02.11.2020

Grußwort anlässlich der Verleihung des Preises „Der Friedenstein 2020“ an Prof. Dr. Alexander Kluge

 

Sehr geehrte Damen und Herren,
Lieber Oberbürgermeister,
Eure Hoheit,
Sehr geehrter Herr Prof. Dr. Kluge, 

es ist mir eine große Ehre, das Grußwort der Landesregierung anlässlich der heutigen Preisverleihung an Sie übermitteln zu dürfen.
Nun könnte man annehmen - und dies ist ja auch nicht ganz falsch, wie Sie, lieber Herr Kluge, aus diversen Zeremonien, denen Sie entweder als Preisträger oder als Beigeladener beiwohnten, wissen - dass dem ministerialen Grußwort und der darin ausgedrückte Ehre eine gewisse routinierte Professionalität innewohnt.

Doch das es eine Ehre ist, Sie zu treffen und zu Ihnen sprechen zu dürfen, sei hier versichert - ebenso, dass es mir durchaus Kopfzerbrechen bereitete, aus Ihrem so vielseitigen Schaffen diejenigen Aspekte herauszugreifen, die mir für meine Ansprache nötig und erforderlich erschienen und doch stets unzureichend bleiben müssen.

Sie erhalten heute den Preis „Der Friedenstein 2020“. Geehrt werden Sie als in dieser Stadt zeitweilig die Schule besuchender ABC-Schütze für Ihr Lebenswerk. 
Doch Schloss Friedenstein ist mit Ihrer Arbeit auf eine nicht sofort ersichtliche Weise verknüpft, so wie es mit Thüringen durchaus weitere - wenn auch nicht sofort auf der Hand liegende Verbindungen gibt. Ich will darauf im Folgenden eingehen.

Das hiesige und weltberühmte Ekhof-Theater ist nicht nur eines der ältesten Barock-Theater, sondern agierte erstmals seit 1775 mit einem feststehenden Ensemble. Es revolutionierte auf diese Weise den Spielbetrieb aber verwies mit einem festen Gehalt für das Ensemble und sogar einer Pensionskasse zugleich auf die bis heute gültige Notwendigkeit der Verbindung von künstlerischer Freiheit durch soziale Sicherung. Dass der Theaterbesuch dem Bürgertum und damit nicht allein dem Hof zugänglich gemacht wurde, ist die zweite wesentliche Erneuerung des Theaterbetriebs seiner Zeit. Natürlich werden Sie nun schmunzeln, lieber Prof. Kluge, wenn ich über den Sprung von 1775 in Gotha nach 1962 den Bogen zu den Kurzfilmtagen in Oberhausen einerseits und der Berliner Tagung der „Gruppe 47“ am Großen Wannsee andererseits schlage. 

Denn dieses Jahr steht sinnbildlich für einen neuen Aufbruch im bundesdeutschen Film- aber auch dem Literaturbetrieb, der sich auch - und wesentlich - mit Ihnen verbindet. 

Sie waren sowohl als Autor zur Vorlesung vor der Gruppe 47 eingeladen, nahmen aber auch am öffentlichen Austausch der Gruppe 47 mit den Akteuren des Oberhausener Manifests teil, zu dessen Initiatoren Sie gehörten. Allein an dieser Stelle tritt nicht nur die Vielfalt Ihres künstlerischen Handelns hervor, sondern zugleich das gesellschaftlich-diskursive und damit auch interventionistische Interesse, dass Ihre Arbeit bis heute prägt. 

Den Preis der Gruppe 47 erhielt damals der Ost-Berliner Autor Johannes Brobowski. Es war drei Jahre vor dem sogenannten Kultur-Plenum der SED 1965 in deren Folge diejenigen zeitgenössischen Bücher und Filme nicht mehr erscheinen durften, die einen realistischen Blick auf die gesellschaftliche Entwicklung der DDR warfen und eine neue, jüngere DDR-Generation repräsentierten. Ihr Thema verband sich mit der von der gleichaltrigen Generation West repräsentierten Botschaft des Oberhausener Manifests. Auch sie proklamierten faktisch: „Papas Kino ist tot“. Oder auf ihre Herkunft in der DDR übertragen: „Papas Sicht auf die Widersprüche und Ambivalenzen der sozialistischen Gesellschaft“ ist tot. 
Anders als in der Bundesrepublik konnten sich in der DDR die Väter und Großväter im Politibüro gegen die jüngere Generation durchsetzen. Die im Zuge der anti-autoritären Revolte einsetzenden gesellschaftlichen Moderne West gestaltete sich im Osten mit den Worten des Kapitels aus Wolfgang Englers Klassiker „Die Ostdeutschen“: „Wie die Moderne zu den Ostdeutschen kam, kleinlaut wurde und wieder ging“. Erst 1990 konnten die 1965 verbotenen Bücher und Filme erscheinen. Als Echo einer Vergangenheit aus einem untergegangenen Land. 

Über das künstlerische Erbe dieses untergangenen Landes ist in den vergangenen 30 Jahren sehr viel und sehr kontrovers bis polemisch diskutiert worden. Sie haben, lieber Prof. Kluge, mit zwei Protagonisten des sogenannten ostdeutschen Bilderstreits, Georg Baselitz und Gerhard Richter gemeinsam publiziert. Die FAZ nennt Sie frei von Dünkel, worin ich übereinstimme, wenn darunter das undogmatische Interesse und die Lust an der Erkenntnis gefasst wird. 
So spannend es wäre, sich hier in Thüringen über ostdeutsche Kunst, z.B. Werner Tübkes, der in Bad Frankenhausen das Panorama-Museum gestaltete und die Leipziger Schule repräsentiert, auszutauschen, werden wir heute dazu vermutlich nicht kommen. Im 30. Jahr der deutschen Einheit ist gleichwohl dieser Diskurs weiterhin erforderlich und eine Generation nach 1989 lässt sich dieser Diskurs möglicherweise weniger in den Gräben von Vorwurf und Verteidigung führen.

Was mich in der Betrachtung Ihrer Tätigkeit beeindruckt, ist die Vielfalt Ihres Schaffens - Autor künstlerischer Literatur ebenso wie politisch-philosphischer Schriften, Filmemacher und Produzent sowie Repräsentant des Autorenkinos, Gründer von dctp - einer der wichtigsten deutschen Produktionsfirmen im Bereich des privaten Fernsehens, gefragter Gesprächspartner wieder ebenso gefragter Künstler*innen und nicht zuletzt in der vergangenen Dekade auch noch erfolgreicher Akteur des internationalen Museumsbetriebs.

Lieber Prof. Kluge, ich leite derzeit zusätzlich zur Staatskanzlei und dem Kulturressort noch das Ministerium für Infrastruktur und Landwirtschaft. Ihre umfassende und andauernde Tätigkeit gibt mir Hoffnung, dass auch unmöglich erscheinende Komplexität erfolgreich absolviert werden kann. Aber gestatten Sie mir gleichzeitig die Bitte, mir vielleicht im direkten Gespräch nachher zu verraten, wo Sie den Zauberstab gefunden oder versteckt haben, der Ihren Tag auf mehr als 24 Stunden zu verlängern scheint.

Wenn ich von der Vielfalt Ihrer Arbeit spreche, lieber Prof. Kluge, dann sowohl aus gebührender Wertschätzung als auch deshalb, weil das gesellschaftlich-diskursive Interesse Ihrerseits, das Ihrer Arbeit zugrunde liegt und in ihm seinen Ausdruck findet, auch das verbindende Moment darstellt, diese Vielfalt in einer besonderen Weise zu verdichten und deshalb das Gegenteil von Ekklektizismus darstellt. 

Sie haben als Jurist promoviert und waren in dieser Profession am Frankfurter Institut für Sozialforschung tätig. Derjenigen Institution, deren faktische Gründungsversammlung im Jahre 1923 nur wenige Kilometer von hier, in Geraberg - im benachbarten Ilmkreis - stattfand. Zu den Gründern um den stiftenden Mäzen Felix Weil gehörte auch Karl Korsch. Korsch war nicht nur ebenfalls Jurist und Wissenschaftler der Universität Jena, sondern gehörte 1923 auch der Thüringer Linksregierung aus SPD und KPD an, die nach nur knapp zwei Wochen im Zuge der Reichsexekution aufgelöst wurde. 

Das Institut ist vor allem mit der „Kritischen Theorie der Frankfurter Schule“ sowie u.a. den Namen Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Erich Fromm, Herbert Marcuse und Franz L. Neumann verbunden. Mit dem Eintritt Horkheimers wandelte sich ab 1930 der Charakter des Instituts. Es waren nun nicht mehr vorrangig die ökonomischen Prozesse, die als Grundlage des sozialen Lebens untersucht werden sollten, vielmehr wurde die Gesellschaft in all ihren Sphären zum interdisziplinären Forschungsgegenstand. Eine enge Verschränkung von Philosophie und einzelwissenschaftlicher Forschung, die den Zusammenhang zwischen wirtschaftlichen Leben der Gesellschaft, technologischen Fortschritt aber auch psychischer Entwicklung der Individuen im Veränderungskontext von Recht, Kultur und Wissenschaft.

Ich führe dies deshalb so ausführlich aus, weil in diesem Wissenschafts- und Gesellschaftsprogramm auch Ihre Arbeit, Prof. Kluge, sich abzubilden scheint. Davon zeugen insbesondere auch Ihre gemeinsam mit Oskar Negt publizierten Schriften, die von inzwischen vielen Generationen von Studierenden und in der politischen Bildungsarbeit rezipiert wurden.

Im vergangenen Jahr stellten Sie für die Oskar Schlemmer-Ausstellung, die hier in Gotha im Rahmen des Bauhaus-Jubiläums gezeigt wurde, eine Filminstallation zum Bauhaus zur Verfügung. Das Bauhaus repräsentiert in seiner Geschichte die Brüche der Moderne. Ob die aktuelle Corona-Pandemie eine neue Bruchlinie skizziert oder nur Tendenzen verstärkt, die sich seit dem Ende des kurzen 20. Jahrhunderts herausbildeten, ist noch nicht ausgemacht. Sie haben sich in diesem Jahr zur Pandemie und deren Folgen in einem Dialog mit Ferdinand von Schirach Gedanken gemacht. Es lohnt sich, diese Überlegungen mit denen von Ivan Krastev vergleichend zu lesen. 

Lieber Prof. Kluge, in einem Interview in der FAZ bezeichneten Sie die Künstlerinnen und Künstler einmal als Pilotfischchen. Auf die Frage nach dem Warum antworteten Sie:
„Haie haben um sich herum ganz winzige Fische, die die Navigation erleichtern, das sind geborene Navigatoren. Die Haifische brauchen die.“

Das Gespräch geht dann wie folgt weiter: 
„Wenn die Künstler Pilotfischchen sind, besteht Gefahr, dass die absterben?“

Sie sagen: „Das glaube ich nicht, solange die Haifische Navigation brauchen. Die Haifische sind naiv, viel zu instinktgeladen, viel zu schnell. Und die Pilotfischchen sind die kleinen Ratgeber. Ich will die Kunst nicht mit den Pilotfischchen allein vergleichen. (Was dann fehlen würde) kann ich Ihnen so auswendig nicht sagen, aber Navigation ist nur eine Tätigkeit der Kunst. Da müssen Sie auch Hebammenkunst und Zirkuskunst einbeziehen.“

Lieber Prof. Kluge, in der Betrachtung und Würdigung Ihres vielschichtigen Werkes möchte ich statt des Pilotfischchens auf den Maulwurf Bezug nehmen. Von Kant verspottet, widerfuhr ihm in der Philosophie Hegels, der in diesem Jahr 250 Jahre alt wird, Gerechtigkeit. In seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte formuliert er: „Bisweilen erscheint der Geist nicht offenbar (...) Hamlet sagt vom Geiste, der ihn bald hier- und bald dorthin ruft: ‚Du bist ein wackerer Maulwurf‘, denn der Geist gräbt unter der Erde fort und vollendet sein Werk.“

Und im 18. Brumaire des Louis Bonaparte, in dessen Eingang Marx unsterblich geworden ausführt, das Hegel an einer Stelle formuliert habe, dass die Geschichte sich wiederhole aber vergessen habe hinzuzufügen „Einmal als Tragödie und einmal als Farce“, prognostiziert er, dass Europa nach Vollendung der Revolution rufen werde „Brav gewühlt, alter Maulwurf!“

Diese Prognose ging zwar nicht in Erfüllung aber ich darf mit der gleichen Begeisterung in diesem Sinne für Ihre bisherigen intellektuellen und künstlerischen Grabungsarbeiten danken und ihnen auch für die Zukunft fleißige Schaufeln wünschen. 

Vielen Dank!