28.09.2019

Rede zur Aktuellen Stunde „Unsere Geschichte verpflichtet: 30 Jahre friedliche Revolution in Thüringen“

Rede zum Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN am 27. September 2019

Frau Präsidentin,

sehr geehrte Damen und Herren,

Frau Herold, ich glaube, es liegt ein kleiner Irrtum bei der AfD vor: Es trifft zu, alle Macht geht vom Volke aus, aber das heißt nicht, dass die Macht von völkischen Nationalisten ausgeht. Das ist ein himmelweiter Unterschied.

Wir müssen uns noch einmal dreißig Jahre zurückerinnern. Gestern vor 30 Jahren demonstrierten in Leipzig zwischen 5.000 und 8.000 Menschen bei der Montagsdemonstration. Sie forderten demokratische Reformen und die Zulassung des Neuen Forums.

Heute vor 30 Jahren rief der stellvertretende Minister des Ministerium für Staatssicherheit, Rudolf Mittig, die stellvertretenden Chefs der MfS-Bezirksverwaltungen zusammen und gibt als Parole aus, die „feindlich-oppositionellen Zusammenschlüsse" mit dem Ziel der Zerschlagung „operativ zu bearbeiten". Das MfS solle in diesen Gruppen also - nicht zuletzt mit seinen darin vertretenen IM´s - Grabenkämpfe forcieren, Misstrauen säen, die Mitglieder aufsplittern und versuchen, die Politisierung der Gruppen durch das Aufwerfen von Organisations- und Strukturfragen stoppen.

Staats- und Parteichef Erich Honecker befiehlt zur - ich zitiere - „Gewährleistung der Sicherheit und Ordnung" und „zur Verhinderung von Provokationen unterschiedlicher Art" für den 40. Jahrestag der DDR die Herstellung der Führungsbereitschaft der Bezirkseinsatzleitung Berlin sowie der Kreiseinsatzleitungen der Berliner Stadtbezirke. Auf der Grundlage dieses Befehls bringt Verteidigungsminister Keßler am nächsten Tag vorsorglich die Nationale Volksarmee für die Zeit vom 6. bis zum 9. Oktober 1989 befehlsmäßig für einen möglichen Einsatz in Berlin in Stellung.

Heute vor 30 Jahren war also vollkommen ungewiss, ob die Ereignisse, die wir heute als Friedlichen Revolution beschreiben, tatsächlich friedlich bleiben. Denn zu erwarten war vielmehr, dass das DDR-Regime bereit aber auch willens war - und die von mir zitierten Sachverhalte weisen auch darauf hin - , auf die Proteste zu reagieren, wie bei den blutigen Niederschlagungen der Jahre 1953 in Berlin, 1956 in Ungarn, 1968 in Prag oder im Sommer 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking.

Wir müssen uns dies in Erinnerung rufen, um uns daran zu erinnern, dass diejenigen, die im Spätsommer 1989 und ab dem 4. September 1989 in Leipzig begannen zu protestieren, überhaupt nicht davon ausgehen konnten, dass das eine friedlichen Revolution wird, dass das was sie individuell tun, überhaupt den Charakter einer Revolution annimmt.

Diejenigen, die sich in Leipzig unter dem Schutz der eingeschränkten Repressionen aufgrund der Leipziger Messe zusammengefunden haben und in der Nikolaikirche Transparente ausrollten - für wenige Minuten - mussten vielmehr davon ausgehen, dass sie verhaftet werden, dass sie misshandelt werden, dass es Repressionen gegen sie individuell aber auch gegen die Familien und den Freundeskreis gibt. Das war die Erfahrung derjenigen, die trotzdem den Mut hatten, sich 1989 gegen das DDR-Regime zu stellen.

Wir müssen uns das in Erinnerung rufen, weil die Erinnerung an 30 Jahre Friedliche Revolution - mal unabhängig von dem, was wir hier gerade parteipolitisch diskutieren - zunächst erstmal als Erinnerung denjenigen gilt, die mit großem Mut, unter dem Einsatz ihrer Unverletzlichkeit und der eigenen Zukunft sowie der Zukunft ihrer Angehörigen die Entscheidung trafen, aufzustehen und zu sagen was ist. Das DDR-Regime herauszufordern, durch die Forderung nach Meinungsfreiheit, nach Pressefreiheit, nach Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, nach Glaubensfreiheit, nach Gewissensfreiheit, nach einem Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis, nach der Unverletzlichkeit der Wohnung, nach Reisefreiheit und Freizügigkeitsrechten, nach dem Recht auf Verweigerung des Dienstes an der Waffe.

„Das Geheimnis der Freiheit war der Mut“ schrieb Claus Christian Malzahn 2010 in seinem Nachruf auf Bärbel Bohley in der Tageszeitung DIE WELT und zitiert sie mit den Worten: „Die Politik fand plötzlich unter freiem Himmel statt – auf der Straße entfaltete sich jene Dynamik und konnte sich nur dort entfalten“.

Vor dem Mut dieser Menschen, die wir heute Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler nennen, vor denen haben wir uns zu verneigen und sie nicht zu instrumentalisieren.

Wir verdanken diesen Menschen jene Entwicklung - und da wiederhole ich mich - , die wir heute rückblickend dankbar als Friedliche Revolution bezeichnen. Ich möchte noch einmal Bärbel Bohley zitieren: „Es charakterisiert diese sechs Monate gerade, dass die politischen Prioritäten von demonstrierenden Mehrheiten gesetzt wurden. Die ,große Politik’ dagegen musste jeweils nachfolgen und konnte erst auf dem Terrain, das die Bürgerbewegungen abgesteckt hatten, wieder ihre tradierten Gebäude errichten.“

Viele von uns im Saal - also die, die in der DDR waren - werden sich an diese Zeit in gleicher Weise erinnern. Die Dynamik des Auf- und Umbruchs. Der parallelen Entwicklungen von Reformen in der DDR einerseits und der Dynamik des Mauerfalls, mit der die Frage des deutsch-deutschen Verhältnisses als Konföderation oder Wiedervereinigung auf die politische Tagesordnung kam.

Von Bärbel Bohley stammt freilich auch die apodiktische Feststellung, die Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler hätten „Gerechtigkeit gewollt und den Rechtsstaat bekommen“.

Im Magazin CICERO äußerte sich die frühere Bürgerrechtlerin Marianne Birthler in einem Zitat zu diesem Satz Bohleys. Ich darf mit Zustimmung des Präsidiums zitieren: „Bärbel Bohley hat wohl zum Ausdruck bringen wollen, warum viele Menschen enttäuscht waren. Viele wussten nicht, dass das Leben in einer freien Gesellschaft auch anstrengend ist – erst recht, wenn man aus einem System kommt, in dem alles geregelt und festgelegt ist.“ Frau Birthler erzählt deshalb in diesem Zusammenhang die „Exodus-Geschichte vom Volk Israel, das nach Generationen der Sklaverei befreit wird, dann aber eben nicht das gelobte Land vorfindet, in dem, wie es hieß, Milch und Honig fließt. Stattdessen erwartete sie die Wüste. Und prompt setzte das Gemurre ein, und die gerade erst Befreiten sehnten sich zurück nach den Fleischtöpfen Ägyptens. Auf einmal erschien ihnen, die so lange von der Freiheit geträumt hatten, die Sicherheit attraktiver als die Freiheit. Das ist eine wunderbare Allegorie der Frage, wie Gesellschaften mit Unfreiheit, mit der Erinnerung an Gefangenschaft und mit Freiheit umgehen.“

Wir, die wir in der DDR geboren und aufgewachsen sind, verdanken den Mutigen des Spätsommers und Herbst 1989 das einzigartige Geschenk der Demokratie, der Wirksamkeit von Grundrechten, dem Zusammenspiel der Gewaltenteilung, das dafür Sorge trägt, dass nie mehr ein Zweck die Mittel heiligt.

Der Wert dieser Gewaltenteilung und der verfassungsgerichtlichen Überprüfung politischer Entscheidungen wird uns dieser Tage auch deutlich bei einem Blick in die europäischen Staaten. Wenn im Mutterland der parlamentarischen Demokratie der Supreme Court die Zwangssuspendierung des Parlaments als verfassungswidrig aufhebt, dann zeigt sich genau darin der Wert der verfassungsrechtlich geschützten Demokratie und ihrer handlungsfähigen Institutionen.

Ich betone dies auch deshalb, weil in den Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg eine Partei mit der Aussage angetreten ist: „Vollende die Wende“. Diese Aussage ist infam in mehrfacher Hinsicht.

Die Wende, auf die hier angespielt wird, entstand aus dem Wunsch nach Freiheit und Demokratie. Diejenigen, die nun zur Vollendung der Wende auffordern, wollen das Rad der Geschichte aber eben nicht nach vorn drehen. Sie wollen das Rad der Geschichte zurückdrehen.

Es geht nicht um mehr Demokratie. Stattdessen sollen Verfassung und Demokratie ausgehöhlt werden, so wie wir es in den Vorbildern der illiberalen Demokratien Ungarns, Polens aber auch dem Handeln der politischen Gesinnungsgenossen wie der FPÖ Österreichs erkennen können.

Meine Damen und Herren,

wenn wir also 30 Jahre nach der Friedlichen Revolution darüber diskutieren, müssen wir auch darüber streiten, wie unsere Demokratie weiter entwickelt werden kann und soll. Wie Bürgerinnen und Bürger an politischen Entscheidungen stärker als bisher beteiligt werden. Wie wesentliche gesellschaftliche Entwicklungen, auch die Energiewende - die wir benötigen um die natürlichen Grundlagen unseres Gemeinwesens zu erhalten - wie also diese gesellschaftlichen Entwicklungen immer wieder vor Ort rückgekoppelt werden, wie sie erklärt werden und wie vor Ort mitentschieden und nicht über die Köpfe hinweg festgelegt wird, dann reden wir über die Weiterentwicklung unserer Demokratie. Doch diese Weiterentwicklung basiert auf den Spielregeln unserer Demokratie, nicht auf deren Infragestellung, Instrumentalisierung oder populistischen Verächtlichmachung als Gesinnungsdiktatur.

Dies sind wir auch denjenigen schuldig, die 1989 den Mut zur Friedlichen Revolution hatten.

 

Sehr geehrte Damen und Herren,

diese Landesregierung besteht aus drei Parteien, wie vor 30 Jahren antagonistische Gegner waren. Die Friedliche Revolution brachte neben dem Neuen Forum eine Vielzahl von Parteien und Organisationen hervor, darunter die Wiedergründung der Sozialdemokratischen Partei, SDP und diejenigen Gruppen, die später das Bündnis 90 bildeten. Wenn hier heute ein AfD-Abgeordneter der SPD-Abgeordneten Birgit Pelke vorwirft, in einer Täterpartei Mitglied zu sein, dann ist das wirklich die absolute Geschichtsvergessenheit gegenüber der Geschichte der Sozialdemokratie.

Zur Geschichte der DDR und zu den dramatischen Entwicklungen der DDR gehörte auch die Unterdrückung der Sozialdemokratie als wiederholte Erfahrung der Sozialdemokratie. Ich möchte nie mehr, dass in einem deutschen Parlament ein Mitglied der sozialdemokratischen Partei verächtlich gemacht wird.

Spät, zu spät begannen in der SED die Reformprozesse, die unter Gorbatschow bereits Jahre zuvor in der Sowjetunion angestoßen wurden. Es gilt sein auf die unbelehrbare SED-Führung gemünzter Satz: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“ Die Landesregierung aus LINKEN, SPD und Bündnis/die Grünen hat sich in dieser zu Ende gehenden Wahlperiode intensiver als jede Landesregierung zuvor der Aufarbeitung des DDR-Unrechts gewidmet. Ich habe erst jüngst hier im Landtag den diesjährigen Aufarbeitungsbericht vorlegen dürfen.

Der Bundestag entscheidet heute über die ‚Verführung der Akten des MfS, die vor der Vernichtung gerettet wurden, als eines der wichtigsten Ereignisse der Friedlichen Revolution, den Sturm auf die Stasi-Zentralen im Januar 1990, in das Bundesarchiv. Und ich wiederhole, was ich beim Aufarbeitungsbericht auch gesagt habe: Der Schritt war vollkommen richtig. Roland Jahn, der aus Thüringen stammt, hat zu Recht darauf hingewiesen, dass er ein gutes, ein vielfach diskutiertes, abgestimmtes Konzept vorgelegt hat. Unsere Erwartung in Thüringen ist, dass die drei Außenstellen, die wir haben, wie im Konzept vorgesehen als Anlaufstellen erhalten bleiben. Aber ich bin Dr. Wurschi als dem Aufarbeitungsbeauftragten hier in Thüringen sehr, sehr dankbar, dass er ein Konzept vorgelegt hat, diese Außenstellen als Erinnerungsorte, als Teil unserer Erinnerungskultur weiterzuentwickeln. Das ist genau der richtige Ansatz.

Wir haben dem Landtag ein Konzept umfassender Aktivitäten zum 30. Jahrestag der Friedlichen Revolution und dem Mauerfall vorgelegt. Die Resonanz auf diese Veranstaltungen ist sehr erfreulich. Diese Erinnerungsaspekte beginnen nicht im Herbst ´89, sondern, wie Frau Pelke dargestellt hat, bereits mit der gefälschten Kommunalwahl und haben auch im Frühjahr jenes Jahres genau mit dem Bezug darauf begonnen.

Ich bin der Präsidentin des Thüringer Landtags und all denjenigen, die an der Demokratie- und Wahlkampagne des Thüringer Landtags beteiligt sind, sehr dankbar, dass wir auch im 30. Jahr der Friedlichen Revolution an den Wert freier Wahlen erinnern. Die Aufforderung dieses Landtages ist: Geht zu dieser Wahl, mischt euch ein, beteiligt euch.

Das ist ein ganz praktisches Beispiel für 30 Jahre Friedliche Revolution und unseren Umgang damit. Das ist gelebte Erinnerungskultur, die das Geschehene nicht historisiert, sondern die gesammelten Erfahrungen fruchtbar macht für die Bewältigung der Herausforderungen unserer Demokratie und im Bewusstsein für den unschätzbaren Wert der Freiheit.

Vielen Dank.