19.12.2017

Öffentliche Güter und kulturelle Daseinsvorsorge

Bilanz zu zehn Jahren Kulturenquete des Bundes

Erschienen in: Hoff, Benjamin-Immanuel, Öffentliche Güter und kulturelle Daseinsvorsorge, in: Kulturpolitische Mitteilungen, Heft 159, 4/2017, S.50ff.

Der Beginn der Kultur-Enquete fällt in jene Phase, die Frank Nullmeier 2010 in einer Expertise als Hochphase neoliberalen Denkens in der Bundesrepublik bezeichnete. War die erste rot-grüne Bundesregierung mit dem Bündnis für Arbeit auch nach Lafontaines Rücktritt noch neokorporatistisch beeinflusst, entsprachen die Hartz-Gesetze und die Agenda 2010 ab 2003 idealtypisch neoliberalen Denkmustern.

Als die Enquete-Ergebnisse publiziert und rezipiert wurden, waren zwar Haarrissen in der neoliberalen Diskurshegemonie aufgrund der Lehman-Pleite und in deren Folge der weltweiten Banken- und Finanzkrise erkennbar, doch konfigurierte sich der polit-ökonomische Mainstream in einer Weise neu, die von Nullmeier mit großer Weitsicht wie folgt beschrieben wurde: die ungelösten theoretischen und politisch-ideologischen Probleme des Neoliberalismus mit konzeptionellen Experimenten zwischen Radikalneoliberalismus und neuen Formen von Nationalismus versuchen zu lösen, führt letztlich zur Verdichtung in Form eines neuen Rechtspopulismus.

Eine rückblickende Würdigung der Arbeit und Ergebnisse der Kultur-Enquete muss diese Rahmenbedingungen beachten, wenn geprüft werden soll, inwieweit es ihr gelang, sich vom Mainstream freizuschwimmen. Es kann bereits an dieser Stelle kritisch festgehalten werden, dass die Kultur-Enquete eher affirmativ zur neoliberalen Diskurshegemonie verblieb, als ihr ein alternatives Kultur- und Gesellschaftsverständnis entgegenzusetzen. Der Begriff »neoliberal« findet sich im 512 Seiten umfassenden Bericht genau einmal in Fußnote 55 – und dort keineswegs kritisch. Dies ist zunächst nur ein Indiz aber gleichwohl mehr als nur ein Fingerzeig. Vergleicht man die Passagen zur sensiblen Rolle der Kultur und ihres besonderen Schutzbedürfnisses in Freihandelsabkommen mit der hochanalytischen und kritischen Begleitung der TTIP-Verhandlungen seitens des Deutschen Kulturrates, tritt die Kommissions-Blindheit hinsichtlich der Interdependenz von Kultur- und Gesellschaftspolitik deutlich hervor. Es dürfte diese Schwachstelle eine Erklärung dafür sein, warum die Wirkung der Kultur-Enquete hinter anderen Enquete-Kommissionen zurückblieb. Sorgte z.B. die Psychiatrie-Enquete, die 1974 nach fünfjähriger Tätigkeit ihre Ergebnisse vorlegte, dafür, dass wichtige Humanisierungsprozesse in der Psychiatrie vorankamen und die ambulante psychiatrische Versorgung eingeführt wurde, verlief die Rezeption der Kultur-Enquete weitgehend im Feuilleton und kulturaffinen akademischen Kreisen oder Fachverbänden.

Dies spricht nicht gegen die Relevanz der Analysen und Erkenntnisse der Kultur-Enquete. Es zeigt jedoch, dass die Forderungen nach dem Staatsziel Kultur im Grundgesetz und der Kultur als kommunaler Pflichtaufgabe wenig konkrete Wirkung auf die konkreten kulturpolitischen Verhältnisse und die soziale Situation der Kulturschaffenden haben. Die Debatte um Kultur als kommunale Pflichtaufgabe ist seit dem Vorliegen des Berichts aus der Kulturpolitik nicht mehr wegzudenken. Aber wenn wir ehrlich sind, auch keinen Schritt vorangekommen und verbleibt in Sonntagsreden.

In Heft 158 der Kulturpolitischen Mitteilungen würdigte Norbert Sievers den von der Kommission konzipierten umfassenden Begriff der »kulturellen Infrastruktur« und legte dar, dass das Kulturgesetz NRW diesem Infrastrukturbegriff in hervorragender Weise Rechnung trüge. Ob das Kulturgesetz NRW aufgrund seines stark programmatischen aber wenig regulativen Charakters tatsächlich Vorbildwirkung für andere Länder hat oder eher die durch es angestoßenen Maßnahmen wie Kulturberichterstattung etc. prägende Wirkung entfalteten, muss an anderer Stelle diskutiert werden. Hier interessiert vielmehr, ob die begriffliche Abgrenzung der »Kulturinfrastruktur« von denen der »kulturellen Grundversorgung« resp. der »kulturellen Daseinsvorsorge« seitens der Kultur-Enquete sinnvoll war.

Mit Blick auf die bundesweit intensiven Bemühungen vieler Kommunen, die in den 1990er Jahren privatisierte Daseinsvorsorge-Aufgaben und Stadtwerke wieder zu re-kommunalisieren, also in öffentliche Verantwortung zurückzuholen, spricht viel dafür, dass wer über Kulturinfrastruktur reden will, über kulturelle Daseinsvorsorge und Grundversorgung nicht schweigen darf.

Die Kultur-Enquete hingegen spricht von der »Sicherung der kulturellen Infrastruktur«, weil ihrer Auffassung nach die Begriffe »Grundversorgung« und »Daseinsvorsorge« sich vorrangig auf staatliches und kommunales Handeln beziehen und damit nur auf einen Teil der kulturellen Aktivitäten verschiedener Träger abbilden. Die Kommission sah diese in einer öffentlich-privaten »Verantwortungsgemeinschaft«.

Demgegenüber ist die Kommissionsfeststellung: »Der Staat und die Kommunen [stehen] in der Verantwortung, die kulturelle Infrastruktur zu gewährleisten. Der öffentliche Auftrag mündet daher in einen Kulturgestaltungsauftrag, der aktives staatliches und kommunales Handeln erfordert.« Auf dieser analytischen Basis wäre jede Strategie zu entwickeln und unter Verzicht auf eine »ÖPP-Verantwortungsgemeinschaft«  zum Ausgangspunkt zu machen und dadurch die Debatte vom Kopf auf die Füße zu stellen. Kultur ist in diesem Sinne zunächst und in erster Linie »öffentliches Gut«, das in öffentlicher Verantwortung zu erbringen ist – ergänzt durch das Investment und Engagement privater Dritter.

Die Schrumpfungsprozesse bei städtischen Bühnen und Orchestern in öffentlicher Trägerschaft seit mehr als 30 Jahren, Gehaltsabständen von mehr als einem Viertel zum Flächentarifvertrag in den Bühnen- und Orchesterbetrieben, die richtige Forderung nach Einführung von Mindestgagen und eine Beendigung der Selbstausbeutung in der öffentlich-finanzierten Soziokultur, zeigen die Relevanz einer  selbstbewussten Wiederaneignung des Begriffs »kulturelle Daseinsvorsorge«. Sie muss zwei Aspekte umfassen:

  • Gewährleistung der kulturellen Grundversorgung: Erforderlich sind Kriterien hinsichtlich ihres Umfangs und ihrer Qualität. Nicht abstrakt, sondern als konkrete Gegenstände zum Beispiel in den Raumordnungs- und Landesentwicklungsplänen der Länder. Aussagen darüber, welche kulturelle Mindestausstattung Grund- oder Oberzentren vorhalten sollten, würden in den Kommunen möglicherweise mehr normative Wirkung entfalten, als der vierte Aufguss der letzthin akademischen Debatte über Kultur als Pflichtaufgaben. Insbesondere dann, wenn zugleich Festlegungen für den Kulturanteil an den freiwilligen Leistungen in den von der Kommunalaufsicht zu genehmigenden Gemeindehaushalten getroffen würden.
  • »Gute Arbeit in öffentlichen Kulturbetrieben«: Kulturelle Daseinsvorsorge muss ins angewandte Verhältnis zum gewerkschaftlichen Ansatz »guter Arbeit« werden, um das strukturelle Lohndumping in öffentlichen Kulturbetrieben und Kulturprojekten zu überwinden. In jeder Tarifrunde der öffentlichen Hand legen Streiks in Stadtwerken und Kindertagesstätten Kommunen lahm. Der Kulturbereich ist dazu aus unterschiedlichen Gründen nicht in der Lage, wofür es drei Ursachen gibt:
    • Die öffentlichen Kulturbetriebe und öffentlich finanzierten Kulturprojekte sind von der Tarifentwicklung vielfach abgekoppelt. Ein Bewusstsein für diese Ungleichbehandlung ist weitgehend nicht vorhanden.
    • Die Zersplitterung in diverse berufsständische Interessenvertretungen und Spartengewerkschaften trägt nicht zur gemeinsamen Interessenvertretung bei und verhindert dadurch wirkungsmächtiges Handeln zur Veränderung des status quo
    • die Kulturakteure sind in der Regel Prototypen der selbstausbeutenden Arbeitskraftunternehmer/-innen.

Baden-Württemberg war 2016 das einzige Bundesland, dass im Landeshaushalt eine reguläre Tarifanpassung für die Landeskulturbetriebe vorgesehen hatte. Diese Ausnahme muss der Regelfall werden und entsprechende Mittel für die Kommunen vorgesehen werden.

Die Psychiatrie-Enquete wurde in den 1980er Jahren durch eine Regierungskommission fortgeführt. Vielleicht ist es an der Zeit, eine Dekade später, auch die Kultur-Enquete im Lichte der heutigen Erkenntnisse und konkreten Herausforderungen und sozialen Bedingungen in anderer Form weiterzuentwickeln.