteilnahme am Wahlvorgang (alle Abgeordneten blieben beim Wahlaufruf ihres Namens am Platz sitzen) enthielt, erntete damals Empörung. Ebenfalls die CDU, deren Abgeordneten sich allesamt enthielten. Aus der hier eingenommenen Betrachtung verhielten sie sich quasi „schwedisch“ – auch wenn dies für den ersten und zweiten Wahlgang keine Wirkung hatte.

Zum sogenannten negativen Parlamentarismus gehört auch, dass das Parlament über die Kompetenz verfügt, durch ein Misstrauensvotum die/den Ministerpräsident:in oder aber auch einzelne Kabinettmitglieder abzusetzen. Eine Wahl bzw. Abwahl der Kabinettmitglieder sah beispielsweise die Verfassung des Landes Berlin bis in die 2000er Jahre vor, wurde aber zwischenzeitlich abgeschafft.

 

Haushalts- und Gesetzgebung in Schweden

Ebenso wie in Deutschland und den 16 Bundesländern übermittelt die Regierung in Stockholm den Haushaltsentwurf im Herbst dem dortigen Reichstag.

Mit Blick auf die regelmäßig auftretende Situation einer Minderheitsregierung legt der Finanzausschuss auf Basis eines Berichts zunächst eine Ausgabenobergrenze für den Gesamthaushalt und die ihn umfassenden Einzelpläne fest. Zu diesem Finanzrahmen wird durch die Fachausschüsse Stellung genommen. Anschließend wird er im Parlament beschlossen.

Die eigentlichen Haushaltsberatungen beginnen danach und es werden Finanzmittel in diesem Rahmen umverteilt werden – oder nicht. Der Haushaltsausschuss bezieht auch dabei die Vorschläge aus den Fachausschüssen ein. Abschließend entscheidet das Parlament mit Mehrheit.

Hierbei ist es wiederum üblich, dass die jeweiligen Fraktionen für ihre eigenen Vorschläge stimmen und sich bei den Vorschlägen anderer Fraktionen enthalten. Dies kann im Einzelfall durchaus bedeuten, dass auch Vorschläge der Opposition aufgenommen werden. Ein im Übrigen zwar seltenes aber auch in der deutschen Praxis nicht unübliches Phänomen. Die Zustimmung zum Haushalt der Minderheitskoalition wird gewährleistet, dass keine Mehrheit gegen den Etatentwurf zustande kommt.

Stets unter der Maßgabe, dass das Parlament Gesetze mit Mehrheit der abgegebenen Stimmen beschließt, wobei die Fraktionen eigenen Anträgen zustimmen und sich bei anderen Anträgen enthalten, kennt Schweden zwei weitere interessante Verfahren, die nicht unerwähnt bleiben sollen:

(1) Die Eliminierungsmethode: Bei Themen wo mehrere Vorschläge zur Auswahl stehen, wird zunächst ein Hauptvorschlag bestimmt. Die weiteren Vorschläge werden in einem sogenannten Eliminierungsverfahren abgestimmt. Jeweils zwei der Vorschläge werden alternativ zueinander abgestimmt und dadurch ausgesiebt. Am Ende wird der verbliebene Vorschlag gegen den Hauptvorschlag abgestimmt. Erhält einer der Vorschläge, also auch im Einzelfall der Opposition, in der Eliminierungsrunde die Mehrheit der abgegebenen Stimmen ist er unmittelbar angenommen, der Hauptvorschlag und alle anderen Vorschläge sind erledigt. Ansonsten wird solange abgestimmt, bis ein Vorschlag die Mehrheit findet. Auf diesem Wege wäre bei den derzeit ungeklärten Fragen der Abstandsregelungen von Windkraftanlagen zu Gemeinden oder dem Repowering alter Anlagen in Thüringen möglicherweise bereits eine Lösung gefunden worden.

(2) Das Konsensgesetzgebungsverfahren wiederum zielt darauf ab, bei komplexen Themen zunächst eine zeitlich befristete Regierungskommission einzusetzen, die zu dem Thema einen Bericht und Vorschlag unterbreitet. Dieser Bericht wird im zweiten Schritt einem Beteiligungsverfahren unterzogen, bei der alle vom Vorschlag betroffenen Institutionen angehört werden. Auf dieser Grundlage erst wird der Regierungsvorschlag erarbeitet, bei dem darauf abgezielt wird, möglichst die verschiedenen Positionen in den Entwurf aufzunehmen, also einen Konsens zu ermöglichen. Die Parlamentsausschüsse hören zum Gesetzentwurf erneut an. Wird im Ausschuss eine Übereinstimmung erzielt, wird zumeist im Plenum ohne Aussprache und per Akklamation abgestimmt, ansonsten nach der beschriebenen Eliminierungsmethode. Länger als im deutschen Gesetzgebungsverfahren, bei dem es ebenfalls ein dem Parlament vorgeschaltetes „Referentenentwurf“-Verfahren gibt, der aber nicht so konsensual-partizipativ ausgestaltetet ist, dauert das schwedische Verfahren nicht. Es zeigt sich hingegen die Bindungswirkung eines solchen auf gesellschaftlichen und politischen Konsens orientierten Gesetzgebungsprozesses. Auch hier ließen sich verschiedene Thüringer Themen finden, die auf diesem Wege bearbeitet werden könnten.

 

Was Thüringen – nicht nur für die kommenden Haushaltsberatungen – lernen könnte

Aus heutiger Sicht wird die laufende Wahlperiode des Thüringer Landtags bis zu ihrem regulären Ende 2024 fortgeführt. Eine andere als die rot-rot-grüne Minderheitskoalition ist zumindest für die Dauer dieser Wahlperiode nicht in Sicht. Die Rollen von einerseits regierungstragender Koalition und andererseits der demokratischen Opposition, die das Ziel der Ablösung der Regierung verfolgt, sind dadurch verteilt.

Wenn in dem hier vorgenommenen Gedankenspiel die Implementierung von skandinavischen Verfahrensregelungen aber mehr noch Prinzipien einer politischen Kultur, die auf Stabilität und Konsens bei Aufrechterhaltung des Parteienwettbewerb orientieren, geprüft wurde, liegt auf der Hand, dass dies nicht 1:1 funktioniert. Praktische Politik ist eben kein theoretisches Modell oder ein sozialwissenschaftlicher Idealtyp.

Dennoch sollte nicht leichtfertig abgewunken werden. Die Etablierung einiger der hier vorgestellten skandinavischen Grundprinzipien in die politische Kultur des Freistaates Thüringen könnte dafür Sorge tragen, dass Verlässlichkeit der politischen Akteur:innen auf der einen Seite durch wiedergewonnenes Institutionenvertrauen auf der anderen Seite honoriert wird.

Da Kommunen, Wirtschaft und Zivilgesellschaft auf die Planungs- und Investitionssicherheit rechtzeitig in Kraft tretender Haushaltspläne ebenso angewiesen sind wie auf die reibungslose Gewährleistung aller staatsleitenden Handlungen, sollten die demokratischen Akteur:innen durch Verlässlichkeit dafür Sorge tragen, dass nicht jede entsprechende Abstimmung zu einer Zitterpartie wird.

In Thüringen werden gemeinhin Haushaltsentwürfe für ein Jahr oder für den Zeitraum von zwei Jahren, sogenannte Doppelhaushalte, aufgestellt. Die Haushaltsjahre entsprechen dabei Kalenderjahren. Tritt ein Haushalt nicht zum Beginn des Kalenderjahres in Kraft, wird bis zum Inkrafttreten eine vorläufige Haushaltswirtschaft wirksam, die nur begrenzte Ausgaben ermöglicht. Notwendig für die Beschlussfassung des Haushaltes ist, wie bei allen Gesetzen, die Mehrheit der bei der Abstimmung anwesenden Abgeordneten.

Ein parlamentarisches Abstimmungsmuster, in dem – insbesondere beim Haushaltsgesetz – die beiden oder wenigstens eine der demokratischen Oppositionsparteien bzw. einzelne ihrer Abgeordnete jeweils für ihre eigenen Fraktionsanträge bei Enthaltung zu anderen Anträgen stimmen, ist weniger undenkbar als man glaubt.

Es wäre vielmehr die logische Konsequenz aus der Entscheidung sowohl aller FDP-Abgeordneten als auch vier der 21 CDU-Abgeordneten einerseits und wenigstens zwei der linken Abgeordneten andererseits, der Auflösung des Landtages nicht zuzustimmen.

Wer für die Verlängerung der dreifachen Minderheit im Landtag durch Ausbleiben einer möglicherweise für Klärung sorgenden Landtagswahl Verantwortung übernimmt, trägt auch die Verantwortung für stabile politische Verhältnisse. Dies umzusetzen erfordert freilich neues Denken auf Grundlage auch anderswo gesammelter Erfahrungen und geübter Praxen.

Die Festlegung einer Haushaltsobergrenze am Beginn der Landtagsberatung 2021 könnte vermeiden, dass die Haushaltsberatungen über den Etat 2022, das Haushaltsvolumen limitieren und zum Beispiel Umschichtungen vorrangig innerhalb und nicht zwischen den Einzelplänen vorgenommen werden.

Wie die jüngste Bundestagswahl und die parallel durchgeführten Wahlen zum Landtag Mecklenburg-Vorpommern und Abgeordnetenhaus von Berlin zeigen, sind auch in einem vielfältiger werdenden Parteiensystem, in dem wenigstens fünf bis sechs Parteien vertreten sein können, auch Mehrheitskoalitionen aus zwei oder drei Parteien möglich. Ein Naturgesetz sind solche Mehrheiten wiederum nicht.

Deshalb wäre es wichtig insbesondere in der politischen Kultur aber auch in den normativen Regelungen, seien es die Geschäftsordnungen der Parlamente oder wenn nötig auch in den verfassungsrechtlichen Regelungen, Vorkehrungen zu schaffen, um auch in Zeiten einer Minderheitsregierung zu stabilen und verlässlichen Entscheidungen zu kommen, die Institutionsvertrauen nicht in Frage stellen.

Die skandinavischen Länder haben solche Vorkehrungen getroffen. Thüringen könnte in den kommenden drei Jahren zeigen, wie die Adaption einiger dieser Regelungen die politische Kultur fördert, den überparteilichen Diskurs verbessert und stabile Verhältnisse gewährleistet. Dazu beitragen könnte eine Orientierung am negativen Parlamentarismus ebenso wie eine konsensorientierte Gesetzgebungspraxis, die auf die Integration von Vorschlägen abzielt, die nicht allein dem eigenen Wunsch und Lagerdenken entsprechen.