19.09.2011
Horst Kahrs/Benjamin-Immanuel Hoff

DIE LINKE im Stresstest - Zwischenbilanz des Wahlzyklus 2010 bis 2012

Für DIE LINKE endet der Wahlzyklus ernüchternd, wichtige Wahlziele wurden zuletzt verfehlt:

- Mit dem Anspruch, in ostdeutschen Ländern den Ministerpräsidenten zu stellen, ist die Partei zweimal sehr deutlich gescheitert.

- Gescheitert ist sie auch mit dem erneuten Versuch, im Südwesten in die Landtage einzuziehen.

- Statt Stimmenzuwächse zu erzielen stagniert sie im Großen und Ganzen.

Mit der Berlin-Wahl 2011 ging eine Regierungsbeteiligung verloren, was an sich nach zwei Legislaturperioden ein eher normaler demokratischer Vorgang ist, im Gesamttext der Wahlen und der bundesweiten Umfragewerte aber geeignet ist, das Bild von einer Partei auf der Abwärtsrutsche mit frischer Farbe zu zeichnen. Darüber gehen die Anzeichen von Stabilität leicht unter.

Gelegenheit also, eine Blick auf den aktuellen Stand der Parteientwicklung zu ziehen, der sowohl innerhalb der Partei wie auch von außen als nicht zufriedenstellend wahrgenommen wird.

Betrachtet man die zurückliegenden Wahlergebnisse, so lassen sich die Hürden, die vor einer Wende in den Umfragen stehen, in drei Gruppen ordnen:

(1) Im Zweifelsfall fehlt es an einer erfolgreich kommunizierbaren, breit getragenen Funktion der Partei für rote und grüne Wechselwähler, für die taktischen Wähler, die zumindest in Phasen der Wechselstimmung mehr erwarten als Opposition und das Zurechtrücken der Fehler anderer Parteien („Motor“-Frage). In diesen Bereich gehört auch, dass es immer noch deutliche Mehrheiten gegen eine Regierungsbeteiligung der Linken in der westdeutschen Wahlbevölkerung und gegen einen linken Ministerpräsidenten in der ostdeutschen Wahlbevölkerung gibt, die Akzeptanz der Linken kaum über das eigene Wählerpotential hinausreicht.

(2) Die innerparteilich hoch gehandelten Themen interessieren die Wähler weniger oder gar nicht, führen aber, wenn sie zu etwas führen, zu Zweifeln und Entfremdung bei Wählerschichten, die 2005-2009 für DIE LLINKE gewonnen wurden.

(3) DIE LINKE verliert bei den jüngeren und jungen Wählern, insbesondere denjenigen mit großer Nähe zu „digitalen Medien“. Hierbei handelt es sich nicht nur um eine Frage der Themen (libertäre Themen, Bürgerrechtsthemen), sondern um Fragen von Lebenswelten und Milieus. Mit einiger Zuspitzung könnte man formulieren, dass der Wahlerfolg der Piraten in Berlin der erste Erfolg einer Partei ist, die versucht die Einstellungen, Themen, Anliegen und den Politikstil von Bürger/-innen (vor allem Bürgern) unter 45 Jahren, die in den neuen, prekären Verhältnissen „kreativer Jobs/Industrien zurechtkommen müssen und zurechtkommen, auf die politische Bühne transportiert. Nach allem, was die Wahlforschung bisher zu sagen weiß, nähren sich die Piraten aus dem Stimmenreservoir des linken Lagers und steht bei ihren Wählern das Thema „Soziale Gerechtigkeit“ als wahlentscheidendes Thema hoch im Kurs. Nebenbei haben die Piraten durch ihren Erfolg in Berlin der LINKEN bundesweit den Nimbus genommen, die Partei zu sein, durch deren Wahl man zumindest die etablierten Parteien „aufmischen“ kann.

Unter diesen Gesichtspunkten würden es sich diejenigen, die das Wahljahr 2011 für DIE LINKE mit der Feststellung zusammenfassen, dass die Aussagen der Parteiführung über „Wege zum Kommunismus“, Gratulationen an Fidel Castro sowie mindestens unklare Aussagen zur Unmenschlichkeit und Inhumanität des Mauerbaus für die ausbleibenden Wahlerfolge verantwortlich seien, es sich zu einfach machen.

Denn bei aller berechtigten Kritik an diesen Aussagen sind nicht die Aussagen selbst – die es in der Vergangenheit der PDS und auch der LINKEN immer wieder gegeben hat – das Problem. Das Problem liegt tiefer und zwar darin, dass es der Partei bislang nicht gelungen ist, sich auf die veränderten politischen und gesellschaftlichen Handlungsbedingungen der Bundesrepublik Deutschland im Jahr Drei der internationalen Wirtschafts-, Währungs- und Finanzkrise sowie sechs Jahre nach der Abwahl von Rot-Grün einzustellen.

Es könnte also formuliert werden: Die zitierten Aussagen der Parteiführungen sind inhaltlich problematisch und das Gegenteil dessen, was eine moderne Linkspartei ausdrücken sollte, doch zu einem tatsächlichen Problem der Partei werden sie dann, wenn sie die einzigen Äußerungen sind, die derzeit von der LINKEN gesellschaftlich wahrgenommen werden.

Ratschläge von Außen

Der taz-Autor Stefan Reinicke erkennt im Hinblick auf den diesbezüglichen Zustand der LINKEN drei Ursachen[1]:

(1) „Die gegenwärtige Malaise der Linkspartei ist die Rückseite ihres Aufstiegs nach 2005. Damals etablierte sie sich als Protestpartei gegen die weltanschaulich entkernte SPD. Doch seit die SPD nicht mehr regiert, sucht die Linkspartei vergeblich eine neue Rolle.“

(2) „Oder schlimmer noch: Der Lafontaine-Flügel tut einfach so, als wäre nichts geschehen. Routiniert rattert man das Mantra: Weg mit Hartz IV, Abzug aus Afghanistan, Weg mit der Rente mit 67 (alles Vergehen der SPD!) herunter und prügelt im Bundestag mit starrem Blick auf die Sozialdemokraten ein. Eine Oppositionspartei, die so auf Abgrenzung von einer anderen Oppositionspartei fixiert ist, ist eine kuriose Erscheinung.“

(3) „Seit der Fusion mit der WASG gibt es sogar ein backlash in Geschichtsfragen. Fatal ist, dass Ex-Sozialdemokraten wie Oskar Lafontaine die Linksextremen als Fußtruppen im Kampf gegen die ihrer Ansicht nach zu soften Ostpragmatikern adoptiert haben. (…) Die Moral-Desaster in Geschichtsdebatten sind der Hartz-IV Klientel der Partei in der Tat eher egal. Doch die Entfremdung rot-grüner Wechselwähler von der Linkspartei nimmt mit jedem Eklat zu.“

Seine Empfehlungen lassen sich wiederum in drei Punkten zusammenfassen:

(1) Die Alternative wäre sich als Motor eines rot-rot-grünen Lagers zu verstehen.

(2) „Die Partei muss ein rationaleres Verhältnis zur SPD entwickeln - auch im Osten. Im Westen ätzen viele Genossen, dass Regierungsbeteiligungen im Osten doch nur zu Anpassung führen. Der sektenhafte Ton dieser Kritik ist unüberhörbar - aber das Problem ist real. Gerade aber wenn zwei in ihrer Praxis sozialdemokratische Parteien regieren, ist es zentral, Unterschiede symbolisch zu markieren. Das fällt den Ost-Genossen, die froh sind endlich als seriöser Regierungspartnern zu gelten, äußerst schwer.“

(3) Die Linkspartei bräuchte somit einen Dreischritt als Ausweg aus diesem Dilemma:

- ein selbstbewusstes Verhältnis zur SPD, das frei von rituellem Abgrenzungszwang ist

- eine scharfe, verbindliche Abgrenzung vom autoritären Staatssozialismus

- ein praktisches Verständnis davon, was „radikale Realpolitik“ in der Realität und nicht nur als eigener Anspruch an sich selbst bedeuten kann.

„Totgesagte leben häufig länger, manchmal lange“

Aus dem bislang nicht eingelösten Anspruch, in einer rot-roten oder rot-rot-grünen Konstellation zum „Motor für einen Politikwechsel“ zu werden, und der Tatsache, dass DIE LINKE bei starkem Gegenwind auf der Stelle tritt nun wiederum zu schlussfolgern, dass es Zeit wäre, der LINKEN das Totenglöckchen zu läuten greift jedoch ebenfalls zu kurz.

In einem Beitrag für die Zeitschrift für Parlamentsfragen befasste sich Patrick Horst unter der Überschrift „Totgesagte leben häufig länger, manchmal lange“ mit dem Auf- und Abstieg von FDP und Grünen.[2]

Im Rahmen seiner Betrachtungen von FDP und Grünen kommt er zu sechs Schlussfolgerungen[3], von denen zwei auch auf DIE LINKE angewendet werden können:

(1) Niederlagenserien, die in der Geschichte sowohl der FDP als auch der Grünen vorzufinden sind, bedeuten nicht zwangsläufig das Ende der jeweiligen Partei, sondern sind vielmehr die Schattenseiten der, den Niederlagen vorhergehenden Serien großer Wahlerfolge. Der Volksmund kennt dafür den Begriff „Wer hoch steigt, wird tief fallen“.

(2) Bei der Betrachtung von Niederlagen sind die vorhandenen regionalen Gegebenheiten zu berücksichtigen. So wie die Grünen und die FDP im Osten aufgrund parteipolitisch amorpher Verankerung kein Abonnement auf Mitgliedschaft im Landtag haben, kann auch DIE LINKE beim bisherigen Stand ihres Parteiaufbaus und ihrer lokalen, z.B. in Kommunalmandaten ausgedrückten Verankerung, nicht davon ausgehen, jedes westdeutsche Landesparlament wieder erobern zu können. Das ist „zwar durchaus unerfreulich und weist auch auf ein strategisches Versagen der Partei in der Vereinigungspolitik hin“[4], dennoch kann angenommen werden, dass ein Einzug der Partei in den Deutschen Bundestag – anders als bei der früheren PDS nicht in Frage steht.

Was tun? Was tun.

Misserfolge gehören zu demokratischen Abstimmungen wie Erfolge. Ebenso normal ist es, dass jede Erfolgswelle einmal ihr Ende findet und sich Katerstimmung breit macht. Dramatisch wird es erst, wenn Niederlagen nicht »gelesen« und nicht in den politischen Erfahrungsschatz der Partei hineingearbeitet werden.

DIE LINKE steht seit ihrem größten Erfolg, den Bundestagswahlen 2009, vor ihrer größten Herausforderung: Ist sie eine lernfähige Organisation, die sich unter veränderten Bedingungen behaupten kann? Ist sie unter diesen Bedingungen in der Lage, mit ihrer politischen und sozialen Pluralität politisch konstruktiv umzugehen? Was ist das Versprechen von 2005, eine neue linke Partei zu gründen, die aus den Fehlern und falschen Kontroversen des vergangenen Jahrhunderts gelernt hat, im politischen Stresstest wert?

Die jüngsten Wahlergebnisse nötigen die Partei zur

(1) Analyse und Bewertung der seit 2009 veränderten bundespolitischen Verhältnisse, der gesellschaftlichen, sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen durch die große Wirtschafts- und Finanzkrise;

(2) Bilanz der bisherigen Wahlergebnisse, der Zusammensetzung der Wähler- und Anhängerschaft und ihrer Erwartungen;

(3) Auswertung des inneren Zustandes, der (demografischen) Entwicklung der Mitgliedschaft, der strukturellen organisatorischen Schwächen und der sozialen Verankerung der Partei.

Nicht weil alles im Argen liegt, sondern weil es besser werden muss, um die nächsten Aufgaben wieder erfolgreicher zu meistern.

Die neue LINKE in Deutschland ist entstanden als eine breite Sammlungsbewegung gegen den neoliberal inspirierten Regierungskurs von Schröder und Fischer. Mitgliedschaft und Anhängerschaft sind sozial und politisch heterogen. Sie entwickeln unterschiedliche Erwartungen an die Partei und ihre Politik. Die anhaltenden Wahlerfolge 2005 bis 2009 enthalten aber eine zentrale Botschaft an die neue Partei: kein Rückfall in die alten Zeiten von Ost und West, von PDS und WASG oder in die Gedankenwelt der »Westausdehnung«.

Die Wähler/-innenschaft der LINKEN stammt aus vielen sozialen Schichten. Darüber gibt es »objektive« soziostrukturelle Daten, in denen sich die Wähler/-innen selbst einstufen. Auf der gesellschaftlichen »Oben-Unten«-Skala ordneten sich 25% bis 30% der LINKEN-Bundestagswählerschaft 2009 »Unten« ein, rund die Hälfte in der gesellschaftlichen »Mitte« und ein knappes Viertel »Oben«. Gefragt nach ihrer Selbsteinstufung auf der politischen »Links-Rechts«-Skala sahen sich 60% der LINKEN-Wähler/-innenschaft politisch »Links«, ein knappes Drittel verortete sich politisch in der »Mitte« und ein Zehntel »Rechts«. (siehe hierzu die Tabellen im Anhang)

Alle genannten Zahlen sind nicht streng repräsentativ, gleichwohl im Kern typisch, für Großstädte im Westen mehr, für manche Regionen im Osten weniger: Die Mehrheit der linken Wählerinnen und Wähler sieht sich in der sozialen Mitte, knapp zwei Drittel sehen sich links. Mit einer politisch-strategischen Orientierung allein und vornehmlich auf Erwerbslose und (prekäre) Niedrig-Entlohnte wäre kaum dauerhaft ein Parlamentseinzug möglich. Umgekehrt drohte ohne sie die Partei überflüssig zu werden.

Dieser Vielschichtigkeit der Wähler/-innenschaft muss die Partei in ihrem gesamten Erscheinungsbild Rechnung tragen: in der Mitgliedschaft, unter den Funktionsträgern, in der politischen Programmatik, Symbolik und Praxis. Wo dies dauerhaft nicht der Fall ist, droht der Kontakt zu den entsprechenden sozialen Schichten flüchtig zu bleiben oder gar verloren zu gehen. Die Wählerbindung (»Konsolidierung«) gehört zu den zentralen Aufgaben unserer gegenwärtigen Entwicklungsetappe.

Wichtig hierbei ist, die politische Klammer deutlich zu machen, die die Partei ihrer heterogenen Wähler/-innenschaft anbietet: Die Partei steht entschieden auf der Seite der Rechte der »abhängigen Arbeit« gegen Unternehmer und Kapital. Sie stellt dabei die Interessen von Erwerbslosen und niedrigentlohnten Prekären, mehrheitlich meist Frauen, nicht zugunsten einer »Kernarbeiterschaft« hinten an, um wie SPD und Grüne in ihrer Politik die Hierarchisierung sozialer Interessen und Positionen entlang ihrer Stellung im Kapitalverwertungsprozess politisch zu verdoppeln. Ein zentraler Bezugspunkt solch politisch-praktisch werdender Klassensolidarität sind die öffentlichen Einrichtungen, die Verteidigung gemeinschaftlicher Lösungen gegen die private Selektion entlang der Kaufmacht des Geldes.

Mit diesem strategischen Kompass kann DIE LINKE für unterschiedliche soziale Schichten wählbar bleiben: soziale Gerechtigkeit, Solidarität, kollektive und kooperative Lösungen.

Wenn es gelingt, immer wieder politische Konfrontationslinien entlang solcher Themen zu eröffnen, die die eigene Anhängerschaft zusammenführen und nicht entlang ihrer unterschiedlichen politischen und sozialen Selbsteinstufung auseinandertreiben, können auch die unterschiedlichen Einstellungen in der eigenen Wähler/-innenschaft zu Fragen wie Atomkraft, Einwanderung, Innere Sicherheit weniger „neutralisiert“ als vielmehr konzeptionell im Sinne radikaler Reformpolitik fruchtbar gemacht werden.

Das Verhältnis der linken Anhängerschaft zum politischen System ist ebenfalls nicht homogen. Im Gegenteil, es erwachsen aus den Unterschieden zum Teil widersprüchliche Anforderungen an das strategische Agieren der Partei.

Die erste und größte Herausforderung liegt darin, dass die LINKE-Wähler/-innenschaft die Wahlen gewichtet: Bundestagswahlen sind wichtig, mit deutlichem Abstand folgen Landtagswahlen, am Ende stehen Kommunal- und Europawahlen.

Diese Gewichtung hat etwas mit der öffentlichen Aufmerksamkeit zu tun, die den jeweiligen Ebenen zuteilwird, und sie hat etwas mit den Erwartungen in die Folgen dieser Wahlen für die eigene Lebenslage zu tun.

Grundsätzlich gibt es Nichtwähler/-innen in allen sozialen Schichten und unter Anhängern aller Parteien. Aber in den vergangenen zehn Jahren bekam der Anstieg der Wahlabstinenz einen erkennbaren sozialen Klassencharakter: Vor allem die »sozial Schwachen« blieben verstärkt den Wahlurnen fern. Für linke Politik erwächst daraus ein tief greifendes Problem: Wie können Mehrheiten für eine sozial gerechte Politik auf kommunaler Ebene, auf Landesebene, grundsätzlich zustande kommen, wenn die, für die vor allem sich etwas verbessern soll, gar nicht mehr wählen gehen? Der Hamburger Volksentscheid zur Schulreform ist dafür prototypisch.

Zunächst aber müssen wir feststellen, dass im Osten wie im Westen aus diesen Gründen unsere Stimmenanteile bei Bundestagswahlen immer höher sind als bei Landtagswahlen, weil wir unsere Anhänger unterdurchschnittlich mobilisieren können.

Welche Probleme solche Wahlkämpfe aufwerfen, wird deutlich, wenn man die unterschiedliche Stellung zu Parteien und zum politischen System betrachtet. Es zeigen sich drei Gruppen:

(1) die politisch-inhaltlichen Wähler/innen: Sie entscheiden sich für eine Partei aufgrund politischer und programmatischer Inhalte und identifizieren sich mit der Partei über einen längeren Zeitraum (Wieder- und Stammwähler);

(2) die politisch-taktischen Wähler/innen: Sie haben für ihre Entscheidung vor allem taktische Gründe (Denkzettel, erwartete Konstellationen usw.). Für sie verändert sich der taktische Wert der LINKEN von Wahl zu Wahl;

(3) die politisch enttäuschten Wähler/innen: Sie kommen von anderen Parteien und liegen mit der Politik, dem politischen System, der politischen Klasse grundsätzlich über Kreuz. DIE LINKE zu wählen, ist für sie der (oftmals letzte) Versuch, im politischen System repräsentiert zu sein.

Bei der Bundestagswahl 2009 waren diese drei Gruppen annähernd gleich groß. Bei Landtagswahlen schmilzt die dritte Gruppe grundsätzlich.

Hinzu kommt nun bei einzelnen Wahlen, wie z.B. Hamburg, die Enttäuschung darüber, dass sich auch durch die Wahl der LINKEN keine Verbesserungen ergeben haben, und dass kein Sinn darin gesehen wird, uns nochmals zu wählen.

In Baden-Württemberg gingen vor allem die taktischen Wähler/innen zu den Grünen. Sie wollten, dass der Wechsel von Mappus zu Kretschmann und für systemimmanente Reformen nicht an zum Beispiel 4,8 Prozent für DIE LINKE scheitern. Was in Hessen und Nordrhein-Westfalen noch wirkte – dass mit uns ein Politikwechsel erst möglich würde –, zog in Baden-Württemberg nicht mehr.

Wie kann DIE LINKE für ihre Wähler/-innenschaft in einem überschaubaren Zeitrahmen überhaupt etwas erreichen, damit die Wahlentscheidung einen »Mehrwert« bringt? Welchen Platz hat die Partei bei einem Regierungs- und Politikwechsel weg von Schwarz-Gelb? Unsere bisherigen Antworten, das zeigen die vergangenen Landtagswahlen, reichen zukünftig wohl nicht mehr aus.

Um politisch glaubwürdig zu bleiben, braucht DIE LINKE als Bundespartei eine erweiterte »Durchsetzungsstrategie«.

Glaubwürdigkeit und Bindung in der Wählerschaft gehen verloren, wenn Wahlversprechen offensichtlich verraten werden – aber auch, wenn es bei leeren Versprechungen und grundsätzlichen Forderungen bleibt und der Eindruck des Maulheldentums entsteht. Durchsetzungsstrategien haben nicht notwendig etwas mit Regierungsbeteiligungen zu tun, aber mit der Erfahrung, dass LINKE auch »etwas für uns regeln« können.

Und auch die dritte Gruppe in der Wähler/-innenschaft stellt Anforderungen. Sie versammelt sich nicht auf Dauer hinter konkreten Kampagnen-Forderungen (Mindestlohn, Hartz IV, Rente mit 67), sie verlangt für dauerhafte Identifikation mehr. Dabei geht es vordergründig weder um »breiter« angelegte Themen noch um eine »schärfere« Profilierung. Um politisch zu handeln, schreibt Chantal Mouffe, erwarten die Menschen mehr als Interessenvertretung, sie müssen »sich mit einer kollektiven Identität identifizieren können, die ihnen eine aufwertende Vorstellung ihrer selbst anbietet. Der politische Diskurs muss außer Programmen auch Identitäten anbieten, die der Erfahrung der Menschen einen Sinn verleihen und die ihnen Hoffnung für die Zukunft geben.« Solche kollektiven Identitäten mit programmatischer und strategischer Qualität können auch Brücken zwischen den verschiedenen Wählergruppen schlagen.

Auf dem Höhepunkt unseres Erfolges 2009 hatten wir ein Wählerpotenzial von knapp über 20 Prozent, das heißt etwa ein Fünftel der Wahlbevölkerung konnte sich vorstellen, uns zu wählen. Gegenwärtig liegt das Wählerpotenzial mit 17 Prozent niedriger. In Sachsen-Anhalt konnte eine Mehrheit sich nicht vorstellen, von einem LINKEN regiert zu werden. Die Frage einer Koalition mit uns spaltet die Anhängerschaft des potenziellen Partners.

Als Gesamtpartei haben wir die Wahl, eine Politik zu verfolgen, die darauf ausgerichtet ist, das vorhandene Wählerpotenzial jeweils optimal auszuschöpfen. Dann würden wir bundesweit Bestergebnisse von 13 bis 15 Prozent erreichen können. In Koalitionen blieben wir immer der kleinere Partner. Alternativ könnten wir versuchen, bundesweit das Wählerpotenzial und damit die Akzeptanz bei den Anhängern anderer Parteien auszuweiten, um höherer Stimmenanteile zu erzielen und in Koalitionen auch als stärkerer Partner akzeptiert zu werden, eine Aussicht in Ostdeutschland und im Saarland. Dieser Weg zur »Volkspartei« ist aus nachvollziehbaren Gründen in den meisten westlichen Ländern keine strategische Alternative, weil dann der »Außenseiterstatus« verloren ginge (»Anders als die anderen«), der uns für viele erst wählbar macht. Umgekehrt blockiert die strategische Entscheidung für die »Außenseiter«-Strategie andere Landesverbände, weil eben die Mehrheit »Außenseitern« nicht das Land überlassen will, einer 20 bis 30 Prozent-Daueropposition aber die Wählerbasis wegschmilzt. Beide Wege haben gute Argumente für sich und eben nichts mit »Realitätsverweigerung« oder »Aufweichlertum« zu tun.


[1] Stefan Reinicke 2011, Die erschöpfte Partei, in: taz vom 13.09.2011.

[2] Patrick Horst 2001, Totgesagte leben länger, manchmal lange. Zu den Überlebenschancen der Grünen vor dem koalitionspolitischen Erfahrungshintergrund der FDP, in: ZParl, Heft 4, S. 841-860.

[3] Horst 2001, S. 850.

[4] Horst 2001, S. 851.