25.09.2017

Die Republik rückt nach rechts

Beitrag auf dem Blog von www.freitag.de vom 25. September 2017

Strukturelle Mehrheit rechts der Mitte

Obwohl rot-rot-grün zwischen 2013 und 2017 eine parlamentarische Mehrheit hatte, die sie nicht nutzte, war die elektorale Mehrheit bereits vor vier Jahren Mitte-Rechts. Diese Mehrheit liegt nun offen.

Bereits die Wahl vor vier Jahren war bemerkenswert: Es scheiterten nicht nur die Liberalen erstmals seit 1949 bei einer Bundestagswahl an der 5-Prozent-Hürde, sondern ebenfalls knapp die AfD. Deshalb entfielen niemals zuvor in der Bundesrepublik so viele abgegebene Wahlstimmen auf Parteien, die dann nicht im Bundestag vertreten waren. Die Wahlbeteiligung eingerechnet, repräsentierte der 18. Deutsche Bundestag nur 59,5 Prozent der Wahlberechtigten in Deutschland. Lässt man die 5-Prozent-Hürde außer Betracht, vereinten die Unionsparteien (41,5 Prozent) gemeinsam mit FDP (4,8 Prozent) und AfD (4,7 Prozent) eine Mehrheit unter den Wählerinnen und Wählern.

Die SPD (25,7 Prozent), LINKE (8,6 Prozent) und Bündnis 90/Die Grünen (8,4 Prozent) erreichten gemeinsam gerade einmal 42,7 Prozent der abgegebenen Stimmen, verfügten jedoch über eine rechnerische parlamentarische Mehrheit (320 Mandate), von der sie genau einmal (!) Gebrauch machten: Im Sommer 2017 bei der Durchsetzung der sogenannten Ehe für alle. Ein solcher Umstand, dass mit etwas mehr als 42 Prozent die praktische Option einer parlamentarischen Regierungsmehrheit entsteht, wird auf absehbare Zeit nicht mehr eintreten. Damit schließt sich ein günstiges Zeitfenster für rot-rot-grün.

Denn die Bundestagswahl vom 24. September 2017 schreibt erneut bundesdeutsche Parteiengeschichte. Im künftigen 19. Deutschen Bundestag werden erstmals seit der Bundestagswahl vom 6. September 1953 wieder sieben Parteien im Parlament vertreten sein.[2]

 

Gestiegene Wahlbeteiligung in Folge thematischer Polarisierung

Die Wahlbeteiligung steigt auf 76,2 Prozent an. Auch die Bundestagswahl folgt damit einem jüngeren Trend. Auch bei den Landtagswahlen des laufenden und des vergangenen Jahres stieg die Wahlbeteiligung zum Teil stark an. Dies ist – anders als vielfach angenommen – kein Ergebnis des Auftretens der AfD als weiterer Mitspieler im Parteienwettbewerb, denn in den Jahren 2014 und 2015 sankdie Wahlbeteiligung bei Landtagswahlen unter das Niveau der Vorwahlen. Dass die Wahlbeteiligung bei den jüngeren Wahlen angestiegen ist und bei einzelnen Landtagswahlen nahezu das Niveau der dortigen Beteiligung an der Bundestagswahl 2013 erreichte, ist vielmehr mit der bundespolitischen Aufladung der Landtagswahlen durch gesellschaftspolitische Polarisierung zur Zuwanderungspolitik zu erklären, bei der sich die AfD auf einem Pol positionierte. Thematische Polarisierungen als politische Richtungsentscheidungen können zu einer Erhöhung der Wahlbeteiligung führen. Dieses Momentum bestimmte ersichtlich auch die Beteiligung an dieser Bundestagswahl.

 

Gerupfte Union - entfremdete Schwesterparteien

Die Unionsparteien verlieren deutlich und fallen von mehr als 40 Prozent auf einen Anteil von etwas mehr als 30 Prozent, das ist das zweitschlechteste Ergebnis der Union – die Bundestagswahl von 1949 einbezogen (1949: 31,0 Prozent, 2017: 33,2 Prozent, 2009: 33,8 Prozent, 1998: 35,1 Prozent, 2005: 35,2 Prozent). Besonders deutlich verliert die CSU. Sie muss in ihrem Wahlgebiet Bayern einen Erststimmenverlust von -9,8 Prozent und bei den Zweitstimmen einen Rückgang um -10,5 Prozent vergegenwärtigen. Die AfD hingegen kann in Bayern um 8 Prozentpunkte bei den Erst- und Zweitstimmen zulegen und wird drittstärkste Zweitstimmen-Kraft in Bayern. Die Strategie nach rechts keine Partei in Bayern zuzulassen, kann als gescheitert angesehen werden, wenn konstatiert wird, dass die FREIEN WÄHLER, die ebenfalls in der Regel konservativer als die CSU sind, noch 2,7 Prozent erreichen.

Der Umstand, dass laut Infratest dimap mehr als zwei Drittel der Wahlberechtigten (69 Prozent) kritisieren, dass sich mit der Union „die Schere zwischen Arm und Reich weiter geöffnet habe“, kann als erklärendes Motiv für den deutlichen Verlust von CDU/CSU bei dieser Bundestagswahl nicht überzeugen, denn vier Jahre zuvor vertraten bereits 67 Prozent diese kritische Bewertung, dennoch erreichte die Union mehr als 8 Prozentpunkte mehr. Höhere Erklärungskraft ergibt sich möglicherweise aus der Ambivalenz, dass

  • 51 Prozent der Befragten der Auffassung sind, „Zwölf Jahre Kanzlerin Merkel sind genug“,
  • 50 Prozent die Kanzlerin Merkel „für das wichtigste Argument zur Wahl der Union“ ansehen (unter den Unionswähler/-innen 70 Prozent),
  • während 48 Prozent konstatieren, dass man nicht genau weiß, „für welche politischen Überzeugungen Angela Merkel steht“.

Darüber hinaus hat der monatelang offen ausgetragene Konflikt der beiden Unionsparteien in der Flüchtlingspolitik das möglicherweise dauerhafte Bild einer Entfremdung unter den Schwesterparteien erzeugt, so dass Streit nicht mehr Ausdruck praktizierter Arbeitsteilung ist, sondern zunehmend mühsamer zusammengehalten wird, was vielleicht nicht länger zusammen gehört. Mehr als zwei Drittel aller Wahlberechtigten (67 Prozent) meinen laut Infratest dimap, „CDU und CSU passen nicht mehr so gut zusammen wie früher“, unter den Unions-Wähler/-innen ist mit 55 Prozent die Mehrheit ebenfalls dieser Auffassung. Dass „Seehofer mit seinem Verhalten gegenüber Merkel die Union geschwächt“ hat, sehen jeweils 62 Prozent der Wahlberechtigten als auch der Unions-Wähler/-innen so. Interessanterweise muss daraus nicht in jedem Fall eine Kritik an Seehofer abgeleitet werden, denn 40 Prozent aller Wahlberechtigten und 41 Prozent der Unions-Wähler/-innen hätten es für gut befunden, die CSU auch außerhalb Bayerns wählen zu können. In diesen Kontext ordnet sich dann auch die Aussage von 55 Prozent der Wahlberechtigten ein, „die CDU vernachlässige in der Flüchtlingspolitik die Sorgen der Menschen“ und überrascht nicht, dass laut Infratest dimap zwei Drittel der verbliebenen Wähler/-innen von CDU/CSU (66 Prozent) mit der Asyl- und Flüchtlingspolitik der Kanzlerin Merkel zufrieden sind, während fast drei Viertel (71 Prozent) abgewanderter vormaliger Unions-Wähler/-innen mit dieser Flüchtlingspolitik unzufrieden sind.

 

FDP "is back on track"

Der Partei ist es gelungen, einerseits als vertraute bürgerliche Kraft mit dem einmaligen Bonus des außerparlamentarischen Underdog zu punkten. Gaben 2013 laut Infratest dimap 83 Prozent der Befragten an, dass die Partei „viel versprochen und fast nichts davon umgesetzt habe“, sich „zu stark um bestimmte Wählergruppen gekümmert“ habe und 51 Prozent meinten, dass die Partei in Deutschland nicht mehr gebraucht werde, honorierten laut Infratest dimap 76 Prozent derjenigen, die FDP gewählt haben, dass die Partei „klarere Konzepte für die Zukunftsthemen als andere Parteien habe“.

Wie stets entschied bei der Stimmabgabe für die FDP andererseits auch ein taktisches Moment: 70 Prozent der befragten FDP-Wähler/-innen gaben gegenüber Infratest dimap an, dass das Votum für die Liberalen dazu dienen sollte, eine weitere Große Koalition zu verhindern. Diese Lektion sollten alle Äquidistanz-Fetischisten in der FDP im Blick behalten – die Partei ist und bleibt auch nach fünf Jahren APO eine Westentaschenreserve der Union. Und sie ist eine Partei, die enorm auf eine Person ausgerichtet bleibt. Errangen die Liberalen 2009 ein furioses Wahlergebnis mit Guido Westerwelle, stiegen sie in den Folgejahren gemeinsam mit ihm ab. Die Nachfolger Westerwelles konnten diese Persönlichkeitsprofilierung nicht wiederholen. Erst Christian Lindner personifiziert aktuell – mehr noch als Westerwelle seinerzeit – die FDP, die damit jedoch in Abhängigkeit von einer Person gerät. Fast 60 Prozent der FDP-Wähler/-innen sind laut Infratest dimap der Auffassung, dass die FDP ohne Christian Lindner keine Chance habe und 42 Prozent hätten ohne Lindner die FDP nicht gewählt. Bezogen auf alle Wahlberechtigten geben sogar 70 Prozent der Befragten an, dass die FDP ohne Lindner keine Chance habe, während 45 Prozent der Meinung sind, dass es gut sei, wenn die Partei wieder an der Regierung beteiligt wäre.

 

Grüne Profilierung als möglicher Koalitionspartner der Union

Nach Veröffentlichung der ersten Prognose fiel den Protagonist/-innen von Bündnis 90/Die Grünen ersichtlich ein Stein von Herzen. Sahen die Prognosen die Partei in den vergangenen Wochen, ja Monaten stets deutlich unterhalb der 10-Prozent und zeitweise gefährlich nahe an 6-Prozent-Werten, haben sie ein stabiles Ergebnis erreicht und gegenüber 2013 sogar zugelegt. Das Spitzenteam der Grünen hat mit der unverhohlenen Orientierung auf ein schwarz-grünes Regierungsbündnis bei Kritik an einer Jamaika-Koalition – ohne sie auszuschließen – richtige Entscheidungen aus grüner Wahlkampfperspektive getroffen. Die Lösung der Partei von der als zunehmende Belastung empfundenen Rot-Grün-Orientierung ist ebenso abgeschlossen wie die Positionierung als Funktionspartei für die Regierungsbildung. Die Grünen sind – anders als die FDP – mit einer tatsächlichen Äquidistanz-Orientierung sowohl für Mitte-Links- als auch für Mitte-Rechts-Koalitionen aufgeschlossen, wenngleich das Establishment der Partei mehr Offenheit gegenüber der Union als der Linkspartei in ihrer gegenwärtigen Verfasstheit hat. Laut Infratest dimap sind 53 Prozent der Wahlberechtigten der Meinung, dass so wie die Grünen sich entwickelt haben, „passen sie als Koalitionspartner jetzt auch zur Union“. Von den Wählerinnen und Wählern sind 79 Prozent dieser Auffassung. Mehr als die Hälfte der Infratest dimap-Befragten(52 Prozent) fänden es begrüßenswert, wenn die Grünen an der Regierung beteiligt wären. Dies entspricht fast exakt dem von Infratest dimap gemessenen Wert bei der Bundestagswahl 2013 (53 Prozent). Während damals 68 Prozent der Auffassung waren, dass die Partei mit ihren Steuerplänen die Wähler/-innen verschrecke, weitere 59 Prozent der Meinung waren, die Partei habe sich im Wahlkampf von den Interessen ihrer Wähler/-innen entfernt und 50 Prozent kritisierten, die Grünen „wollen uns vorschreiben, wie wir zu leben haben“, sehen 86 Prozent der Grünen-Wähler/-innen von 2017 die Partei als einen Akteur, der sich um Themen kümmert, die andere Parteien vernachlässigen. Mehr als ein Drittel der grünen Wähler/-innen glauben, ihre Partei sei „für Leute, denen es gut geht“, 36 Prozent sind der Auffassung, dass die Partei sich zu wenig um Wirtschaft und Arbeitsplätze kümmern würde – dies meinen exakt zwei Drittel der von Infratest dimap Befragten Wahlberechtigten auch. Was die Partei außer Umweltschutz noch will, ist 65 Prozent der Wahlberechtigten unklar und 21 Prozent der Grün-Wähler/-innen. Mehr als die Hälfte der Wahlberechtigten (56 Prozent) halten die Politik der Partei für „viel zu autofeindlich“. Kurzum: Die Partei hat sich erfolgreich regierungstauglich präsentiert.

Den Grünen gelingt es auch nach dem Verzicht auf eine erneute Kandidatur des zweimal direkt gewählten Bundestagsabgeordneten Hans-Christian Ströbele, den Berliner Innenstadt-Wahlkreis „Friedrichshain-Kreuzberg-Prenzlauer Berg Ost“ direkt zu holen. Die grüne Abgeordnete im Berliner Abgeordnetenhaus, Canan Bayram, setzt sich mit 26,3 Prozent (45.155 Stimmen) gegen den LINKEN-Herausforderer Pascal Meiser (24,9 Prozent, 42.646 Stimmen) durch, während die SPD mit der Bundestagsabgeordneten, Cansel Kiziltepe, abgeschlagen mit 16,9 Prozent auf Rang drei landet.

 

SPD-Wahlniederlage = Erfolgreiche Politik - fehlendes Profil

Die SPD fällt – wieder einmal – auf einen historischen Tiefstand. Erreichte die Partei bei der Bundestagswahl 2009 nur 23 Prozent, verbesserte sie sich zu 2013 auf 25,7 Prozent. Mit etwas mehr als 20 Prozent kann freilich nicht einmal mehr die Rede davon sein, dass sie im 20-Prozent-Turm gefangen sei. Sie hat es vielmehr gerade noch so hinein geschafft. Mit rund 150 Mandaten ist die Fraktion so klein wie noch nie seit 1953. Zum Vergleich: Nach der Bundestagswahl 1998 umfasste die Fraktion der SPD die doppelte Mandatsstärke (298 Abgeordnete) bei einem um zwei Parteien und 40 Mandate kleineren Bundestag.

Die Partei durchlebte über den Jahresverlauf eine Achterbahn. Deutete Anfang des Jahres noch alles auf eine Fortsetzung der Großen Koalition, wenn auch auf niedrigerem Niveau und mit der Möglichkeit, dass FDP und AfD in den Bundestag einziehen, führte der Wechsel von Gabriel zu Schulz zu einer ungeahnten Renaissance der SPD. Die Partei vermittelte in jeder Form Aufbruchstimmung, die Erinnerungen an 1998 weckte und in die Gesellschaft ausstrahlte, die diese Stimmung wohlwollend aufnahm. „Die Wahlabsichten zugunsten der Sozialdemokraten sprangen zwischen Januar und März von 23 auf 33 Prozent. Das weite Potential, der Kreis der Bürger, für die die SPD bei der Bundestagswahl grundsätzlich in Frage käme, stieg sogar kurzfristig von 25 auf 48 Prozent“, wie Renate Köcher im FAZ-Monatsbericht für Juli 2017 resümmiert.[3] Sahen 2016 die Wahl der SPD nur zu 16 Prozent als Trend, waren davon im Frühjahr 2017 sogar 46 Prozent überzeugt. Die Wahrnehmung der Partei als „geschlossene Formation“ verdoppelte sich zwischen Januar und April von 27 auf 55 Prozent. „Solche dynamischen Veränderungen sind ausgesprochen selten“, wie Köcher darlegt. Und die Dynamik entfaltete sich in zweierlei Richtungen, denn „So rasch, wie sich die SPD-Sympathien aufgebaut hatten, verfielen sie seit April wieder. Erreichte die SPD im März 33 Prozent, lag sie im Mai nur noch bei 26 Prozent, jetzt bei 24 Prozent. Der Anteil der Bürger, denen die SPD gut gefällt, ist seit April von 38 auf 23 Prozent geschrumpft; noch kritischer hat sich die Einschätzung entwickelt, wie die SPD heute [Juni 2017 – BIH] in der Bevölkerung generell ankommt: Im April waren 33 Prozent der Bürger überzeugt, dass die SPD in der Bevölkerung generell gut ankommt, jetzt glauben das noch 8 Prozent. Auch der Eindruck von Geschlossenheit ist wieder verfallen, von 55 auf 31 Prozent.“

Dass eine SPD-geführte Regierung für eine politische Wende statt für Kontinuität stehen würde, konnte die SPD ab dem Zeitpunkt nicht mehr glaubwürdig vermitteln, als sie sich entschieden hatte, die Option rot-rot-grün faktisch auszuschließen und auf ein Narrativ umschwenkte, nachdem eine solche Koalition Sargnagel eines SPD-Wahlerfolgs sein würde. Es wurde zur wesentlichen Erzählung und strategischen Ausrichtung in den Wahlkampfendspurts von Schleswig-Holstein und NRW entfaltete. Die Geschichte lautet grob, dass die Aussicht auf eine Regierung ohne Union die Unionswähler mobilisiert und die Aussicht auf eine Regierung mit der LINKEN die SPD-Anhänger demobilisiert. Für beide Teile dieser Geschichte gibt es keinerlei belastbare demoskopische Belege, aber sie ist inzwischen so oft aus beiden großen Parteien erzählt und - wichtiger noch - als Voraussetzung für die eigene politische Kommunikation akzeptiert worden, dass sie in der medialen Berichterstattung den Status einer nicht weiter zu hinterfragenden Wahrheit erhalten hat.

So nimmt es nicht wunder, dass Rot-Rot-Grün von der Option auf Bewegung im Parteienwettbewerb und eine von mehreren Mitte-Links-Optionen zum altbekannten Wähler/innenschreck mutierte, zu dem R2G seit jeher überhöht wird. Im Lichte dessen traf die SPD die folgenschwere Entscheidung, bei den auf die Saarland-Wahl folgenden Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen auf die Unterstützung des Kanzlerkandidaten zu verzichten. Was einer Doppelstrategie entsprang, die sicher geglaubten Erfolge bei den Landtagswahlen nicht durch einen möglicherweise enttäuschenden Kanzlerkandidaten zu beschweren und ihn bei unwahrscheinlichen aber dennoch möglichen Niederlagen nicht zu beschädigen, erwies sich als schwerer Fehler.

Die SPD wird – basierend auf den Werten von Infratest dimap – von 38 Prozent der Wahlberechtigten als die Partei wahrgenommen, die am ehesten für soziale Gerechtigkeit sorgt. Dies ist freilich der schlechteste Wert der vergangenen sechs Bundestagswahlen. Noch 1998 sahen mehr als die Hälfte der Wahlberechtigten (54 Prozent) die SPD als die Interessenwahrerin der sozialen Gerechtigkeit. DIE LINKE hingegen (1998 noch PDS) wurde bei dieser Bundestagswahl von 16 Prozent als Partei der sozialen Gerechtigkeit gesehen – dies sind viermal so viel wie 1998 (4 Prozent). Dass die SPD die Partei sei, die sich am stärksten um sozialen Ausgleich bemüht, finden zwar immer noch 45 Prozent der Befragten, doch vor vier Jahren sahen dies noch 52 Prozent und selbst 2009 noch 49 Prozent so.

Dem Eintreten der SPD für soziale Gerechtigkeit fehlt ersichtlich Glaubwürdigkeit, wenn 80 Prozent der Befragten äußern, dass die SPD „nicht genau sagt, was sie für soziale Gerechtigkeit tun will“. Eine Auffassung, die auch zwei Drittel (66 Prozent) der SPD-Wähler/-innen teilen. Drei Viertel (74 Prozent) der Wahlberechtigten und 61 Prozent der SPD-Wähler/-innen konstatieren, dass der SPD „ein zentrales Thema fehlt, mit dem sie die Menschen begeistern kann“. Angesichts dessen konstatieren zwar 41 Prozent der Wahlberechtigten und mehr als zwei Drittel der SPD-Wähler/-innen (68 Prozent), dass die SPD in der Bundesregierung erfolgreich sozialdemokratische Positionen durchgesetzt habe, weitere 18 Prozent der Wahlberechtigten können sogar benennen, dass sie von sozialdemokratischer Politik persönlich profitiert haben (44 Prozent der SPD-Wähler/-innen), dennoch sagen 58 Prozent der Wahlberechtigten, dass sich die SPD „nicht genug für die Schwachen einsetzt“ und 59 Prozent konstatieren, dass ihnen nicht klar sei, wofür die SPD eigentlich steht. Konnte angesichts dieser Erschöpfungsbilanz irgendwer erfolgreich für die SPD als Kanzlerkandidat ins Rennen gehen? Dass Martin Schulz als Kanzlerkandidat nicht überzeugte, meinen 59 Prozent der von Infratest dimap Befragten und zwei Drittel (66 Prozent) meinen „die SPD hat sich nicht klar genug gegen Kanzlerin Merkel positioniert“.

 

Konsequente Entscheidung für die Opposition - Herausforderung für DIE LINKE

Die noch am Wahlabend verkündete Entscheidung der SPD, ebenso wie nach der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen, nicht erneut für eine Regierungsbildung zur Verfügung stehen, ist konsequent. Man mag die Frage erörtern, ob eine Partei, die derzeit noch sieben der sechzehn Ministerpräsident/-innen stellt und zweitstärkste Kraft im Deutschen Bundestag ist, sich selbst der Sondierung möglicher Koalitionsverhandlungen entziehen kann oder ob es zu ihrer quasi staatspolitischen Verantwortung gehört, die Übernahme der Regierungsgeschäfte zu prüfen. Dafür spricht, dass das Signal, dass von der SPD ausgesendet wird, denjenigen Vorschub leistet, die für reine Wahrheiten statt Differenzierungen und Kompromisse in der politischen Kontroverse eintreten. Gleichzeitig kann dieses Argument nicht so hoch gewichtet werden, dass eine Partei sich aus staatspolitischen Erwägungen, die nicht in einer Staatskrise begründet liegen, selbst zerstören muss.

Die SPD hat 2005 bis 2009 und seit 2013 in Großen Koalitionen sowohl aus eben dieser staatspolitischen Verantwortung und einem mindestens genauso hohen Anteil Überzeugung, dass der Platz der SPD auf der Regierungsbank sei, weil „Opposition Mist ist“, gewirkt. Ein Regierungsauftrag ist aus dem Ergebnis vom 24. September 2017 für die Parteien der Großen Koalition nicht, wohl aber für ein Vier-Parteien-Bündnis aus den Unions-Schwestern, FDP und Grünen abzuleiten. Angesichts dessen und dem historischen Tiefstand beim Wahlergebnis die Einschätzung zu treffen, dass die SPD sich nicht noch in Sondierungen verzwergen, sondern wenigstens auf Basis eigener Entscheidung in die Opposition geht und von dort die Kanzlerin herausfordert und sich selbst versucht, wieder aufzurichten, ist nachvollziehbar und verständlich. Keine andere Partei hätte in gleicher Situation anders gehandelt.

Die künftige Oppositionsarbeit wird für die SPD möglicherweise eine geringere Herausforderung als für DIE LINKE. Denn angesichts einer SPD-Opposition, die doppelt so groß und einer AfD-Opposition, die ein Drittel stärker als die Linksfraktion im Bundestag ist, sollte man sich genau überlegen, ob die Kraft ausreicht, die künftige Jamaika-Koalition herauszufordern, dem Diskurs gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit der AfD wirksam zu begegnen und gleichzeitig weiterhin die SPD als einen Hauptgegner in der politischen Auseinandersetzung zu verstehen und entsprechend mit ihm zu interagieren. Oder ob man angesichts der Gefahr von rechts Schlussfolgerungen aus der deutschen Geschichte zieht und die Grundlagen gemeinsamer Arbeit dergestalt schafft, dass aus der Opposition heraus soziale Gerechtigkeitspolitik spürbar wird. Dies negiert bestehende Unterschiede zwischen den Parteien keineswegs, sondern plädiert nur dafür, die an anderer Stelle beschriebenen pathologischen Konfliktmuster zu überwinden und dabei – im Übrigen – den rot-rot-grünen Gesprächsfaden auch zu Bündnis 90/Die Grünen nicht abreißen zu lassen - im Gegenteil.

 

DIE LINKE - stabile Ergebnis bei dramatischem Umbruch im Elektorat

Nachdem sich zunächst die SPD und in Folge dessen auch Bündnis 90/Die Grünen von der Option eines rot-rot-grünen Lagerwahlkampfes verabschiedet hatten, war DIE LINKE in der öffentlichen Meinungsbildung bezüglich der kommenden Bundesregierung „uninteressant“ geworden. Sie kämpfte deshalb um Platz ein Ergebnis von 10%+x, die Wiedergewinnung von Platz 3 im Deutschen Bundestag und damit um eine starke Ausgangsbasis für die Arbeit als Oppositionspartei.

Selbst wenn die Partei nicht alle ihre Wahlziele erreicht, steht sie am Ende dieses Wahlkampfes und im Lichte des dramatisch hohen Abschneidens der AfD stabil da und kann von dieser Position aus die kommenden Herausforderungen annehmen.

Sie gewinnt mehr als 4,2 Millionen Zweitstimmen, erreicht damit ein besseres Zweitstimmenergebnis als bei der Bundestagswahl 2005 (4,118 Millionen Zweitstimmen) und steigert den Stimmenanteil gegenüber 2013 (3,755 Millionen Zweitstimmen) um rund eine halbe Million Stimmen. Nur bei der Bundestagswahl 2009 gewann sie mehr als 5 Millionen Zweitstimmen.

Sie holt insgesamt fünf Direktmandate. Davor vier in Berlin, jeweils durch die Amtsinhaber/-innen:

  • Wahlkreis 76 Pankow: Stefan Liebich mit 28,9 Prozent (+0,5)
  • Wahlkreis 84 Treptow-Köpenick: Gregor Gysi mit 39,7 Prozent (-2,5)
  • Wahlkreis 85 Marzahn-Hellersdorf: Petra Pau mit 34,2 Prozent (-4,7)
  • Wahlkreis 86 Lichtenberg: Gesine Lötzsch mit 34,8 Prozent (-5,5).

Zusätzlich erringt sie in Sachsen den Wahlkreis 153 Leipzig II. Mit 25,3 Prozent führt dort Sören Pellmann gegen den CDU-Kandidaten (24,6 Prozent).

Im Berliner Wahlkreis 83 Friedrichshain-Kreuzberg-Prenzlauer Berg Ost unterliegt der linke Kandidat Pascal Meiser der grünen Nachfolgerin von Hans-Christian Ströbele. Während die grüne Kandidatin gegenüber dem 2013er Ergebnis von Ströbele 13,5 Prozent verliert, kann Pascal Meiser um 7,7 Prozent gegenüber 2013 zulegen.

Die Partei befindet sich in einem elektoralen Umbruch. Wurde vor einigen Jahren konstatiert, dass die Jung- und Erstwähler/-innen sich von der Partei abwenden, erringt sie mit 11 Prozent ihre höchsten Stimmenanteile in den Gruppen der 18-24-Jährigen sowie den 25-34-Jährigen. Überdurchschnittlich schneidet sie zudem in der Gruppe der 60-69-Jährigen ab (10 Prozent) und kann auch bei den 70 Jahre und älter zulegen. Sie stagniert mit 8 Prozent in der Gruppe der 35-44-Jährigen und verliert leicht (1 Prozentpunkt) bei den 45-59-Jährigen – alle Zahlen nach Infratest dimap.

Wie bereits bei der Analyse zur Bundestagswahl 2013 festgestellt, schmilzt die Ost-West-Asymmetrie der Partei sukzessive ab. Der Anteil der westdeutschen Wählerinnen und Wähler der Linkspartei am Gesamtergebnis der Partei steigt, während der Anteil Ost absinkt. Die Stimmverluste in früheren Hochburgen der Linkspartei, die zwischenzeitlich seit mehr als eineinhalb Dekaden u.a. in den Wahlnachtberichten vorhergesagt, beschrieben und in ihrer Wirkung dargestellt wurden, wirken sich im Wahlgebiet Ost – aufgrund des hohen Ausgangsniveaus spürbarer aus als die Anstiege West. Die Zugewinne West sind gleichwohl bemerkenswert – selbst in Bayern erhält die Partei mehr als 6 Prozentpunkte der Zweitstimmen. In Nordrhein-Westfalen, wo die Partei jüngst noch den Einzug in den Landtag hauchdünn verpasste, erreicht sie souverän 7,5 Prozent der Zweitstimmen. Auch in Niedersachsen, wo in Kürze der Landtag neu bestimmt wird, erreicht die Partei 6,9 Prozent – bedauerlicherweise ist dies zwar ein Fingerzeig aber erfahrungsgemäß keinerlei Sicherheit für ein erfolgreiches Abschneiden beim kommenden Urnengang.

In Bremen liegt DIE LINKE bei den Erststimmen (12 Prozent) und Zweitstimmen (13,5 Prozent) jeweils vor Bündnis 90/Die Grünen. In Hamburg erreicht die Partei bei den Erststimmen 10,8 Prozent und 12,2 Prozent bei den Zweitstimmen. Zweistellig wird DIE LINKE auch im Saarland: 11,2 Prozent der Erst- und 12,9 Prozent der Zweitstimmen.

Wer im Wahlergebnis der Linkspartei eine Aussage über die Wirkungen von Regierungsbeteiligungen ablesen möchte, wird nicht fündig werden. Während DIE LINKE in Thüringen und Brandenburg spürbar hinter die Zweitstimmenergebnisse von 2013 zurückfallen – wie im übrigen Ostdeutschland auch – kann DIE LINKE in Berlin zulegen, wird hinsichtlich der Zweitstimmen vor der SPD zweitstärkste Kraft und in den Bezirken Mitte und Pankow stärkste Kraft.

Was sich in den Ergebnissen Ost ablesen lässt ist eine durch die AfD verschärfte Konkurrenz um die ehemaligen Hochburgen der Partei, in Thüringen z.B. in Städten wie Gera. Gewann DIE LINKE dort bei der Landtagswahl 2014 die beiden Direktmandate, erringt die AfD sowohl bei den Erst- als auch bei den Zweitstimmen den Spitzenplatz. Gleiches lässt sich in den früheren Berliner Hochburgen Marzahn-Hellersdorf und Lichtenberg feststellen und setzt damit einen Trend fort, der bei der Analyse der Abgeordnetenhauswahl in Berlin bereits festgestellt wurde. Dort verlor die Partei in den alten PDS-Hochburgen, die überwiegend die ehemaligen Hochburgen der DDR-Dienstleistungsklasse repräsentierten, während sie mit der sozialen Frage „Wem gehört die Stadt?“ in Milieus und Strukturen mobilisieren konnte, die bislang nicht direkt gewonnen werden konnten. Diese Entwicklung wird weiter zu betrachten sein und sollte mit einer vergleichenden sozialräumlichen Analyse der Hochburgen-West verknüpft werden.

Während der Anteil ehemaliger Wählerinnen und Wähler unter den aktuellen Anhängern der AfD eher gering ist, ist die Abwanderung von der LINKEN zur AfD für die LINKE ein durchaus größeres Problem gewesen. Mit Blick auf die Verluste bei Arbeiter/-innen und Wähler/-innen mit einer nichtakademischen Ausbildung und bei Vergleich mit der sozialen Struktur der PDS-Wähler/-innen ist die These plausibel, dass es vor allem traditionelle sozialdemokratische Wähler und Wählerinnen waren, die von 2005 bis 2010 zur Linken kamen und ab 2011 wieder wegzubleiben begannen und teilweise jetzt die AfD wählen.

Habituell wird mit der erneuten »Akademisierung« der Linken die Distanz zu den Lebenswelten und Milieus anderer Berufs- und Bildungsgruppen verstärkt. Bisher gilt dies insbesondere für die Grünen, die ein ausgeprägt antiproletarisches Image pflegen. Wenn die These stimmt, dass die Schul- und Bildungsfrage eine immer wichtigere, entscheidende Konfliktlinie darstellt, dann finden gerade hier die Erfahrungen statt, dass und wie die Akademiker-Eltern nach unten dichtmachen. Hinsichtlich der Bewegung der Wählerinnen und Wähler und in Verknüpfung mit der bereits dargelegten Bedeutung, die z.B. die Bildungspolitik auch bei dieser Wahl hatte, wäre es naheliegend, auch hier mit einem eigenständigen Profil mit den Sozialdemokraten Korridore für Reformprojekte zu verabreden und gleichzeitig den rot-rot-grünen Gesprächsfaden stetig zu knüpfen.

 

Durchmarsch der AfD-Rechtspopulisten in Ostdeutschland

Die AfD ist die drittstärkste Partei in Deutschland geworden. Sie ist in 13 der 16 Landtage vertreten, wobei sie bislang nur an 14 Landtagswahlen teilnahm. Sie gewinnt in Sachsen dreiDirektmandate (Wahlkreis 156: 33,2 Prozent (CDU: 30,6 Prozent); Wahlkreis 157: 32,4 Prozent (CDU: 31,4 Prozent); Wahlkreis 158: 37,4 Prozent (CDU: 28,8 Prozent)). Die Parteivorsitzende, Frauke Petry erlangt das Mandat im Wahlkreis 158 mit einem Vorsprung von 8,6 Prozent auf den CDU-Amtsinhaber. Die AfD kann bei den Zweitstimmen alle anderen Partei auf die Plätze verweisen. Sie liegt hauchdünn vor der CDU (0,1 Prozentpunkte). Dies sollte nicht nur ein allerletzter Weckruf für die sächsische CDU sein, die für die ostsächsischen Wahlerfolge der AfD als Geburtshelferin angesehen werden muss, und deren Strategie der Verharmlosung nach rechts bei Diskriminierung nach links auf ganzer Linie gescheitert ist.

In Thüringen liegt die AfD sowohl bei den Erst- als auch den Zweitstimmen auf Platz 2 nach der CDU und vor der Linkspartei, die bei den Zweitstimmen unter das Niveau der Bundestagswahl von 1994 zurückfällt. In Brandenburg erreicht die AfD Platz 2 bei den Zweitstimmen nach der CDU, während die SPD bei den Erststimmen knapp vor der AfD auf Platz 2 liegt. In Mecklenburg-Vorpommern entspricht das Bild dem von Brandenburg, mit dem Unterschied, dass DIE LINKE statt der SPD bei den Erststimmen auf dem zweiten Platz knapp vor der AfD liegt. In Sachsen-Anhalt, wo die AfD bei der Landtagswahl eine Vielzahl von Direktmandaten erringen konnte, liegt sie bei den Erststimmen nach CDU, Linkspartei und SPD auf Platz vier, während sie bei den Zweitstimmen wiederum auf dem zweiten Platz landet.

 

Kluft zwischen gesellschaftlicher Repolitisierung und medial vermittelter Wahlkampf-Eintönigkeit

Dass in der bundesdeutschen Gesellschaft bereits seit längerem die öffentlichen Räume zu schrumpfen scheinen, in denen die politischen Angelegenheiten – sozusagen vor aller Augen und Ohren – verhandelt werden, ist in den vergangenen Jahren umfangreich erörtert und in den unterschiedlichen Phänomen diskutiert worden. Unstrittig ist, dass die Dynamiken zur Fraktionierung und Segmentierung in politische Teilöffentlichkeiten, auch dank der neuen dezentralen und kostengünstigen Produktionsmittel politischer Öffentlichkeit, verschärft wurden. Umstritten ist durchaus, wie offen oder wenig durchlässig die Grenzen, geprägt durch Abschottung und »Echokammern«, zwischen den Teilöffentlichkeiten sind. Die Annahme einer geschlossenen »Filterblase«, in denen sich Menschen in sozialen Netzwerken bewegen, ist verschiedentlich und nachvollziehbar kritisiert worden.

Unstrittig ist hingegen, dass der politisch-mediale Betrieb, also das symbiotische Wechselspiel politischer und journalistischer Akteure, selektiert und die Vielfalt der Teilöffentlichkeiten nicht widerspiegelt. Daraus entsteht eine als tatsächlich wahrgenommene »Repräsentationslücke«, die das Bild von der »Lügenpresse« nährt; abgeschottete Teilöffentlichkeiten, Verschwörungstheorien usw. erhalten Bestätigung und Rückenwind. Auf dieser Grundlage hat die Abwehr von Fakten und Argumenten, die die Basis einer kommunikativen politischen Öffentlichkeit und Debatte bilden, eine neue Qualität erreicht.

Angesichts dessen erscheint ein Widerspruch spürbar zu werden, zwischen der medial vermittelten Langeweile und Eintönigkeit eines Wahlkampfs, in dem das Ergebnis – Merkel wird es wieder – bereits feststeht, während andere von einer vergleichsweise hohen Repolitisierung sprechen. Hatten in der zweiten Augusthälfte 2013 nur 29% der Befragten in privaten Gesprächen über die bevorstehende Bundestagswahl gesprochen, so waren es aktuell 45%. Die genannten Gesprächsthemen zeigen ein völlig verändertes Bild. 2013 nannten Wetter (78%), Urlaub und Reisen (64%), Familie und Beziehung (60%), Gesundheit (57%), erstes politisches Thema auf Platz 6: NSA-Skandal (46%). In der zweiten Augusthälfte 2017 ergab sich dieses Bild: Wetter (68%), Donald Trump (65%), Flüchtlingssituation (61%), Türkei (54%), Diesel-Affäre (49%).

Gleichzeitig zeigten sich 48% der Befragten mit der Politik der Kanzlerin einverstanden (nein: 25%), Werte wieder wie Anfang 2014, völlig umgekehrt die Bewertung im Spätsommer/Herbst 2015. Die kommende Wahl bewerteten 19% als »Schicksalswahl« (2013: 13%; 2009: 16%; 2005: 47%; 2002: 27%; 1998: 45%).

»Die Bevölkerung mag ruhig und mit der Politik der Kanzlerin und der Bundesregierung zufrieden sei wie vor vier Jahren. Sie mag auch ähnliche Parteipräferenzen haben wie damals. Doch unpolitisch oder gar schläfrig ist sie deswegen noch lange nicht.«[4]

Ein gestiegenes Interesse an Politik und Kultur ermittelte auch die »Vermächtnisstudie« von ZEIT, WZB und Infas.[5] Die Datenerhebung fand im Sommer 2015 stand, eine Wiederholungsbefragung etwa elf Monate später 2016. Die Zustimmung zu der Aussage, es sei wichtig, sich über Politik und Kultur zu informieren, stieg deutlich (von 40% auf 48%), doppelt so stark bei den 14- bis 50jährigen, ebenfalls bei den Frauen. Es waren die mit der umkämpften Flüchtlingspolitik 2015/16 ausgelösten Debatten, die ein gestiegenes Interesse an Politik hervorriefen – was sich auch in der für Landtagswahlen hohen Beteiligung bei den Wahlen 2016/17 ausdrückte, wie im Abschnitt zur Wahlbeteiligung ausgeführt wurde.

Die Liste der von Allensbach erfragten Themen in privaten Gesprächen erstaunt zunächst nicht: Donald Trump nimmt oftmals Platz 1 in den Nachrichtensendungen ein, ebenso sind Türkei bzw. Erdogan nahezu täglich prominent platziert, und die Diesel-Affäre, der systematische Betrug der Manager eines Kernsektors des deutschen Wirtschaftsmodells, beschäftigt nicht nur Dieselfahrer. Insoweit könnte gelten: Die Themen der privaten Gespräche entsprechen der Nachrichtenlage.

Freilich hätte man die »Flüchtlingssituation«, gemessen an ihrem Stellenwert in den Nachrichtensendungen und im Wahlkampf, nicht unbedingt auf Platz drei erwartet. Allein sporadische Berichte über Rettungsaktionen im Mittelmeer erklären nicht diese herausragende Bedeutung. Deutlich wird vielmehr, dass es sich hierbei auch nicht um eine Momentaufnahme handelt, sondern einen bereits länger wirkenden Klangteppich des gesellschaftlichen Diskurses, der jedoch kein öffentlicher Diskurs im herkömmlichen Sinne ist.

Die Langfrist-Reihen der Forschungsgruppe Wahlen, die im Rahmen des Politbarometer seit 2000 nach den »wichtigen Problemen« fragt[6], ermitteln, dass seit Oktober 2014, also mit Beginn der »Pegida«-Märsche, die »Flüchtlingssituation« das mit Abstand am häufigsten als »wichtigstes« oder »wichtiges« Problem genannt wird. Kein anderes Thema erreichte seit Herbst 2014 eine solche Bedeutung. Kurzzeitig wurde die »Euro-/Finanzkrise« im Sommer 2015 von mehr als 20% als wichtiges Problem genannt, im Dezember 2015 noch »Terror/Krieg/Frieden«. Die »Flüchtlingssituation« mit all ihren Aspekten – von der Integration, der künftigen Zuwanderung, der Fremdenphobie bis hin zur Bekämpfung der Fluchtursachen – dominiert die abgefragte Problemlage wie einst die Arbeitslosigkeit, die bis Anfang 2011 das beherrschende Problem war und nunmehr abgelöst wurde.

Dieser Aspekt umfasst wesentlich mehr als die Ablösung eines Themenschwerpunktes. Wenn bis etwa 2010/2011 das Thema »Arbeitslosigkeit« zum bei weitem wichtigsten Problem erklärt wurde und somit auch in den privaten Gesprächen eine herausragende Rolle einnahm, dann kreiste die Erörterung um die innergesellschaftliche Verfasstheit von Arbeitsmarkt, Sozialstaat und Wirtschaft. Mit den Themen »Euro« und »Flüchtlingssituation« wurden Themen dominant, in deren Mittelpunkt Fragen nach dem Verhältnis von »Wir und die anderen« stehen. Diese Problemverschiebung beförderte einen strukturellen Vorteil rechter und nationaler Diskurse.

 

Diskrepanz zwischen Problemsicht der Bevölkerung und Wahlkampf-Themen

Daher ist die Behauptung nicht aus der Luft gegriffen, dass der Wahlkampf der Bundestagsparteien zu einem erheblichen Teil an der Problemwahrnehmung großer Teile der Bevölkerung vorbeigeht. Zu diesem Befund kam auch das Rheingold-Institut in seinen Tiefeninterviews in diesem Sommer:

»Das Grundmoment war, dass die Wähler von diesem Wahlkampf total enttäuscht sind. Sie haben das Gefühl, dass nicht auf das eingegangen wird, was sie bewegt, und dass vieles schöngefärbt wird. [...] In den Tiefeninterviews kam immer nur: Flüchtlingskrise, Flüchtlingskrise, Flüchtlingskrise. Was im Wahlkampf so galant ausgespart wird, ist bei den Wählern immer noch ein wunder Punkt, der von der Politik nicht behandelt worden ist. [...] Die Krise vor zwei Jahren hat die Wähler in ein Dilemma gestürzt, zu dem sie bis heute keine klare Haltung entwickeln können. Mache ich die Tür auf, mache ich sie zu? Einerseits will man die Willkommenskultur leben, dann aber gibt es auch Angst, von den Fremden verschlungen zu werden und dass man das eigene Land nicht wiedererkennt. Man hofft daher, dass die Politik einen Umsetzungsplan, eine kompromisshafte Haltung entwickelt. Doch die gibt es nicht, nun fühlen sich die Wähler alleingelassen.«[7]

Die »Flüchtlingssituation« zum wichtigsten oder zumindest zweitwichtigsten Problem zu erklären, muss nicht mit einer einzigen bestimmten Haltung gegenüber Geflüchteten und Zuwanderern verknüpft sein. Aus gegensätzlichen Haltungen kann man zu dieser Einschätzung kommen, unterschiedliche Aspekte können damit verbunden sein. Während die Haltung der Flüchtlingsabwehr mit allen damit verbundenen gesellschaftspolitischen Vorstellungen in der AfD eine politische Form gefunden hat, gilt das für die Gegen-Haltung in dieser Form nicht. Hierbei ginge es um mehr als um pragmatische Fragen der Integration und ihrer Finanzierung: Es geht um die Ordnung und Regelwerke, nach und in denen sich die deutsche Gesellschaft entwickeln soll, es geht um die grundsätzliche Haltung gegenüber den Nachbarn, den globalen Problemen und um die Rolle, die das Land in der Welt spielen soll – und wie die wirtschaftliche Stellung gewahrt werden kann. [8]

Die Ergebnisse von Infratest dimap am Wahlabend zeigen dies ebenfalls. Während 90 Prozent der Befragten der Auffassung sind, „abgelehnte Asylbewerber sollten schneller abgeschoben werden“, stimmen 79 Prozent der Aussage zu, dass „für die Integration von Flüchtlingen mehr getan werden muss“. Mehr als die Hälfte (57 Prozent) sind besorgt, dass der Einfluss des Islam immer stärker wird, doch 54 Prozent empfinden „Flüchtlinge als Bereicherung für unser Land“. Besorgnis, dass „zu viele Fremde nach Deutschland kommen“ äußern 38 Prozent. Aus dem Umstand, dass 71 Prozent der Auffassung sind, die Zahl der Flüchtlinge solle auf Dauer begrenzt werden, muss noch keine uneingeschränkte Zustimmung für eine Obergrenzen-Politik der CSU geschlussfolgert werden, sondern kann ebenso ein Plädoyer für ein Einwanderungsgesetz abgeleitet werden, da dies ebenfalls den Zugang nach Deutschland in irgendeiner Form regulieren würde.

Die Überraschung, mit der 2015/2016 die »Willkommenskultur«-Aktivisten zur Kenntnis genommen wurden, spricht dafür, dass auch hier gesellschaftspolitische Entwicklungen unterhalb der Wahrnehmung des politischen Betriebs stattgefunden haben/stattfinden und es auch auf der »linken« Seite ein Form-Substanz-Problem gibt. Im übertragenen Sinne könnte man vermuten: die kollektiven »Mentalitäten« der politischen Parteien repräsentieren größere Teile des gesellschaftlichen Denkens und Handelns nicht mehr.[9] Und sie sind möglicherweise deshalb nicht in der Lage gewesen, angemessen auf die Besorgnis, die Infratest dimap ermittelte zu reagieren, nach der 70 Prozent der Befragten befürchteten, dass „unsere Gesellschaft immer weiter auseinanderdriftet“. Das Rheingold-Institut spricht seinerseits von einem »Vexierbild«, als das Deutschland beschrieben werde, »entweder als marodes, verwahrlostes Land oder als sichere Insel des Wohlstandes in einem Meer voller Risiken«:

»Das reiche Deutschland als im Innern verwahrlostes Land: Aber auch das Unbehagen im Land wächst. Deutschland wird trotz seines Wohlstandes als verwahrlostes Land erlebt: Marode Schulen, kaputte Autobahnen, No-Go-Areas, Geheim-Absprachen zwischen Politik und Industrie, eine sich immer weiter öffnende soziale Schere, eine zunehmend gefühlte Unsicherheit im Alltag, in dem die gewohnten Selbstverständlichkeiten mehr und mehr verschwinden. Die Flüchtlingskrise hat dabei das schon lange vorher vorhandene Unbehagen in einer globalisierten Welt fassbar gemacht und weiter zugespitzt.«

Die gegenüber Infratest dimap geäußerten wesentlichen Themen der Wahlentscheidung stützen die vorstehenden Aussagen. Rund zwei Drittel (64 Prozent) sehen die Schul- und Bildungspolitik, die eigentlich originäre Angelegenheit der Länder ist, als am wichtigsten an. Die Terrorismusbekämpfung, die als ein weites Synonym für Sicherheit in unsicheren Zeiten zu werten ist, folgt mit 59 Prozent auf Rang zwei. Das Wahlkampfthema der guten Absicherung im Alter (Altersarmut) liegt mit 57 Prozent nur knapp dahinter auf Platz drei. Mit deutlichem Abstand folgt auf Platz 4 die „Zuwanderung von Flüchtlingen“, wobei zu konstatieren ist, dass nicht die Zuwanderung das Thema ist, das die Bevölkerung umzutreiben scheint, sondern vielmehr die sich in der Zuwanderung von Flüchtlingen ausdrückende Frage der Fähigkeit, den Zusammenhalt in der Gesellschaft aufrecht zu erhalten.

 

Exkurs: Ostdeutsche- und Mittelschichts-Deprivation

In einem vergleichsweise umfangreichen Beitrag würdigte die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 16. November 2016 den Thüringen Monitor, der im vergangen Jahr unter der Überschrift „Gemischte Gefühle: Thüringen nach der ‚Flüchtlingskrise‘“, stand, wobei der Begriff „Flüchtlingskrise“ nicht leichtfertig dem öffentlichen Diskurs folgend verwendet, sondern bewusst in Anführungszeichen gesetzt wurde.

Es zeigt sich, dass in dem, was der Thüringen Monitor weiterhin bestehende „Ost-Deprivation“ nennt, die Wiedervereinigung noch nicht abgeschlossen ist. Ostdeutsche – unabhängig von der individuellen sozialen Lage – fühlen sich in der Bundesrepublik weiterhin nicht in ihrer Lebensleistung anerkannt, trauern in diesem Sinne einer Heimat nach und bewerten aus dieser Perspektive das, was Heinrich Best und Kolleg/-innen in der Konsequenz „für Ostdeutschland spezifische Belastungen für die Integration“ nennen.

Die deutsche Einheit sei, so die Erkenntnis des letztjährigen Thüringen-Monitors von „intakten solidaritätsnormen einer nationalen Gemeinschaft“ getragen worden. Deshalb ist trotz Massenarbeitslosigkeit Ost und zum Teil erheblichen Unzufriedenheiten in Ost wie West nie von einer „Vereinigungskrise“ gesprochen worden. Im Gegensatz dazu und im Kontext nicht nur allein des Ausmaßes, wie Best u.a. formulieren „einer Zuwanderung von über einer Million Flüchtlingen und Asylsuchenden, weit überwiegend mit einem von der deutschen Bevölkerung markant unterschiedlichen soziokulturellen Hintergrund“sondern auch der spezifischen Umstände ihres Grenzübertritts und der politischen Entscheidungen „über ihren Eintritts in das Gebiet deutscher Verwaltungshoheit“ durch den Journalisten Robin Alexander im Buch „Die Getrieben“ fast minutiös nachgezeichnet, wurde von einem großen Teil der Öffentlichkeit einschließlich politischer Verantwortlicher ein „Kontrollverlust“ konstatiert, der zugespitzt als „Staatsversagen“ in den öffentlichen Diskurs Eingang fand. Die Normen der deutschen Einheit, von Willy Brandt mit ihm für den 10. November 1989 zugeschriebenen Worten „es wächst zusammen, was zusammen gehört“ für die Ewigkeit festgehalten, erzeugten als Zusammenwachsen zweier als Einheit empfundener Heimaten, ersichtlich tiefer greifende Solidaritätswirkung als die universellen humanitären Normen für die Aufnahme von Flüchtlingen. Diese wirken kurzlebiger und eingeschränkter. Der letztjährige Thüringen-Monitor zeigte erneut, die gemischte Situation einer stabilen Demokratiezufriedenheit, die von Migrationsbewegungen unbeeindruckt bleibt, bei einer erheblichen demokratieskeptischen bis demokratiefeindlichen Minderheit, die rund 20 Prozent der Befragten ausmacht. Obwohl die Ost-Deprivation eben keine vom sozialen Status abhängige Einstellung ist, zeigt sich dennoch, dass die Bewertung der Demokratie stark von verteilungspolitischer Benachteiligung bestimmt ist: „Unter Personen, die die deutsche Einheit negativ bewerten [also Verlusterfahrungen ihrer ostdeutschen Heimat identifizieren – BIH] und die Einschätzung vertreten, dass Westdeutsche Ostdeutsche als ‚Menschen zweiter Klasse‘ behandeln, gibt es nur 14 Prozent (!) zufriedene Demokrat_innen, aber 41 Prozent Demokratieskeptiker_innen und Demokratiefeind_innen. Hier wirken ebenfalls über lange Zeiträume eingeschliffene Gefühle der Benachteiligung und Ressentiments. Relative Deprivation, die aus Gruppenvergleichen resultiert, in denen die Eigengruppe als benachteiligt wahrgenommen wird, mag die Ursache dafür sein, dass auch im Hinblick auf ihre Positionen in den Status- und Einkommenshierarchien begünstigte Sozialkategorien demokratiefeindliche Einstellungen vertreten“, wie die Wissenschaftler/-innen um Heinrich Best konstatieren. Denn ein Ergebnis des Thüringen Monitors 2016, das mit vergleichbaren Ergebnissen einer sächsischen Untersuchung unter dem Titel Sachsen-Monitor korreliert, ist durchaus besorgniserregend: 20 Prozent der Thüringer höheren und leitenden Angestellten und Beamten stimmen der Aussage zu, dass eine Diktatur im nationalen Interesse unter bestimmten Umständen die bessere Staatsform sei. „Dies ist“, wie Best u.a. festhalten, „der höchste Wert unter allen Berufsgruppen. [Einer] Berufsgruppe, von der man eigentlich ein besonderes Loyalitätsverhältnis zur demokratischen Ordnung erwarten dürfte.“ Unter Bezug auf den Kasseler Soziologen sprechen die Autoren des Thüringen Monitors von den „Verbitterten der Mittelschicht“, deren Einstellungen zu Diktatur und Demokratie aus einem Deprivationsempfinden gespeist werde.

 

Sechs Hypothesen über die sozialen, ideologischen und psychologischen Triebkräfte zur Wahl der AfD

Über die inhaltliche Ausrichtung der AfD und ihres führenden Personals sind kaum Zweifel möglich. Umstritten ist vielmehr, mit welchen Motiven sie von wem gewählt wird. Dass die Wählenden wissen, wen sie wählen kann als gegeben angenommen werden: jeweils über 95% teilen die Positionen der AfD in der Anti-Flüchtlings- und Anti-Islampolitik. Bei der Abgeordnetenhaus-Wahl in Berlin 2016 meinte die Hälfte der AfD-Wähler/-innen, die Partei grenze sich nicht genug von rechtsextremen Positionen ab – und wählte sie dennoch.

Gleichwohl kommt es darauf an, die sozialen, ideologischen und psychologischen Triebkräfte zu analysieren und ihre weitere Entwicklung/Bedeutung zu beobachten. Dabei kann davon ausgegangen werden, dass es sich nicht um kurzfristige Ausschläge handelt, sondern um längerfristige Erfahrungen mit Ökonomie, Gesellschaft und Politik, die mit der AfD einen Repräsentanten im politischen Feld gefunden haben oder gefunden zu haben glauben. Sechs Hypothesen sollen zur Sortierung beitragen:

Hypothese 1: Die AfD enttabuisiert zuvor geächtete rechtsextreme Diskurse und sammelt ein, wer und was schon von Sarrazin begeistert war. Immer schon vorhandene Ressentiments, rechte Einstellungen usw. kommen mit der AfD zu politischem Selbstbewusstsein, lösen sich aus den bisherigen Parteien zu einem selbstständigen politischen Subjekt – so zum Beispiel die Interpretation von Oliver Decker und Elmar Brähler in ihrer aktuellen Studie zu Einstellungen der »Enthemmten Mitte«. Es kann darauf verwiesen werden, dass schon seit langem ein rechtsextremes Potential von um die 15% gemessen wurde und dies nicht nur am Rand (vgl. Heitmeyer). Auch die Datenerhebung von Vester u.a. aus der ersten Hälfte der neunziger Jahre zeigt für bestimmte Milieus hohe Zustimmungswerte von Ethnozentrismus, Sozialdarwinismus und Autoritarismus (Michael Vester am 30.9.2016 im GK Klassen und Sozialstruktur). Das Potenzial ploppte bereits zuvor an verschiedenen Stellen auf (Schillpartei, Stattpartei, DVU, Reps). Dieses Potential traut sich jetzt mehr und mehr in den Öffentlichkeit, durchzieht den öffentlichen Raum mit Feindseligkeit, besetzt Begriffe und Deutungsmuster und verfügt über einen parlamentarischen Arm. Zu untersuchen wäre bei dieser Hypothese vor allem, wie das politische Gelegenheitsfenster entstand und wirkte bzw. umgekehrt, was die Bedingungen waren, unter denen dieses Potential so lange eingehegt, stillgestellt war.

Hypothese 2: Die AfD und die sie treibende soziale Bewegung von rechts sind die späte Gegenreaktion auf die gesellschaftspolitischen Modernisierungsprozesse der vergangenen Dekaden (Stichwort: »versiffte 68er«). Von der Mitte an den Rand gedrängte Lebensführungsmodelle usw. wehren sich mit einem sich radikalisierendem Konservatismus. Die Erweiterung 2016: Es gärt schon lange, die »Flüchtlingspolitik« wirkt als Katalysator, die »eingefrorenen«, eingehegten nationalistisch-rassistischen Muster in der Arbeiterbewegung und im Kleinbürgertum – die »Bereitschaft zur Feindseligkeit« (Peter Brückner) - werden wieder lebendig. Politikwissenschaftlich: Die zentrale Konfliktlinie verläuft zwischen der offenen Gesellschaft/Universalismus und den verschiedenen Spielarten der Gemeinschaft, des Gemeinschaftsradikalismus (eine Spielart: drinnen – draußen). Diese Hypothese fragt dann nach den (enttäuschten) Hoffnungen und (erlittenen) Zumutungen der Globalisierung, nach den Bedingungen, die (nicht) erfüllt sind, um dabei mithalten zu können – und alternativen Institutionen, die Sicherheit und Zugehörigkeit vermitteln.

Hypothese 3: Die AfD wird vom Eigensinn verschiedener sozialer Klassen strategisch genutzt, um soziale Themen (statt der kulturellen Themen der 68er) wieder auf die politische Agenda zu bringen. Hierbei treffen sich, so die Zusatz-Hypothese, die beiden gesellschaftspolitischen Traditionslinien der Arbeit, die sozialdemokratische und die katholisch-christliche, insofern deren originäre Erwartungen verletzt wurden: Seit den 1980er Jahren wird erlebt, dass Sozialdemokraten i.w.S. in Politik und Aufsichtsräten Arbeitsplatzabbau nicht verhindern; und ebenso: die klassischen (moralischen) Patron-Klient-Regeln des Katholizismus werden aufgekündigt. Hier ginge es vordringlich darum, die spezifischen Erfahrungen bestimmter Milieus und bestimmter Sozialräume, die Bewältigung verlorener Kämpfe und sozialer Positionen in den vergangenen Jahrzehnten zu rekonstruieren. (Vgl. für eine erste Periodisierung dieser »Erfahrungswellen« in dem Beitrag „Transformation des deutschen Sozialstaates und die Rückkehr der «gefährlichen Klassen»“ in »Umkämpfter Sozialstaat«, Manuskripte Neue Folge Nr. 4)

Hypothese 4: Die relativ geringe Zustimmung für die AfD unter Akademikern und die relativ hohe unter Personen mit Fachlehrausbildung verweist auf eine neue soziale Konfliktlage (entlang der Bildung). Es geht um die Frage, welchen Grad der Respektabilität kann man ohne eine akademische Berufsausbildung überhaupt noch erreichen, welche sozialen Ränge lassen die Höherqualifizierten noch frei (Stichwort: blockierte Aufstiegsgesellschaft). Möglicherweise handelt es sich hier um die in die Zukunft gerichtete Hypothese 3. Mit einer akademischen Ausbildung einschließlich guten Fremdsprachenkenntnisse begreift man die Globalisierung und die Arbeit in transnationalen Wertschöpfungs-Plattformen weitaus eher als bereichernd und weitaus weniger als bedrohlich, so dass sich hier ein Konflikt zwischen verschiedenen (horizontal und vertikal geschiedenen) Segmenten herausbildet (wie er etwa für Frankreich schon beschrieben wurde) (vgl. dazu auch den Beitrag aus dem Sozialismus-Heft)

Hypothese 5: Wir haben es mit einer weiter in die gesellschaftlichen Tiefen reichenden strukturellen Verschiebung zum Bewahren, Konservieren, Verteidigen des erreichten Standards zu tun. Auf letzteres deuten etliche Umfragen in den vergangenen zehn Jahren hin, die der Bevölkerung mehrheitlich Zufriedenheit mit dem Erreichten attestieren (am prononciertesten: Meinhard Miegel): Mentale Muster von »Postwachstum« und andere Einstellungen, die jedenfalls nicht für die ständige Innovations- und Anpassungsbereitschaft des globalen Kapitalismus aktiv leben, sondern andere Orientierungen haben - ein aggressionsbereiter Konservatismus, der im Druck der globalen ökonomischen Zusammenhänge auf die hiesige gesellschaftliche Arbeitsteilung, ihrer sozialen Rangfolge wurzelt, und mehr noch: in der Altersstruktur der Bevölkerung wachsende Resonanz findet? Am Ende wäre eine Beschäftigung mit der Soziologie alternder Gesellschaft aufklärend.

Die überdurchschnittlichen Stimmanteile der AfD zuletzt bei den über 45jährigen könnten sowohl im permanenten Veränderungsdruck in der Arbeitswelt gründen als auch in der Erwartung der eigenen Zukunft als Rentner: Je näher die Rente rückt, desto geringer die Bereitschaft zu Veränderungen – Revolutionen, Transformationen könnten ja auch die Alterssicherung betreffen... Jedenfalls: die Wahlberechtigten über 50 Jahren bilden bundesweit mittlerweile die Mehrheit, auch in vielen Ländern – und sie beteiligen sich zudem noch überdurchschnittlich an Wahlen.

Mecklenburg-Vorpommern hat sicherlich die »älteste« Wählerstruktur aller Bundesländer mit einem Anteil von gerade einmal 42% unter 50jähriger Wahlberechtigter. Aber auch auf Bundesebene erhöhte sich der Anteil der 50jährigen und älteren Wahlberechtigten allein von 2009 auf 2013 von 47,4% auf 50,3%. In Baden-Württemberg waren 2011 48,9% der Wahlberechtigten jünger als 50, 2016 nur noch 45,4%. Die »Vergreisung« des Elektorats wird sich in den kommenden beiden Jahrzehnten fortsetzen.

In der anschließenden Tabelle wird das Elektorat in drei »Generationen« unterteilt: die unter 30jährigen, bei denen Fragen der Berufswahl, der Ausbildung, der Arbeitsplatzsuche, des Sesshaftwerdens dominieren. Die »mittlere« Generation, in denen Fragen der Familiengründung, der Kindererziehung, der Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Freizeit, der Akkumulation von sozialem und kulturellen das Alltagsleben bestimmen und die »ältere Generation«, deren Berufsleben in die letzte Dekade(n) eintritt, die Großeltern werden und sich verstärkt mit dem Alltagsleben als Rentner beschäftigen bzw. dieses bereits erreicht haben. Diese Einteilung ist selbstverständlich schematisch und dient allein der Veranschaulichung des anwachsenden strukturellen Übergewichts einer Generation, die an großen Veränderungen und politischen Abenteuern nicht interessiert ist, wohl aber hartnäckig die eigenen Interessen und Standpunkte zu vertreten mag.

Hypothese 6: Die Stärke der AfD, ihre Anpassungsfähigkeit, insbesondere ihre Organisationsfähigkeit sind ohne entsprechendes Personal nicht vorstellbar. Als Abspaltung aus dem herrschenden Block verfügt sie über diverse Zugänge in den Staatsapparat. Zu beobachten sein wird auch, wie sich der Stimmenanteil unter Beamten, generell: Staatsbediensteten, entwickelt. In Sachsen lässt sich bereits beobachten, wie eine mit NPD- und AfD-Anhängern durchsetzte öffentliche Verwaltung das Vertrauen in Rechtsstaatlichkeit und Grundgesetztreue schwinden lassen kann, weil sie nicht bereit ist, die Einhaltung von ein paar elementaren grundgesetzlichen Regeln des Zusammenlebens bzw. der Konfliktaustragung durchsetzen.

 

[1] Bei der Erarbeitung dieses Textes wurden mit Einverständnis des Autors Passagen des am 14. September 2017 auf www.horstkahrs.de veröffentlichten Papiers: „Exzerpte und Anmerkungen zur gesellschaftlichen und politischen Situation in Deutschland – Facetten des widersprüchlichen Alltagsbewusstseins“ sowie des im Herbst des vergangenen Jahres abgeschlossenen Papiers „Die Landtagswahlen 2016 – Acht ausgewählte Aspekte der politischen Veränderung“ einbezogen bzw. verwendet.

[2] Im 2. Deutschen Bundestag waren vertreten: CDU: 191 Sitze, SPD: 151 Sitze, CSU: 52 Sitze, FDP: 48 Sitze, GB/BHE: 27 Sitze, Zentrum: 3 Sitze.

[3] Renate Köcher, 2017, Aufbruchstimmung, FAZ vom 21. Juni 2017.

[4] Thomas Petersen (Institut für Demoskopie Allensbach): Die Leute reden wieder über Politik; FAZ 7.9.2017

[5] Jutta Allmendinger: Das Land, in dem wir leben wollen. Wie die Deutschen sich ihre Zukunft vorstellen; München (Pantheon) Juni 2017.

[6]Der Fragetext lautet: »Was ist Ihrer Meinung nach gegenwärtig das wichtigste Problem in Deutschland?« und dann: »Und was ist ein weiteres wichtiges Problem?« [http://www.forschungsgruppe.de/Umfragen/ Politbarometer/Langzeitentwicklung_-_Themen_im_Ueberblick/Politik_II/Fragetext_PB_2017_BTW.pdf]

[7] Stephan Grünewald: »In Deutschland rumort es«, Interview DER SPIEGEL, 36/2017, S. 30. Grünewald ist Direktor des Rheingold-Instituts, welches uns vor der Bundestagswahl 2013 das Bild vom »bedrohten Paradies« bescherte. Die aktuelle Studie trägt den Titel »Die gebremste Wut der Wähler« - https://www.rheingold-marktforschung.de/veroeffentlichungen/artikel/Gebremste_Wut_der_Waehler_-_Eigenstudie_zur_Bundestagswahl_2017.html . ALLERDINGS: Die Studie selbst sowie die Interviews liegen nicht vor, so dass die Bewertungen und Interpretationen nicht nachgeprüft werden können. Auch sind naturgemäß Angaben über die Ausbreitung und Repräsentativität der beschriebenen Stimmungen nicht möglich.

[8] Auffällig ist, dass die Gründung der AfD unmittelbar auf die Phase folgt, in der die »Euro- und Finanzkrise« das wichtigste Problem war – siehe Grafik im Anhang. Wir erleben also, wie sich nach dem Ende der Dominanz des Problems Arbeitslosigkeit, dass seine politische Form in der »Agenda 2010« einerseits und der Gründung der Partei DIE LINKE andererseits fand, veränderte politische Problemwahrnehmungen politisch eigenständig formieren. Damit treten andere Fragen in den Vordergrund: die zukünftige Entwicklung der (Regeln und Ordnung der) Gesellschaft und die Rolle Deutschlands in der Welt, das Verhältnis zu anderen Staaten, zu globalen Problemen usw.

[9] An dieser Stelle wäre darüber zu sprechen, wie das mit der Strategie des »Dritten Pols« zusammenpasst. Um nicht falsch verstanden zu werden: Sehr wohl gibt es Bürger und Bürgerinnen, für die Mieten, Rente, Bildung usw. die wichtigen Probleme sind. Das Problem besteht darin: Wenn das Thema der AfD überlassen wird, erreicht man diejenigen, die zu dem Thema eine völlig andere Haltung als die AfD haben, mit Themen der Sozialen Gerechtigkeit und der Verteilungspolitik eher nicht bzw. vermittelt ihnen das von Grünewald beschrieben Gefühl, »dass nicht auf sie eingegangen wird«. Sie zu erreichen wäre aber allein aus Gründen der Mehrheitsbildung wichtig.