17.04.2016

Rede zur Eröffnung der neuen Dauerausstellung im Konzentrationslager Buchenwald

Rede zum 71. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald am 17. April 2016

Verehrte Zeitzeugen,
meine sehr geehrten Damen und Herren,

vor einer Woche erhielt ich einen Brief in die Staatskanzlei, wie er uns inzwischen häufiger erreicht: Ein Rudolf Hess aus der – zynischer Weise – Bonhoefferstraße  in Weimar beschrieb darin seine Empörung über die Aufnahme muslimischer Flüchtlinge in Deutschland.

Aus seinen Zeilen spricht die Angst vor einer Überfremdung aber vor allem Hass. Seine Anwürfe gipfeln in den Zeilen – ich zitiere:

„Jetzt muß das deutsche Volk selbst handeln. Muslime, die dem islamischen Fundamentalismus zugeordnet werden, europäische Dschihadisten, IS-Kämpfer und andere Terroristen sind unverzüglich in Konzentrationslager zu verbringen und zu eliminieren!“ Zitat Ende.

Wir müssen den Brief des selbsternannten Rudolf Hess nicht interpretieren. Er ist in seiner Eindeutigkeit brutal und in seiner Brutalität eindeutig. Briefe wie dieser belegen: Der in der realen und der virtuellen Welt häufig zu hörende Wunsch, von den „Altlasten“ der deutschen Geschichte befreit zu werden, hat – quasi als Kollateralschaden – ein wachsendes Angebot, Frust und Verachtung von Minderheiten ungehemmt auszuleben, zur Folge.

Heute, 71 Jahre nach der Befreiung von Buchenwald, ist es daher längst wieder an der Zeit, die offene Gesellschaft zu verteidigen – gegen ihre kaltherzigen Verächter. Gegen Menschen, die bar historischer Kenntnisse, die ihren eigenen Erfahrungshorizont übersteigen, ein bewusstes und selbstgewisses Überschreiten aller Grenzen der Humanität fordern.

Wer nach einer national kodierten Gesellschaft ruft, die auf den Ideen einheitlicher Herkunft, Kultur und Sprache gründet, der strebt die Volksgemeinschaft und ihre rassistische Exklusionspolitik an, wie sie die Nationalsozialisten propagierten. Das kann in Deutschland jeder, das muss sogar jeder wissen. Homogenität einer Gesellschaft lässt sich nur mit Ausgrenzung und Gewalt erreichen. Buchenwald steht – pars pro toto – für diese Erfahrung.

Wir wissen: Geschichte ist immer nur so weit präsent und lebendig, wie es Menschen gibt, die sich ihrer erinnern wollen. Eine Gesellschaft verfügt nur dann über ein reflexives Geschichtsbewusstsein, wenn sich eine kritische Öffentlichkeit mit ihrer Herkunft beschäftigt und reflektierte Lernerfahrungen einfordert.

Genau darin besteht der öffentliche Auftrag der Gedenkstätte Buchenwald: Sie regt als offener Lernort zu kritischem, selbstständigen Nachdenken über Geschichte an, ohne den Besucherinnen und Besuchern die konkreten Lerninhalte zu diktieren. Ihre Relevanz als geschichtspolitischer Akteur ergibt sich aus ihrem Wirken in die Gesellschaft hinein, indem sie dazu ermuntert, über die historischen Geschehnisse hinaus Fragen zu stellen: Zum Beispiel nach den Ursachen und Mechanismen von Entrechtung, Ausbeutung und Verfolgung, nach eigenen Handlungsspielräumen in kollektiven Strukturen und natürlich nach individueller Verantwortung in globalen Zusammenhängen.

Die neue Dauerausstellung, die wir heute der Öffentlichkeit übergeben, ist Ausdruck unseres aufrichtigen Bemühens, aus dem größer werdenden zeitlichen Abstand zur Hitler-Diktatur keine innere Distanz zu den Opfern der nationalsozialistischen Verfolgung werden zu lassen. Das Andenken an die Verfolgten aus ganz Europa und die Würdigung ihres Leidens und Sterbens ist und bleibt zentraler Auftrag der Gedenkstätte Buchenwald.

Die Erfahrungen der Opfer des Nationalsozialismus als Teil der öffentlichen Erinnerungskultur zu bewahren, ist eine politische Aufgabe, der das Land Thüringen große Bedeutung zumisst.

In Zusammenarbeit mit Überlebenden, Historikern und Pädagogen hat die Gedenkstätte die museologischen und didaktischen Grundlagen ihrer Ausstellung überdacht und auf nachfolgende Generationen mit gänzlich anderen Erfahrungshorizonten ausgerichtet. Die neue Dauerausstellung will ganzheitliche Bildungsprozesse sowohl durch kognitive Annäherungen an die Geschehnisse auf dem Ettersberg als auch durch emotionale Zugänge zum Leiden der Verfolgten in Gang setzen. Ein besonderes Anliegen der neuen Dauerausstellung ist es, die Einbettung und Verwurzelung der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen in der Gesellschaft herauszuarbeiten. Vom System der Konzentrationslager, das sich Anfang der 40-er Jahre mit hunderten von Außenstellen wie ein dichtes, tödliches Netz über weite Teile Europas spannte, profitierte unmittelbar und mittelbar die gesamte Gesellschaft:

•die Nationalsozialisten und ihre Sympathisanten,

•die Nutznießer der Arisierungen,

•Unternehmer wie Bauern, die Zwangsarbeiter einsetzten,

•Techniker wie die Firma „Topf und Söhne“, die mit innovativen Krematorien ein Vermögen verdienten.

In diesem dichten Geflecht der Beziehungen werden die Verbrechen der Nationalsozialisten aus ihren Ideologien, Zielen und Motiven heraus erläutert. Ein pädagogisch kluger Weg, um der Dämonisierung der Täter entgegenzuwirken und so die innere Distanzierung von deren Taten zu erschweren.

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

im Namen des Landes Thüringen danke ich allen, die an der Neukonzeption der Dauerausstellung mitgewirkt haben. Ich danke den Zeitzeugen, insbesondere Bertrand Herz und dem unvergessenen Floreal Barrier, für ihre intensive Unterstützung dieser Exposition und ihre unverzichtbaren Erinnerungen. Mein Dank gilt Prof. Knigge und allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Gedenkstätte, die vorausschauend neue Formen und Wege der Repräsentation des Vergangenen suchten und fanden. Ich danke auch dem Wissenschaftlichen Kuratorium der Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora für ihre Unterstützung, die Ausstellung auf dem Niveau moderner zeithistorischer Forschung zu präsentieren. Last but not least danke ich Frau Prof. Grütters und dem Bund für die finanzielle Förderung.

Mit dieser neuen Dauerausstellung arbeiten wir gegen den dezidierten Willen einiger Menschen an, einen Schlussstrich unter die Geschichte des 20. Jahrhunderts zu ziehen. Gerade weil die Einstellungen zahlreicher Bürgerinnen und Bürger, ob alt oder jung, trotz der Zeitläufte in erschreckender Weise unverändert erscheinen, gerade weil wir derzeit eine fatale Menschenfeindlichkeit auf der Straße und eine große gegen Flüchtlinge gerichtete Brutalität erleben müssen, ist die Geschichte von Buchenwald von ungebrochener Aktualität. Wir dürfen uns Opfern von Ausgrenzung und Gewalt gegenüber nicht stumm und taub und Tätern gegenüber nicht blind und dumm stellen. Jedem Menschen steht das Recht zu, Rechte zu haben. Dies ist das Vermächtnis des Konzentrationslagers Buchenwald im 21. Jahrhundert.