16.09.2016

Kurs rot-schwarz statt rot-rot im Nordosten

Beitrag auf dem Blog von www.freitag.de

Vergegenwärtigen wir uns noch einmal die politische Lage in Mecklenburg-Vorpommern nach der Landtagswahl vom 4. September 2016:

  • Die AfD ist die Gewinnerin der Wahl, obwohl sie deutlich unter dem Ergebnis von Sachsen-Anhalt verblieb. Sie zog in den neunten Landtag ein, wurde aus dem Stand zweitstärkste Kraft und überholte erstmals die Union.
  • Die SPD verlor fünf Prozentpunkte, konnte aber Dank der Popularität des Ministerpräsidenten stärkste Partei bleiben und kann das Land weiter regieren.
  • DIE LINKE verfehlt nahezu alle Wahlziele und erreicht ihr bislang schlechtestes Ergebnis seit 1990. Sie stellt künftig die mit Abstand kleinste Fraktion im Landtag, nachdem sie 15.4% ihrer Wähler/-innen verlor.
  • Die CDU geht ähnlich gerupft aus der Landtagswahl hervor. Von der AfD im "Merkelland" auf Platz 3 des Parteienspektrums verwiesen zu werden hat eine nicht zu unterschätzende politische Symbolkraft.

Denkbar waren zwei Regierungsbündnisse: Die Fortsetzung des seit zehn Jahren bestehenden rot-schwarzen Regierungsbündnisses oder die erneute Bildung einer rot-roten Koalition, die bereits zwischen 1998 und 2006 bestanden hatte.

Keine auf Mecklenburg-Vorpommern begrenzte Entscheidung

Nach knapp einwöchigen Sondierungen und zwei Tage vor der Abgeordnetenhauswahl in Berlin hat die SPD Mecklenburg-Vorpommern entschieden, Koalitionsverhandlungen mit der CDU aufzunehmen. Das damit verbundene Signal bleibt nicht auf Mecklenburg-Vorpommern beschränkt, sondern auch bundespolitische Implikationen haben.

Spätestens mit dem Leipziger Bundesparteitag hatte die SPD erklärt, ihre koalitionspolitische Flexibilität erweitern zu wollen und Bündnisse mit der CDU nur dann einzugehen, wenn sie unvermeidbar seien. Die Entscheidung von Güstrow lässt davon nichts spüren.

Landespolitisch mag es dafür Abwägungsgründe gegeben haben. Warum die Entscheidung dennoch auch landespolitisch für die SPD langfristig negative Folgen haben kann, wird unten gezeigt.

Bundespolitik wird durch die Koalitionsentscheidung zugunsten der CDU der Spielraum des potenziellen Kanzlerkandidaten Gabriel nicht größer, sondern kleiner. Gabriel kann mit einer gewissen Aussicht auf Erfolg nur dann tatsächlich mit dem Anspruch Kanzlerkandidat zu sein die SPD in die Bundestagswahl 2017 führen, wenn die rechnerisch nicht gänzlich ausgeschlossene Option eines Bündnisses aus SPD, Grünen und LINKEN nach der Bundestagswahl soweit untermauert ist, dass daraus eine sich bis September des kommenden Jahres elektoral selbsttragende Wahrscheinlichkeit wird. Mit jedem Bündnis aus SPD und CDU wird diese selbsttragende Wahrscheinlichkeit geringer. Eine Option, dass sich die FDP berappelt und Außenminister Steinmeier arbeitsteilig wie 2013 die Ampel-Option bedient, steht zumindest bislang nicht zur Verfügung.

Insoweit stellt sich bereits heute die Frage, ob die sozialdemokratische Bündnisentscheidung in Schwerin für die CDU bereits einen Vorgeschmack auf Saarbrücken macht oder ob dort rechnerische Mehrheiten - gerade im ehemaligen Lafontaine-Land - genutzt werden.

Anderenfalls geht jeder Spitzenkandidat an der Seite einer geschwächten Kanzlerin und getrieben von Horst Seehofer als Vizekanzlerkandidat in den Wahlkampf.

AfD-Agenda-Setting statt Mitte-Links-Agenda

Wie bereits angedeutet, sprechen auch landespolitische Erwägungen gegen die Entscheidung der Nordost-SPD.

Es gibt, wie zu zeigen sein wird, gute Argumente dafür, dass angesichts der Erschütterungen im dortigen Parteiensystem die Entscheidung über die künftige Regierungskoalition einen dialektischen Schritt erfordert hätte: Nur gemeinsam mit der LINKEN gelingt der SPD der Weg zurück in die politische Mitte und aus dem Themenfeld der AfD.

Die AfD nährt sich von allen Parteien. Wie Horst Kahrs im Wahlnachtbericht Mecklenburg-Vorpommern zeigt, fanden und finden sich unter ihren Wähler/-innen ebenso wie unter den Anhänger/-innen aller Parteien Menschen, die "die Verteidigung von Etabliertenvorrechten für wichtiger halten als das Grundgesetz, die als demokratisch nur durchgehen lassen, was ihren Wünschen entspricht und die vermeintliches 'Parteiengezänk' durch autoritäre Führung ersetzen wollen".

Ihnen bot sich die AfD als Sammlungsbewegung an. Alexander Fischer und der Autor dieses Textes haben jüngst auf diesem Blog im Text "Hinter Schwerin liegt der Strand" ausführlich anhand von Allensbach-Daten auf den Zusammenhang hingewiesen zwischen erodierendem Sicherheitsgefühl, der Wahl der AfD und der Notwendigkeit, das mit der Wahl der AfD gesetzte Zeichen an die etablierten Parteien ernst zu nehmen, ohne mit der AfD um Diskurshoheit zu konkurrieren. Unsere Schlussfolgerung lautete: Sicherheit sozial und liberal zu buchstabieren.

Ein Bündnis aus SPD und Linkspartei in Mecklenburg-Vorpommern hätte diese Aufgabe bewältigen können, während eine Koalition aus SPD und CDU in Schwerin dazu strukturell unfähig ist. Die Gründe dafür liegen auf der Hand:

1. Mit der AfD beginnt sich eine Partei rechts von der Union zu etablieren. Die daraus resultierenden Konflikte sind in und zwischen den Unionsparteien bereits offen ausgebrochen. Die Tendenzen des Abrückens von der Kanzlerin gehen stets einher mit einem Abrücken von der thematischen Modernisierung der CDU und hin zu traditionellen konservativen Wählerschichten und deren Themenagenda. Die Union muss in den Augen derjenigen, die diesen Kurs verfolgen, den Konservatismus neu beleben. Nicht zuletzt der bisherige und künftige Vize-Ministerpräsident Lorenz Caffier (CDU) steht inhaltlich und persönlich für die gescheiterte Strategie, die Abwanderung von ehemaligen CDU-Wähler/-innen durch Aufgreifen der Tonlage. der Wortwahl und der Inhalte der AfD stoppen zu können.

Das Zauberlehrling-Dilemma Caffiers wird jedoch nicht auf die CDU begrenzt bleiben.

Die SPD, obwohl stärkerer Koalitionspartner, wird aus Koalitionsräson einerseits und halber Überzeugung andererseits im Sog der CDU auf jener Welle mitreiten müssen, die an Ende wie jede Welle brechen wird.

Festzuhalten bleibt: Anbiederung und andere Formen des Ähnlichkeitswettbewerbs nützen nur dem Original (H. Kahrs).

2. Bundespolitisch hat die Kanzlerin durch ihre Politik der asymmetrischen Demobilisierung der SPD den Weg in die Mitte verbaut. Die SPD müsste folglich aus dem Dilemma eine Strategie entwickeln, die das Dilemma selbst zum Ausgangspunkt einer Suche nach dem Ausweg macht: Ohne CDU in einem Mitte-Links-Bündnis als Mitte erkennbar zu werden.

In Mecklenburg-Vorpommern hätte die SPD beginnen können, dies zu erproben. Die empirischen Erkenntnisse der Landtagswahl geben dazu bei genauer Betrachtung gute Argumente an die Hand.

3. Allensbach-Untersuchungen zeigen, dass in den vergangenen Monaten im Kontext der Flüchtlingszuwanderung und der gestiegenen Terrorgefahr im Verbund mit konkreten Anschlagsereignissen, die Besorgnis in den Feldern Innere Sicherheit/Kriminalität, Zuwanderung aber auch bei dem von Tagespolitik unabhängigen Unsicherheitsgefühl zugenommen hat. Sagten 29 Prozent der Befragten im Sommer 2014, dass sie eine allgemeine Unsicherheit verspürten, wie es weitergeht, lag die Zahl derjenigen im Januar 2016 bei mehr als 50 Prozent. Weitere Allensbach-Erkenntnisse verdeutlichen, dass die Bürger/-innen, aktuell vor die Auswahl gestellt, sich zwischen Freiheit und Sicherheit entscheiden zu können, zu 54 Prozent für Sicherheit entschieden; bei den AfD-Anhänger/-innen stieg dieser Wert auf 63 Prozent.

In Mecklenburg-Vorpommern schaute eine knappe Mehrheit der Befragten eher zuversichtlich in die Zukunft, als beunruhigt. Differenziert zwischen den Landesteilen zeigt sich freilich, dass der Landesteil Vorpommern überwiegend beunruhigt ist, während in Mecklenburg die Zuversicht vorherrscht.

Der LänderTREND Mecklenburg-Vorpommern von Infratest dimap im Juni 2016 zeigte vier Themenfelder, bei denen die Bevölkerung eher zufrieden war (Verkehr, Energie, Flüchtlingsintegration, Wirtschaftspolitik mit durchschnittlich 52% Zufriedenheit) und drei Themenbereiche, in denen die Unzufriedenheit überwog: die Bildungspolitik (66% Unzufriedenheit), die Bekämpfung der Kriminalität (62%) und die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit (60%).

Die Wählerinnen und Wähler verteilten die vermutete Problemlösungskompetenz bei allen Themen eher auf die Mitte-Links-Parteien als auf die Union, der wiederum bei der Kriminalitätsbekämpfung und der Wirtschaftspolitik eine höhere Kompetenz zugestanden wurde.

Nicht zuletzt zeigten die wahlentscheidenden Themen eher in Richtung einer Mitte-Links-Agenda: 35% Zuwanderung/Integration, 27% Soziale Gerechtigkeit/Soziales, 20% Arbeitsmarkt. Kriminalitätsbekämpfung folgte mit 10% auf dem drittletzten Platz.

4. Die SPD hatte - fassen wir 2. und 3. schlussfolgernd zusammen - die Gelegenheit, in einem Mitte-Links-Bündnis sowohl der Problemlösungskompetenz-Erwartung als auch der Themenagenda der Wähler/-innen Rechnung zu tragen.

Sie hätte darüber hinaus, basierend auf einer Koalition der Sozialen Sicherheit, auf dem Feld der Inneren Sicherheit Handlungsfähigkeit als Ministerpräsidentenpartei beweisen können durch liberale aber wirksame Sicherheitspolitik und dadurch wirksam den landespolitischen Diskurs weg von der AfD-Themenagenda verschieben können.

Dadurch wäre sie unberührt vom sie nun begleitenden Fehler der Caffier-CDU, die aus direkter Konkurrenz zur AfD erfolglos glaubt, die AfD mit deren Politikangeboten bekämpfen zu können.

Extreme Herausforderung für DIE LINKE und Gefahr langfristiger Erosion einer Mitte-Links-Option

Die Frage nach der Zukunft des Landes ist, wie Horst Kahrs feststellt, "immer auch die Frage nach der Zukunft der eigenen Region, des Dorfes, der Kleinstadt, des Berufes und ob man mit seinen Vorstellungen vom richtigen Leben politische Resonanz erhält".

Die Wähler/-innen haben am 4. September allen etablierten Parteien ein Armutszeugnis ausgestellt und einen Denkzettel verpasst. Die SPD hat sich entschieden, darauf mit der Fortsetzung der Politik der vergangenen zehn Jahre, koalitionspolitisch und personell zu reagieren.

Sie zwingt damit DIE LINKE in die Rolle der Opposition und in die Gefahr, als antagonistischer Zwilling der AfD wahrgenommen zu werden, im Bestreben, als kleinste Fraktion Opposition s0wohl zur Regierung als auch zur AfD zu sein. Für DIE LINKE die wohl schwerste Herausforderung ihrer jüngeren Geschichte.

Im schlechtesten Fall beraubt die SPD sich damit langfristig der Option, in einem Mitte-Links-Bündnis das Land sozial gerecht und liberal zu gestalten und den Bürger/-innen Sicherheit und Vertrauen zurückzugeben, ohne auf dem Feld der AfD spielen zu müssen.