Regierungserklärung zum Thüringen-Monitor 2020, 22.4.2021

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

als am Abend des 20. April 2000 drei Neonazis einen Brandanschlag auf die Erfurter Synagoge verübten, hinterließen sie ein Bekennerschreiben mit dem Inhalt: „Dieser Anschlag basiert auf rein antisemitischer Ebene. Heil Hitler. Die Scheitelträger.“

Hier im Plenum des Landtags sitzen eine Reihe von Abgeordneten und Mitgliedern der Landesregierung, deren Kinder zum Zeitpunkt des Anschlags von Erfurt noch gar nicht oder gerade geboren waren. Diesen Kindern, einige von ihnen bereits Jugendliche, erscheint der Brandanschlag auf die Erfurter Synagoge wie ein Ereignis aus dem Geschichtsbuch.

Doch Geschichte endet nicht und Ereignisse können sich, wenn auch nicht als Kopie, wiederholen. Am 9. Oktober 2019 versuchte der Rechtsextremist Stephan B. schwer bewaffnet in die Synagoge von Halle einzudringen.

Sein antisemitisch motiviertes Ziel war die Ermordung möglichst vieler Jüdinnen und Juden an Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag. Motiviert durch die Öffentlichkeit der sogenannten sozialen Netzwerke wollte er breiteste Wahrnehmung für seine Taten. Zwei Menschen ermordete Stephan B.

Zwei von wenigstens 200 Opfern rechter Gewalt, die seit 1990 in Deutschland zu beklagen sind.

Kein tödlicher rechter Anschlag, keine rechtsextreme Straftat war oder ist ein Einzelfall. Den Brandanschlag auf die Erfurter Synagoge, die rechtsextremistischen Straftaten des NSU, die Ausschreitungen in Hoyerswerda (1991) und Rostock-Lichtenhagen (1992), die Mordanschläge in Solingen und Mölln, Halle-Saale oder Hanau als Einzelfälle zu bezeichnen ist nicht nur eine Verharmlosung des Rechtsextremismus.

Die Einzeltäter- und Einzelfall-These verstellt bewusst oder unbewusst den Blick dafür, dass die rechte Szene in Deutschland militant und gewalttätig ist. Diese Szene verfügt über eine aktive Unterstützerschaft – egal ob im digitalen oder im physischen Raum, ob in Springerstiefeln oder repräsentiert durch Tweet-Sakko und Hundekrawatte.

Am Montag veröffentlichte die FAZ Auszüge aus dem Buch von Justus Bender „Der Plan. Strategie und Kalkül des Rechtsterrorismus“. Ich darf daraus zitieren: „Nach jedem Mord durch Rechtsterroristen wird die Tat verurteilt. Den Angehörigen wird das Beileid ausgesprochen. Vertretern der Opfergruppe wird Beistand versichert. Es wird sich um Aufklärung bemüht, es werden Versäumnisse der Sicherheitsbehörden beklagt. Wieder spielt dabei das Gruppenmerkmal eine wichtige Rolle. Betroffenheit wird zu einem Merkmal von Personengruppen. Ein Mensch ohne Einwanderungsgeschichte in der Familie kann nicht empfinden, was jemand fühlen muss, der ein potentielles Terroropfer sein könnte.“

Bender zieht den Schluss: Ein Anschlag kann auch dann sein Ziel erreicht haben, wenn er von allen Demokratinnen und Demokraten verurteilt wird. Denn er trennt unsere Gesellschaft in eine Gruppe potentieller Opfer und der Mehrheitsgesellschaft. Die Trennlinie verläuft als berechtigter Verdacht, die unbehelligte Mehrheitsgesellschaft tut zu wenig, um potentielle Opfer zu schützen.

 

Antisemitismus

Sehr geehrte Damen und Herren,

wenn in den Reaktionen auf den Terroranschlag von Halle von einem „Alarmzeichen“ gesprochen wurde, dann führte dies innerhalb der jüdischen Community in unserem Land und bei denjenigen, die in der Wissenschaft oder der Zivilgesellschaft Antisemitismus erforschen und bekämpfen, zu Frustration und Wut.

Denn wer sehen wollte und weiterhin sehen will, wird erkennen, dass Antisemitismus als eine Ausprägung von Rassismus keine Ausnahmeerscheinung ist. Antisemitismus ist kein Randphänomen, sondern Antisemitismus ist Realität in allen Teilen der Gesellschaft. Ich betone letzteres, denn ich widerspreche damit ganz bewusst der Vorstellung, eine imaginierte situierte Mitte der Gesellschaft sei von politischen Extremen unberührt.

Es ist und bleibt das Verdienst des vormaligen Ministerpräsidenten Bernhard Vogel, auf den Brandanschlag auf die Erfurter Synagoge durch die Etablierung einer zeitlich unbefristeten Langzeitstudie reagiert zu haben.

Seit nunmehr 20 Jahren nimmt der Thüringen Monitor als bundesweit einmalige regionale Langzeitstudie empirische Tiefenbohrungen vor. Ermittelt werden die Einstellungen der Thüringerinnen und Thüringer im Hinblick auf die politische Kultur in unserem Land, die Demokratiezufriedenheit der Bürgerinnen und Bürger, ihr Institutionenvertrauen und politische Partizipation.

Dem Team um Frau Prof. Reiser von der Universität Jena und dem Zentrum für Rechtsextremismusforschung gebührt für die erneut exzellente Arbeit mein herzlicher Dank.

Mein Dank geht in gleicher Weise an diejenigen Thüringerinnen und Thüringer, die durch ihre Teilnahme an der Studie dazu beigetragen haben, die Erkenntnisse zu gewinnen, über deren Schlussfolgerungen wir u.a. heute in dieser Plenarsitzung debattieren.

Gleichzeitig bettet sich der Thüringen Monitor in weitere empirische Untersuchungen ein. Auch diese müssen wir berücksichtigen, wenn wir die erhobenen Daten verstehen und aus ihnen Schlussfolgerungen ziehen wollen.

Der diesjährige Thüringen Monitor zeigt einerseits einen Rückgang rechtsextremistisch und antisemitisch motivierter Einstellungen. Andererseits fällt die Zustimmung zu antisemitischen Ressentiments, zu mutmaßlicher Überlegenheit der Deutschen und zur Verharmlosung des Nationalsozialismus lediglich auf das Niveau 2018. Es handelt sich also eher um einen positiven Trend, nicht aber um einen signifikanten Rückgang.

Dem Rückgang antisemitischer Ressentiments steht der Anstieg antisemitischer Straftaten in Thüringen im vergangenen Jahr entgegen. Wie Innenminister Maier am vergangenen Montag bei der Vorstellung der aktuellen Statistik zur politisch motivierten Kriminalität in unserem Land mitteilte, sei eine Steigerung um 25 % bei den antisemitischen Straftaten zu verzeichnen (von 93 Fällen im Jahr 2019 auf 116 im Jahr 2020). Damit setzt sich leider der Trend steigender rechtsextremistischer oder fremdenfeindlicher Straftaten mit antisemitischen Bestrebungen seit 2014 ungebrochen fort. Auch auf Bundesebene weisen die vorläufigen Zahlen des Bundesinnenministeriums einen Höchststand antisemitischer Delikte für das vergangene Jahr aus. Auf diese Situation weist unter anderem die Leipziger Autoritarismus Studie 2020 hin.

Das ist kein Paradoxon. Zwar nimmt die Zahl der Trägerinnen und Träger antisemitischer Ressentiments ab, doch lassen radikaler werdende Antisemitinnen und Antisemiten ihrer Einstellung Gewalttaten folgen.

Der Thüringer Landtag hat in der vergangenen Wahlperiode in einer überfraktionellen Erklärung Antisemitismus in jeder Form geächtet. Er setzte damit ein wichtiges Zeichen für den gesellschaftlichen Umgang mit Antisemitismus in unserem Freistaat. Dem schloss sich die Thüringer Landesregierung an.

Die Bekämpfung des Antisemitismus benötigt gleichwohl mehr als solch unverzichtbare Zeichen. Die Bekämpfung des Antisemitismus setzt vor allem die konsequente Auseinandersetzung mit seinen Inhalten und Motiven voraus.

Hierzu gehört das Bewusstsein, dass es für Antisemitismus keiner konkreten Erfahrungen mit Jüdinnen und Juden bedarf.

Wenn ich also auch in dieser Regierungserklärung den Begriff des antisemitischen Ressentiments verwende, ist dabei ein systematischer gedanklicher Fehler enthalten. Denn Vorurteile beruhen auf Stereotypen. Diese sind wiederum Verallgemeinerungen konkreter Erfahrungen. Damit würde Antisemitismus als Vorurteil jedoch bedeuten, dass es auch ein Wahrheitsmoment seiner Existenz gibt. Dem ist aber nicht so.

Wir müssen uns immer wieder vergegenwärtigen, dass Antisemitismus für seine Entstehung und Existenz keine konkreten Erfahrungen mit Jüdinnen und Juden benötigt.

Antisemitismus ist, um mit Theodor W. Adorno zu sprechen, „das Gerücht über den Juden“. Der Antisemitismus ist zur Verschwörungserzählung geronnenes Gerücht. Er ist die Konstruktion, die Jüdinnen und Juden weltweit erst zu „den Juden“ macht.

Drei Punkte des „Pseudowissens sind dabei, wie Adorno und Max Horkheimer in ihren Studien zeigen, wirksam: die Idee, dass die Juden ein ‚Problem’ sind, die Erklärung, sie seien ‚alle gleich’, und die Behauptung, Juden seien ohne Ausnahme als solche zu erkennen.

Sowohl das Ausmaß als auch die Qualität der den Juden zugeschriebenen Macht unterscheidet den Antisemitismus von anderen Formen des Rassismus betonte der Historiker Moishe Postone. Er eröffnet damit die Perspektive auf die gesellschaftstheoretische und sozialpsychologische Funktion und Rolle des Antisemitismus im Speziellen und des Rassismus im Allgemeinen.

Manche, auch in diesem Landtag, reagieren regressiv auf vermeintliche Zumutungen der Moderne. Die Ambivalenz und Unbeständigkeit der modernen Gesellschaft, die Beschleunigung und die Infragestellung des Traditionellen empfinden sie als bedrohlich. Sie reagieren darauf durch die radikale Ablehnung dieser Moderne, indem ein unrealistisches Idealbild einer Vergangenheit gezeichnet wird, die es nie gab.

Vom Konservatismus, auf den sie dabei gern Bezug nehmen, unterscheiden sie sich jedoch wie alle rechtsextremen Ideologen durch die Konstruktion vom „Fremden“ als finsterer Macht und als Bedrohung. Über diese Konstruktion des bösen Anderen versuchen sie ein Gefühl der Wiedererlangung von Kontrolle zu erzeugen. Erfolglos – die Moderne drehen Sie nicht zurück – aber doch wirkungsmächtig genug, um das politische Klima zu vergiften.

Der Antisemitismus dient den Apologeten der regressiven Moderne zynischerweise auch als Instrumentalisierungsgegenstand gegenüber Geflüchteten, indem Sie Geflüchtete als Sicherheitsrisiko jüdischer Gemeinden stigmatisieren.

Unzweifelhaft gibt es einen von gesellschaftlichen Minderheiten artikulierten Antisemitismus. Genauso wie der Antisemitismus der Mehrheitsgesellschaft ist er durch Ressentiments, Opfer-Täter-Gegensätze geprägt. Der Nahostkonflikt z.B. wird dabei als Projektionsfläche herangezogen. Auch hier dient das Feindbild „des Juden“ als Projektionsfläche, um durch die Konstruktion des übermächtigen bösen Anderen Kontrollverluste zu kompensieren.

Rechtsextremen Parteien dient dieser Antisemitismus der Marginalisierten wiederum dazu, ihren alten nationalistischen Antisemitismus zu modernisieren und mit menschenrechtlicher Rhetorik auszustatten. Dies lässt ihnen die jüdische Gemeinde in Deutschland jedoch nicht durchgehen.

Der Thüringer Landtag hat in seiner überfraktionellen Erklärung den Antisemitismus jeder Form geächtet. Auch den religiös motivierten Antisemitismus und die Israelfeindschaft, die in einer noch immer viel zu großen Zahl von Ländern zur Staatsräson gehört.

Dies beinhaltete zugleich die unmissverständliche Distanzierung gegenüber dem Versuch, Jüdinnen und Juden sowie Geflüchtete oder Menschen mit Migrationshintergrund gegeneinander auszuspielen. Und auch hier schließt sich die Thüringer Landesregierung dem Landtag uneingeschränkt an.

 

Corona-Skepsis

Sehr geehrte Damen und Herren,

seit über einem Jahr bestimmt die Corona-Pandemie das Leben der Menschen und die gesellschaftliche Debatte. Die Wucht des Pandemiegeschehens auf alle Bereiche des privaten und öffentlichen Lebens legte es nahe, den Thüringen Monitor 2020 mit einem Corona-Schwerpunkt zu versehen.

Die Erkenntnisse des Thüringen Monitors, basierend auf Telefoninterviews im September 2020, bestätigen die Erkenntnisse und Trends auch anderer Untersuchungen. Sie unterliegen in Teilen den Zeitläuften der Pandemiewellen und sind in anderen Teilen wichtiger Erkenntnisgewinn für Wissenschaft und Politik.

Viel ist in den vergangenen Monaten über Corona-Skepsis, Corona-Leugnung und über Verschwörungserzählungen geschrieben und debattiert worden.

Es gehört zu den Verdiensten des Teams um Frau Prof. Marion Reiser, mit dem Thüringen Monitor 2020 die Motive und Haltungen der Corona-Skeptikerinnen und –Skeptiker erforscht zu haben.

Ich bin Ihnen, Frau Prof. Reiser und ihrem Team dankbar für die differenzierte Analyse. Eine Verharmlosung der Gefährlichkeit des Corona-Virus kann daher rühren, dass es selbst und im eigenen Umfeld keine Betroffenheit mit dem Virus gab.

Es kann für die Verharmlosung aber auch tieferliegende Gründe geben. Eine Verdrossenheit mit dem politischen System und ein daraus abgeleitetes Misstrauen gegenüber seinen Institutionen können in der Pandemie und dem staatlichen Krisenmanagement das Gefühl politischer Einflusslosigkeit verstärken.

Dass unter Corona-Skeptikerinnen und –Skeptikern rechtsextreme Einstellungen signifikant stärker verbreitet sind als im Rest der Bevölkerung, zeigen die Daten des Thüringen Monitors eindeutig. Während weniger als jeder Zehnte in Thüringen rechtsextreme Einstellungen aufweist, ist es unter den Corona-Verharmlosenden jeder Dritte.

 

Thüringer Bürger*innen-Forum

Sehr geehrte Thüringerinnen und Thüringer,

die dieser Debatte hier im Livestream oder später in den sozialen Netzwerken folgen, jede und jeder in unserem Freistaat kann und soll dort, wo es für erforderlich gehalten wird, Kritik am Pandemie-Management äußern. Es gibt weder Denk- noch Sprechverbote – auch wenn einige dies wahrheitswidrig immer wieder behaupten.

Jeder von Ihnen, der in die sozialen Netzwerke schaut, wird sehen, dass von einer Einschränkung der Meinungsfreiheit keine Rede sein kann.

Die von Ihnen vorgetragene Kritik, Ihre Ängste vor allem um Ihre Angehörigen und Ihre Sorgen über die wirtschaftlichen und sozialen Auswirkungen der Pandemie, sehr geehrte Thüringerinnen und Thüringer, nehmen wir als Landesregierung sehr ernst.

Und wir wollen Ihnen, den Bürgerinnen und Bürgern unseres Freistaates, noch besser zuhören. Denn Ihre Alltagserfahrungen zeigen, ob Corona-Maßnahmen ihr Ziel erreichen oder an der Lebenswirklichkeit vorbeigehen.

Daher haben wir als Landesregierung ein Thüringer BürgerForum COVID-19 eingerichtet. Bei der Zusammensetzung des BürgerForums soll die gesellschaftliche Realität Thüringens so genau wie möglich abgebildet werden.

Wir wollen mit diesem Instrument nicht allein das Pandemiemanagement verbessern. Dieses Instrument soll auch dazu beitragen, eine dauerhafte und eine bessere Politik des Gehörtwerdens im Freistaat zu entwickeln.

Unser Ziel besteht darin, die unverfälschte Alltagskompetenz in unsere Entscheidungen einfließen lassen. Bisher dominieren Expertenmeinungen aus Medizin und Wissenschaft die politische Öffentlichkeit in der Pandemie. Auch wirtschaftliche Akteurinnen und Akteure nutzen ihre vielseitigen Kommunikationskanäle, um auf ihre Sorgen und Nöte aufmerksam zu machen. All das ist für uns als Landesregierung wichtig und wertvoll. Wir sind dankbar für diese Anregungen.

Zu wenig zum Tragen kommen demgegenüber in der Pandemie die sehr unterschiedlichen Erfahrungen und Schicksale der einzelnen Menschen in unserem Land. Das BürgerForum COVID-19 soll diesen Stimmen Gehör verschaffen. Nicht nur die Pandemieeindämmung und –bekämpfung, sondern die demokratische Kultur unseres Freistaates insgesamt muss ein Gemeinschaftsprojekt sein.

 

Corona-Pandemie

Sehr geehrte Damen und Herren,

der Thüringer Ministerpräsident repräsentiert parallel zu unserer heutigen Debatte unseren Freistaat im Bundesrat. Dort findet die Aussprache zum Bevölkerungsschutzgesetz statt, mit dem der Bund in der aktuellen Phase der Pandemie durch die Schaffung des § 28 b Infektionsschutzgesetz Kompetenzen an sich zieht, die bisher von den Ländern wahrgenommen wurden.

Dass der Bund von dieser Kompetenzregelung Gebrauch macht, ist auch ein Ergebnis einer Unzufriedenheit der Bürgerinnen und Bürger in unserem Land mit dem Krisenmanagement von Bund und Ländern. Wie massiv diese Unzufriedenheit in den vergangenen Monaten zugenommen hat, lässt sich ermessen, wenn die einschlägigen Werte des Thüringen Monitors den jüngsten Daten des ARD-DeutschlandTRENDS, die von Infratest dimap erhoben werden, gegenüber gestellt werden.

Noch während des Befragungszeitraums zum Thüringen Monitor bewertete eine sehr große Mehrheit von 70 bis 85 Prozent der Thüringerinnen und Thüringer das Krisenmanagement von Politik und Verwaltung auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene als gut oder sehr gut.

Laut Infratest dimap bewertet bundesweit inzwischen gerade noch ein knappes Fünftel der Bürgerinnen und Bürger das Corona-Krisenmanagement positiv, während vier Fünftel Kritik üben.

 

Sehr geehrte Damen und Herren,

dieser Vertrauensverlust in das Krisenmanagement der Corona-Pandemie kann für niemanden in diesem Saal Anlass sein, zu behaupten, er oder sie hätte es schon immer besser gewusst.

Ich betone, worauf ich zu anderen Zeitpunkten des heftigen Schlagabtauschs zwischen Opposition und Koalition in diesem Landtag bereits hingewiesen habe.

Wer einen Blick in das Plenum des Bundesrates und die dort vertretenen Landesregierungen wirft, stellt fest, dass in den 16 Ländern der Bundesrepublik Deutschland sieben Parteien in acht unterschiedlichen Regierungskonstellationen zusammenarbeiten – die CDU, die CSU, die SPD, die FDP, die Grünen, DIE LINKE und die Freien Wähler.

Fünf dieser Parteien stellen in diesem Landtag die Regierung, einen oppositionellen Stabilitätspartner und eine Oppositionspartei.

In anderen Landtagen repräsentieren die gleichen Parteien in entsprechend wechselnder Besetzung Opposition oder Regierung.

Niemand von Ihnen und uns kann sich wohlfeil auf die Besuchertribüne des Pandemiemanagements setzen.

Jeder hier im Hohen Hause ist daher gut beraten, sich vor Schuldzuweisungen zunächst kundig zu machen, welche Parteien in welchen Ländern es ggf. genauso oder ähnlich machen, wie die rot-rot-grüne Koalition in Thüringen. Denn die Verantwortung für ein gelingendes Pandemiemanagement, sehr geehrte Damen und Herren, tragen in den Augen der Bürgerinnen und Bürger in unserem Land wir als politische Akteurinnen und Akteure in unserer unterschiedlichen Verantwortung gemeinsam.

Am vergangenen Wochenende gedachten wir der Verstorbenen in dieser Pandemie. Meine Bitte an Sie in diesem Saal und an alle Bürgerinnen und Bürger in diesem Land lautet: Lassen Sie uns über die richtigen Wege der Pandemiebekämpfung streiten.

Streit ist nichts per se Schlimmes. Im Gegenteil. Streit – verstanden als der Austausch von Argumenten, der Suche nach der besten Lösung, der Fähigkeit einander zuzuhören, der Respekt vor der Meinung des anderen ist nicht weniger als die Quintessenz des Rechts auf freie Meinungsäußerung, der Versammlungsfreiheit, der Presse-, Kunst- und Wissenschaftsfreiheit.

Lassen Sie uns diesen Streit stets im Respekt führen. Im Respekt vor den Opfern der Pandemie, den Leiden derjenigen, die langfristige oder dauerhafte Schäden von COVID19 tragen müssen und auch im Respekt vor denjenigen, die tagtäglich ihr Leben und ihre Gesundheit für unser Wohlergehen einsetzen.

 

Niemanden allein lassen – gerade jetzt

Sehr geehrte Damen und Herren,

einige, die sich anmaßen zu behaupten, sie verträten „das Volk“ oder „die schweigende Mehrheit“ gegen „die Eliten“, meinen, dass der Vertrauensverlust in das Pandemie-Krisenmanagement eine Bestätigung ihrer Forderung sei, das Krisenmanagement völlig aufzugeben.

Die im Thüringen Monitor erhobenen Daten zeigen in Übereinstimmung mit den durch die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler einbezogenen Untersuchungen, dass die Maßnahmen des Pandemiemanagements zu jedem Zeitpunkt der Pandemie von nicht weniger als zwei Dritteln der Bürgerinnen und Bürger unterstützt wurden. Unterschiede hat es, wie auch beispielsweise die von der Forschungsgruppe Wahlen erhobenen Daten zeigen, bei der Frage gegeben, ob die Maßnahmen des Pandemiemanagements gerade richtig seien oder härter ausfallen müssten.

Doch die Position, dass die Maßnahmen des Gesundheits- und Bevölkerungsschutzes übertrieben seien und deshalb eingestellt werden müssten, waren und sind aus gutem Grund eine Minderheitsposition.

Ich betone dies nicht, weil ich diese Minderheitsposition dadurch negieren oder verächtlich machen will. Nichts liegt mir ferner. Denn auch in dieser Position drücken sich Befürchtungen aus, die diese Landesregierung ernst nimmt.

Ein Fünftel der Bevölkerung, also 20 Prozent der Bürgerinnen und Bürger in unserem Freistaat empfinden die Corona-Pandemie als eine große oder sehr große Gefahr für die eigene ökonomische Lage.

 

Sehr geehrte Damen und Herren,

fast 90 Prozent der Thüringerinnen und Thüringer stimmen der Aussage zu, dass „die Demokratie die beste aller Staatsideen“ ist. Mehr als zwei Drittel der Befragten Bürgerinnen und Bürger unseres Freistaates sind mit der Praxis der Demokratie in unserem Land zufrieden.

Dies sind zwanzig Prozentpunkte mehr als zum Zeitpunkt der ersten Messung des Thüringen Monitors und dreißig Prozentpunkte mehr als in den Jahren 2003 oder 2006.

Auch wenn diese Bewertungen je nach Haushaltseinkommen variieren und diejenigen mit einer persönlich als gut befundenen finanziellen Situation mit der demokratischen Praxis zufriedener sind, drückt sich in diesen Daten auch die gute Entwicklung unseres Thüringer Gemeinwesens in den vergangenen dreißig Jahren aus.

Andererseits sind mit 66 Prozent wiederum zwei Drittel der Menschen in unserem Freistaat der Auffassung, dass „in unserer Demokratie die Anliegen der Menschen nicht mehr wirksam vertreten werden“. Die Bereitschaft zur politischen Beteiligung ist weiterhin rückläufig.

Fast zwei Drittel der Befragten sind der Auffassung, dass unser Freistaat den Vergleich mit vielen westdeutschen Ländern nicht zu scheuen braucht. Mehr als drei Viertel der Thüringer blicken optimistisch auf die wirtschaftliche Entwicklung und auch die eigene finanzielle Situation wird mehrheitlich positiv bewertet.

Gleichzeitig ist Abstiegsangst, also die Sorge auf die „Verlierer“seite des Lebens zu geraten, kein Phänomen der Bezieher niedriger Einkommen. In unserem Freistaat haben die Bürgerinnen und Bürger unter großen Anstrengungen in der auf die Friedliche Revolution und Wiedervereinigung folgende Nachwendezeit einen gegenüber dem Westen immer noch bescheidenen Wohlstand aufgebaut.

Dieser Wohlstand wird angesichts der Umbruchserfahrungen der 1990er Jahre weiterhin als fragil angesehen. Auch Befragte mit mittleren Einkommen äußern deshalb im Thüringen Monitor Furcht vor sozialem Abstieg und Statusverlustängste.

Dass in unserem Land spürbare Reichtumsunterschiede bestehen, dass in der Krise Millionen Menschen in Kurzarbeit tätig sind, aber einzelne Unternehmen riesige Gewinne realisieren konnten, nehmen die Bürgerinnen und Bürger durchaus wahr. Ebenso das weiterhin bestehende Wohlstandsgefälle zwischen den ehemals alten und ehemals neuen Ländern. Rund die Hälfte der befragten Thüringerinnen und Thüringer ist der Auffassung, weniger als den gerechten Anteil vom gesellschaftlichen Wohlstand zu erhalten.

Wenn im Herbst dieses Jahres – parallel zu unserer Landtagswahl auch im Bund gewählt wird, dann sind die Erwartungen der Thüringer Landesregierung an die neue Bundesregierung klar. Ministerpräsident Bodo Ramelow formulierte sie bereits an das amtierende Kabinett von Frau Bundeskanzlerin Merkel – nur ein Teil davon ist bislang umgesetzt:

  • die Angleichung der Lebensverhältnisse Ost und West muss weiter ein erklärtes Ziel mit zu untersetzenden politischen Maßnahmen sein
  • das gilt nicht zuletzt für die Beseitigung von Rentenungerechtigkeiten
  • neue Behörden und Institute müssen zuerst in Ostdeutschland angesiedelt werden
  • wir benötigen eine höhere Zahl von öffentlich finanzierten Wissenschaftseinrichtungen in den ostdeutschen Ländern als Keimzelle künftigen wirtschaftlichen Erfolgs.

Die beiden zuletzt genannten Forderungen erhalten durch den 6. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung besonderen Nachdruck.

 

Die Zeit nach der Pandemie zu einem Jahrzehnt des Aufbruchs machen

Sehr geehrte Damen und Herren hier im Saal,

sehr geehrte Thüringerinnen und Thüringer, die diese Debatte verfolgen,

nach mehr als einem Jahr der Corona-Pandemie macht sich allerorten Erschöpfung breit. „Pandemiemüdigkeit“ ist ein häufig gebrauchtes Wort dieser Tage. Wir alle gemeinsam können dieses Gefühl gut nachvollziehen.

Ich bitte Sie dennoch um eine Kraftanstrengung besonderer Art. Lassen Sie uns gemeinsam dafür Sorge tragen, dass die Zeit nach der Pandemie der Auftakt für ein Jahrzehnt des Aufbruchs in unserem Freistaat wird.

Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, dass aus der verständlichen und uns alle erfassenden Pandemiemüdigkeit, aus dem Umstand, dass viele Menschen „mütend“ werden, wie einige Zeitungen bereits formulierten, keine Zukunftsmüdigkeit wird.

In seiner Regierungserklärung zum Thüringen Monitor 2017 gab unser Ministerpräsident Bodo Ramelow als Regierungschef dieser Koalition aus LINKEN, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in diesem Landtag ein Versprechen:

„Diese Landesregierung will und wird niemanden im Abseits stehen lassen. Alle, die hier leben, haben Anspruch auf vernünftige Arbeit, Gesundheitsversorgung, Wohnung und Bildung, kurz auf soziale Sicherheit.“

Dieses Versprechen formulierte der Ministerpräsident in einer Phase anhaltend positiver konjunktureller Entwicklung. Gerade deshalb erneuern wir als rot-rot-grüne Landesregierung diesen Anspruch an unser Regierungshandeln auch in dieser schwersten Phase unseres Freistaates Thüringen seit seiner Wiedergründung. Diese Landesregierung will und wird niemandem im Abseits stehen lassen.

Sie, die Bürgerinnen und Bürger in unserem Freistaat, haben den gewaltigen Transformationsprozess Thüringens seit 1990 durch ihre eigene Kraft erfolgreich bewältigt. Darauf können Sie zu Recht stolz sein.

Und vor dem Hintergrund dieser gemeinsamen intergenerationellen Erfahrung wird es uns auch gelingen, diese Pandemie zu überwinden und die Zukunft unseres Freistaates erfolgreich zu gestalten. Die Krisen der Vergangenheit wie die Finanzkrise 2008 haben gezeigt, dass der Aufschwung oftmals größer wird als die Talfahrt zuvor.

Wir haben es in der Hand, diesen Aufschwung gerecht und zum Wohle aller Menschen wirtschaftlich und ökologisch nachhaltig zu gestalten. Wir haben es in der Hand, den ganz jungen Menschen in unserem Land, deren Lebenschancen in den letzten 13 Monaten durch geschlossene Kindergärten und Schulen enorm eingeschränkt waren, neue Zukunftsperspektiven zu eröffnen. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir schon bald mit Stolz auf das zurückblicken können, was wir zusammen zunächst ausgehalten, dann gestaltet und schließlich zum Erfolg geführt haben.

Der Yale-Wissenschaftler Nicholas Christakis beschreibt drei Phasen der Pandemie. Wir befinden uns derzeit in der ersten Phase. Mehr als 3 Millionen Menschen sind in unserem Land seit Beginn der Pandemie erkrankt und über 78.000 Menschen an oder mit dem Virus gestorben. (Quelle RKI, Stand 12.04.21)

Bei allen Schwierigkeiten der Impfstoffbeschaffung sind wir derzeit Zeugen der größten Impfkampagne der Menschheitsgeschichte. Innerhalb nur eines Jahres wurden Impfstoffe erforscht, getestet und eingeführt. Wir sind die erste Generation der Menschheit, die eine Pandemie mit gezielten medizinischen Maßnahmen zum Stillstand bringen kann. Diese Impfkampagne ist ein Start in ein neues Zeitalter der Wissenschaft. Sie ist mit nicht weniger vergleichbar als dem 1. Raumflug von Juri Gagarin vor 60 Jahren.

In der zweiten Phase werden wir mit der gleichen Konsequenz, mit der die Impfstoffe dem Virus zusetzen, die sozialen und ökonomischen Verwerfungen der Pandemie bekämpfen. Wir wollen als Thüringer Landesregierung nicht nur die Rückkehr zur „Normalität“ sondern den Aufbruch in eine bessere Zukunft. Unser Thüringen soll aus der Krise gestärkt hervorgehen, in dem wir

  • Wirtschaft und Kultur stabilisieren
  • die wirtschaftliche Existenz für prekär Beschäftigte, Erwerbslose, Alleinerziehende, Selbstständige und Unternehmer, die kein finanzielles Polster haben, sichern
  • in die soziale, digitale und räumliche Infrastruktur investieren, in dem wir modernisieren und für gleichwertige Lebensverhältnisse in allen Landesteilen sorgen
  • weiter auf leistungsstarke Gemeinden, Städte und Landkreise und eine faire Partnerschaft mit ihnen setzen, sowie für die zu erfüllenden Aufgaben eine angemessene finanzielle Ausstattung gewährleisten. Der geplante neue Finanzausgleich soll insoweit auch ein „Starterkit“ sein
  • der Pflege endlich den Stellenwert geben, der ihr zusteht und den öffentlichen Gesundheitsdienst stärken
  • die Qualität der Bildungseinrichtungen in Stadt und Land weiterentwickeln
  • Natur und Umwelt schützen, den Klimawandel bekämpfen und den Waldumbau voranbringen.

In der Phase drei, sehr geehrte Damen und Herren, werden wir Corona hinter uns gelassen haben.

Spätestens ab 2024 kann und soll es uns gemeinsam in unserem Freistaat gelingen, den wirtschaftlichen Aufschwung zu einer Phase der gesellschaftlichen Zuversicht zu machen.

Eine Dekade, die geprägt werden soll von Aufbruchstimmung, von Innovationen aufgrund der nachgeholten Modernisierung insbesondere in Infrastruktur und Digitalisierung, die genau genommen die moderne Ergänzung der Infrastruktur ist, sowie starker öffentlicher Daseinsvorsorge und basierend auf gefestigten demokratischen Grundwerten, deren bestehende Ambivalenzen wir weiterhin vom Thüringen Monitor ermitteln lassen.

 

[ABSCHLUSS]