25.03.2016

Die AfD nach der Landtagswahl 2016

Beitrag auf dem Blog von www.freitag.de

Zwei Wochen vor der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt veröffentlichte Reinhard Bingener in der FAZ einen Beitrag über "Zehn Gründe, warum die AfD [in Sachsen-Anhalt - d.A.] durch die Decke schießt". Neben manch zutreffender Beobachtung, z.B. über anhaltende Abwanderung und auch nach 25 Jahren deutscher Einheit noch bestehende Strukturschwäche dieses ostdeutschen Bundeslandes, findet sich im Text eine bemerkenswerte Feststellung über ostdeutsche "Gleichgültigkeit und Undank", in der deutlich wird, wie weit West- und Ostdeutschland auch heute noch auseinander liegen. Bingener formuliert: "Mit dem Fernbleiben von der Wahl wollen viele Nichtwähler ihre Verachtung für das politische System dokumentieren - ein politisches System, das zig Milliarden Euro für die Sanierung der Städte ausgegeben hat und viele weitere Milliarden für den Bau der Straßen, auf denen sie tagtäglich fahren. Ohne das Geld aus Westdeutschland würden auch die Nichtwähler noch heute durch verrottete Innenstädte laufen. Man kann lange darüber grübeln, worauf ein solcher Mangel an Einsicht über den Grund für den eigenen Lebensstandard beruht. Man kann die Sache aber auch einfach moralisch betrachten: als Undankbarkeit."

Wer sich vergegenwärtigt, dass allein in Baden-Württemberg 809.000 Wählerinnen und Wähler für die AfD stimmten (15,1%), zusätzlich in Rheinland-Pfalz 267.800 Wahlberechtigte (12,6%) und in Sachsen-Anhalt weitere 271.800 Menschen ihre Zweitstimme der AfD gaben (24,2%), wird feststellen, wie absurd es ist, die Wahl der AfD zu einem ostdeutschen Spezifikum zu machen.

Woher kamen die Stimmen für die AfD?

Nach den Berechnungen der Forschungsgruppe Wahlen waren 40-50% der AfD-Stimmen zuvor Stimmen für die kleineren Parteien einschließlich der NPD oder kamen von früheren Nichtwählerinnen und Nichtwählern.

In Sachsen-Anhalt kamen jeweils gut ein Sechstel von den beiden zuvor größten Parteien im Landtag, CDU und LINKE, in den westdeutschen Ländern je ein Viertel bis ein Drittel der AfD-Stimmen von der Union.

Die Wanderungsbilanzen von Infratest dimap vermitteln ein in der Grundtendenz ähnliches, in einzelnen Aspekten aber abweichendes Bild: Der Anteil der Stimmen von anderen kleinen Parteien und den Nichtwählern ist mit 48% in Baden-Württemberg, 53% in Rheinland-Pfalz und 62% in Sachsen-Anhalt höher als von der Forschungsgruppe Wahlen ermittelt. Der AfD-Anteil ehemaliger LINKE-Wähler/-innen ist demgegenüber nach Infratest dimap für Sachsen-Anhalt niedriger. Die Gewichtung innerhalb der einzelnen Länder, wie auch die Unterschiede zwischen ihnen weisen aber bei beiden Instituten die gleiche Struktur auf.

Die Zusammensetzung der neuen Wähler/-innenschaft der AfD ist eine Perspektive, eine andere die Frage nach dem Anteil, den die Verluste an die AfD an allen Verlusten einer Partei an andere Parteien haben. Die entsprechende Rechnung lautet: Anteil der Stimmen für die AfD in Prozent, bezogen auf die absolute Zahl der verlorenen Stimmen für die betreffende Partei.

  • In Baden-Württemberg sind es FDP (-20.000 Stimmen, entspricht 90%) und LINKE (-28.000 Stimmen, 79%), die die höchsten relativen Verluste an die AfD hinnehmen müssen. Die Grünen verloren 68.000 Stimmen an die AfD (entspricht 69%).
  • In Rheinland-Pfalz vergegenwärtigten die „anderen“ Parteien die prozentual größten Verluste an die AfD (91%, d.i. -47.000 Stimmen), aber auch die FDP (-8.000 Stimmen, d.i. 89%). Die Ex-Wähler/-innen von LINKE und CDU wandern zu rund 70% an die AfD und zu 65% an die SPD, während hier die Grünen kaum an die AfD (3%), sondern stärker an die SPD verlieren.
  • In Sachsen-Anhalt ergibt sich eine ähnliche Rangfolge: „Andere“ (100%), FDP (86%), CDU (73%), LINKE 59%), SPD (30%), Grüne (20%).

Fasst man alle Zahlen zusammen, so ist der Anteil der Verluste an die AfD für die FDP mit 86% aller Verluste an andere Parteien am größten, gefolgt von der LINKEN (67%) und den kleinen Parteien (64%). Bei der Union gehen noch 52% der Verluste an die AfD, bei der SPD ein Drittel und bei den Grünen unter 30%.

Offenbleiben muss hier, wann die Abwendung und die Hinwendung zur AfD erfolgte. Ein erheblicher Teil könnte bereits bei der Bundestagswahl 2013 und/oder bei der Europa-Wahl 2014 die AfD gewählt haben.

Die AfD wurde in allen drei Ländern überdurchschnittlich von Männern, Arbeiter/-innen und Arbeitslosen sowie Wahlberechtigten mit Hauptschulabschluss und mittlerer Reife gewählt. Dort, wo die AfD überdurchschnittliche Anteile bekommt, ist in der Regel auch die Union stark. Nur in Rheinland-Pfalz behauptet die SPD den Platz als klassische Arbeiter- und Sozialstaatspartei.

In Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt wurde die Partei unter Arbeiter/-innen und Arbeitslosen die stärkste Partei, in Sachsen-Anhalt zudem die stärkste Partei bei Männern und unter 45jährigen Wählern und Wählerinnen, dank der überdurchschnittlichen Stimmenanteile bei Männern. Diese Wählerstruktur deutete sich bei den vorhergehenden Landtagswahlen in Ostdeutschland bereits an. Es tritt nun jedoch deutlicher hervor, dass die AfD derzeit die Partei der Arbeiter/-innen und der unteren Mittelschichten ist. Auch daraus erklären sich die derzeitigen Bemühungen innerhalb der Partei, programmatischen Ballast abzuwerfen, der noch aus der Gründungszeit der früheren Wirtschaftsprofessorenpartei resultiert. Gleichwohl vertreten Akteure, wie der Parteivorsitzende Jörg Meuthen Positionen, die den Widerspruch erzeugen, dass die AfD im Gegensatz zu ihrer Wähler/-innenschaft sozial- und wirtschaftspolitisch als Partei der Besserverdienenden auftritt, sich insoweit programmatisch gegen die Interessen des Kerns ihres eigenen Elektorats stellt.

Tektonische Verschiebung im Parteiensystem

Die Furcht vor der Ausbreitung des Islam und vor durch weitere Flüchtlingszuwanderung wachsende Kriminalität bildeten bei diesen Landtagswahlen die hauptsächlichen Unterschiede zu den anderen Parteien. Die AfD bezog im Wahlkampf eine von den Bundestagsparteien klar unterschiedene Position, die der Brandenburger Fraktionsvorsitzende und einflussreiche Parteipolitiker Alexander Gauland am Wahlabend in der ARD wiederholte: „Wir wollen keine Flüchtlinge aufnehmen.“

Dieses Alleinstellungsmerkmal machte sicherlich einen Teil des Wahlerfolges aus. Ein anderer Teil erklärt sich durch ihre Attraktivität für alle Protestwähler: Wer AfD wählte, konnte sich sicher sein, alle anderen Parteien mächtig zu ärgern und zu Reaktionen zu zwingen. Überdurchschnittlich stark schnitt sie unter männlichen und unter 45jährigen Wählern, unter Haupt- und Realschülern, Arbeitern und Arbeitslosen ab. Hier wurde sie teilweise sogar stärkste Partei.

Langfristig bedeutsam ist freilich, dass die AfD eine bedeutsame gesellschaftspolitische Minderheit repräsentiert. Sie wurzelt in einer traditionsorientierten, wertkonservativen Grundströmung der Gesellschaft, die politisch heimatlos geworden ist. Insofern sind mit dem Wahlabend ihre Chancen gestiegen, sich auch nach Abklingen der Protestparteifunktion im Parteiensystem als 6-12%-Partei zu behaupten.

Auf der Landkarte des europäischen Rechtspopulismus war die Bundesrepublik Deutschland, wie Frank Decker zutreffend feststellte, lange Zeit ein weißer Fleck.[1] Zwar gab es auch hier seit Anfang der 1990er Jahre Wahlerfolge von rechtspopulistischen Parteien, wie z.B. der Schill-Partei in Hamburg, konnten sich die Republikaner rund zehn Jahre im Landtag Baden-Württemberg halten bzw. über zehn Jahre in fast allen ostdeutschen Landtagen außer Thüringen vergleichsweise flächendeckend rechtsextreme Parteien wie die DVU oder die NPD, teilweise mit zweistelligen Ergebnissen gewählt, Fraktionen bilden. Gleichwohl blieben diese Ereignisse auf der regionalen Ebene beschränkt und „führten nicht zur dauerhaften Etablierung einer Rechtsaußenpartei im nationalen Rahmen“.[2]

Doch bereits bei der Bundestagswahl 2013 stimmten rund zwei Millionen Wahlberechtigte im ganzen Bundesgebiet für die AfD, die damals mit 4,7% ebenso wie die FDP nur knapp an der Sperrklausel scheiterte. Seitdem konnte sich die Partei bei Landtagswahlen in Ost- und Westdeutschland etablieren. Seitdem ist über die viel publiziert worden[3], sie hat sich zudem durch die Abspaltung des wirtschaftsliberalen Flügels um Bernd Lucke und im Zuge der Flüchtlingsdebatte deutlich nach rechts entwickelt. Nach den Landtagswahlen vom 13. März 2016 ist sie in der Hälfte der deutschen Landtage vertreten. Manche Analyse muss im Lichte dessen angepasst, zumindest überprüft werden.

Mit der AfD hat im Unterschied zum kurzzeitigen Phänomen der parlamentarischen Verankerung der Piratenpartei eine tektonische Verschiebung des Parteiensystems stattgefunden. Diese manifestiert sich dabei weniger in der Bildung der acht AfD-Landtagsfraktionen und der damit verbundenen Veränderungen auf die Zusammensetzung der Landtage.

Die heftigste Bruchkante im Parteiensystem besteht darin, dass sich in Gestalt der AfD in spürbarer Teil christdemokratischer und christsozialer sowie auch liberaler Stammwähler/-innenschaft, der von jeher nationalkonservativ dachte, von den Unionsparteien sowie den Liberalen abwendet. Die Wahrscheinlichkeit, dass die drei Parteien dieses Spektrum wieder an sich binden und halten können, ist aus heutiger Sicht gering.

Die CDU hat in den vergangenen mehr zwölf Jahren der Kanzlerschaft Merkels eine Entwicklung genommen, die sie sowohl wirtschaftspolitisch eher in die Nähe der Sozialdemokratie rückte als neoliberal ausprägte als auch gesellschaftspolitisch mit den liberalen, urbanen Mittelschichten verband. Bereits heute erscheint ein Bündnis aus Union und Grünen einigen als logische politische Repräsentation einer Gesellschaft, in der die ideologischen Großthemen der Bonner Republik, die noch Schröders rot-grüne Kanzlerschaft prägten, ihre Dominanz verloren haben. Die Kanzlerin hat in ihrer seit 2005 dauernden Amtszeit mit den wechselnden Partnern SPD und FDP die Wehrpflicht abgeschafft, Atomkraftwerke abgeschaltet, die Energiewende eingeleitet und auch führende Unionspolitiker für die Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe plädieren. Sie hält beharrlich an ihrer Flüchtlingspolitik des „Wir schaffen das“ fest – gegen den heftigen Widerstand der CSU und Teile ihrer eigenen Partei.[4] Aus diesem Widerstand speist sich u.a. die Überlegung, ob die AfD langfristig erfolgreich sein könnte, würde die CSU als demokratische Rechtspartei sich bundesweit ausdehnen, mit dem Ziel, die konservativen Unionswähler/-innen dauerhaft an sich zu binden, auch um den Preis, nicht mehr die Bayern-Partei zu sein, wie bisher. Befragt von der Forschungsgruppe Wahlen am 13. März 2016, gaben in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz rund 25% der Wähler/-innen an, sie hätten es gut gefunden, wenn sie die CSU hätten wählen können (in Sachsen-Anhalt 31%). Von den AfD-Wähler/-innen wiederum hätten dies in Rheinland-Pfalz 71%, in Baden-Württemberg 61% und in Sachsen-Anhalt 57% begrüßt.

Der FDP gelang es in der Zeit ihrer Beteiligung an der Bundesregierung nicht, ein Gegengewicht zur Union zu bilden. Denn in den wesentlichen gesellschaftspolitischen Fragen, aus der sich die Unzufriedenheit der Konservativen speiste, ging die FDP mit dem Zeitgeist und in den wirtschaftspolitischen Positionen lagen die Liberalen gegen den Mainstream der AfD, der in seiner Mischung aus Abschottung, Ablehnung von Freihandelsabkommen und anti-europäischen Ressentiments eher eine Tea-Party deutschen Zuschnitts darstellt, als eine neue liberale Alternative. Spätestens nachdem die liberale Partei sich in einem Mitgliederentscheid für eine Unterstützung der EU-Rettungspolitik aussprach, hatte die FDP die Gelegenheit vertan, das Gelegenheitsfenster der AfD zu schließen oder zumindest sich in den Wind zu stellen.

Dieses Spektrum ist am ehesten mit dem Milieu der Republikaner vergleichbar – wenn Beobachtungen sowohl von Forsa als auch der Wahlstatistik in Baden-Württemberg, wo die Partei sowohl 1992 als auch 1996 mit 10,9% bzw. 9,1% im Landtag saß, zugrunde gelegt werden – und konnte über einen langen Zeitraum von der Union gebunden werden bzw. fand keine andere Repräsentationsfläche. Die NPD war für diesen bürgerlichen Teil des Republikaner-Lagers nicht wählbar war. In diese Lücke stieß nun die AfD.

Parallel zu Union und FDP verliert die Linkspartei stärker noch als die SPD einen Teil derjenigen Wähler/-innenschaft, die sich ihr Bedürfnis nach sozialer Gerechtigkeit weniger in Umverteilung von oben nach unten artikuliert sehen, als vielmehr in der Abgrenzung gegenüber den Fremden, die vom als bedroht empfundenen Wohlstand partizipieren, ihn schmälern könnten. Wie konnte es dazu kommen?

Politischer Diskurs marktförmigen Extremismus und fortgesetztes Bedrohungsgefühl

„Aus der vergleichenden Forschung weiß man, dass es in der Regel einer bestimmten gesellschaftlichen Krisenkonstellation bedarf […], um solche Parteien und Bewegungen hervorzubringen.“[5] Im Falle der AfD war die Finanz- und Eurokrise das Gelegenheitsfenster, für eine neue EU-kritische Partei, „deren programmatische Kernforderungen – kontrollierte Auflösung der Währungsunion und Absage an eine weitere Vertiefung des europäischen Integrationsprozesses – geeignet waren, um daran eine breitere rechtspopulistische Basis anzudocken“.[6]

Unsere Analyse der Europawahl 2014 stützte diese These. Bereits damals konnte gezeigt werden, dass Euro-Skepsis allein nicht das entscheidende Moment des Wahlerfolgs der AfD darstellte.

Erkenntnisse des Instituts für Demoskopie in Allensbach über die potenziellen Unterstützer der AfD ergaben, dass sich 80% derjenigen, die die AfD zu wählen beabsichtigten, eine Rückkehr zur nationalen Währung wünschten; 68% waren überzeugt, dass die Nachteile des Euro für Deutschland überwiegen und 75% glauben nicht daran, dass es den Euro in zehn Jahren noch geben wird. Mit den Worten von Renate Köcher aus dem Allensbach-Institut: „Die potenziellen Unterstützer der ‚Alternative‘ sind nicht signifikant stärker als der Durchschnitt der Bevölkerung über die Krise in der Eurozone beunruhigt. Aber sie halten die gesamte Konstruktion einer Währungsunion für einen Irrweg und hoffen entsprechend, dass die Krise dazu beiträgt, diesen Weg zu beenden. Als Übergangslösung plädieren sie mit großer Mehrheit für den Ausschluss überschuldeter Länder.“

Dass der ehemalige Berliner Finanzsenator, Thilo Sarrazin, nach den März-Wahlen gegenüber BILD die Auffassung vertrat, dass wenn die verantwortlichen Politiker der CDU und SPD seine Thesen ernst genommen hätten „und entsprechend gehandelt, so wäre die AfD 2013 gar nicht erst gegründet worden oder hätte zumindest nicht diese Wahlerfolge“, überrascht ebenso wenig, wie der Aussage zugestimmt werden kann.

Vielmehr ist das Gegenteil der Fall – die Thesen von Thilo Sarrazin bereiteten den Boden für einen politischen Diskurs, in dem die AfD mit dem Habitus gesellschaftlicher Normalität und Akzeptiertheit auftreten und Positionen vertreten konnte, die zu den besten Wahlerfolgszeiten der Republikaner in den 1990er Jahren, noch als außerhalb des Akzeptablen gewertet wurden.

Die im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung durchgeführten Mitte-Studien, die sich mit rechtsextremistischen Einstellungen befassen, zeigen über die Jahre, inwieweit Ungleichwertigkeitsvorstellungen gegenüber jenen Personen und Gruppen, die ökonomistische Standards nicht erfüllen, verankert sind und legitimiert werden. Die Autor/-innen führen in der 2014er Studie u.a. dazu aus: „Das Credo, Menschen, die aus welchen Gründen auch immer Asyl und eine neue Heimat suchen, nach ihren Kompetenzen, ihrer Leistungs- und Anpassungsfähigkeit zu beurteilen, fand in der Öffentlichkeit großen Anklang und verband die Debatte in Deutschland mit der europäischen Debatte über Immigrationskriterien. Die Bemessung des Soziallebens nach ökonomischen Standards hat auch das Bild der Armutswanderung hervorgerufen und gewissermaßen alle anderen Motive von Wanderung und Migration vollkommen vergessen lassen. Aber nicht nur die Zuwanderung wurde auf die Frage nach Kosten-Nutzen abgestellt […] Die Mitte wie auch Gruppen, die als soziale Randgruppen betrachtet werden, unterwerfen sich selbst dem Diktat der Ökonomisierung des eigenen Lebens.“[7]

Die Autor/-innen benennen die „rabiateren Bewertungen von Menschen nach reinen Kosten-Nutzen-Kalkülen und Wettbewerbsideologien“ als »marktförmigen Extremismus«. Sie analysieren, dass „die Angst der Bürger_innen, dass sich durch die Eurokrise ihr Lebensstandard verschlechtern und ihre Ersparnisse in Gefahr sein könnten, […] stark mit dieser extremen Form marktförmigen Denkens und Beurteilens einher [geht]. Personen. Die Partei Alternative für Deutschland scheint diese Verbindung aus Bedrohungsängsten und marktförmigem Extremismus als politisches Sprachrohr zu kanalisieren: Personen, die mit den Ideen der AfD sympathisieren, führen sich erheblich stärker bedroht und vertreten signifikant stärker marktförmigen Extremismus als der Durchschnitt der Bevölkerung. Beide Einstellungsmuster gehen zudem miteinander einher“.[8]

„Die Motivlagen der AfD-Wähler lassen sich vielleicht mit dem Begriffspaar Unsicherheit und Unbehagen am besten umschreiben. Unsicherheit bezieht sich dabei mehr auf die soziale Situation, also die Sorge vor Wohlstandsverlusten, während Unbehagen auf kulturelle Entfremdungsgefühle abzielt, den Verlust vertrauter Ordnungsvorstellungen und Bindungen“ legt der Bonner Parteienforscher Frank Decker dar. „Vergegenwärtigt man sich die immensen Herausforderungen und den Veränderungsdruck, mit denen die europäischen Gesellschaften in den kommenden Jahren und Jahrzehnten konfrontiert sein werden – von der demografischen Entwicklung über die ökonomischen und ökologischen Probleme bis hin zu den anhaltenden Bedrohungen durch Terrorismus und Krieg – besteht kein Grund anzunehmen, dass sich an dieser Motivlage grundsätzlich etwas ändern könnte. Dem Rechtspopulismus werden also die Themen nicht ausgehen.“[9]

Robuste ökonomische Zufriedenheit – spürbar pessimistischere Grundstimmung

Es spricht viel dafür, den als bedroht empfundenen Wohlstand und die insgesamt pessimistischere Grundstimmung im Vorfeld der Landtagswahlen einer Betrachtung zu unterziehen und daraus sowohl für die jüngsten Urnengänge als auch grundsätzlichere Ableitungen vorzunehmen.

Im DeutschlandTREND Januar 2016 ermittelte Infratest dimap die wichtigsten politischen Themen, um die sich die Bundesregierung im laufenden Jahr kümmern sollte. In einer Zusammenfassung des wichtigsten und zweitwichtigsten Themas stand mit 73% das Themenfeld Flüchtlinge, Asyl, Zuwanderung, Integration an der Spitze. Auf Platz 2 mit einer Differenz von 63 Prozentpunkten erschien mit 10% der Bereich Arbeit/Beschäftigung.

Fasst man die Themensammlung zusammen, stellt sich heraus, dass von den zehn wichtigsten Themenfeldern neben dem Thema Asyl und Flucht folgende Themen durchaus mit Unsicherheit und Befürchtungen besetzt erscheinen:

  • Frieden allgemein, in Syrien/Naher Osten etc. (6%)
  • EU / Europa / Euro(-krise) / Griechenland (6%)
  • Innere Sicherheit / Terror(-gefahr) (4%)
  • Deutsches Volk, eigenes Volk/Bürger (4%).

Überwog im Sommer des Jahres 2014 noch sehr knapp (51:49) das Gefühl, dass die politische Lage in der Welt für Deutschland nicht bedrohlich sei, änderte sich dieses Gefühl im Zeitverlauf des Jahres 2015 bis zum Vorwahlzeitraum. Zwar noch unter dem Höhepunkt im Herbst 2014, als 62% der Deutschen eher skeptisch auf die politische Weltlage schauten, hatte das Bedrohungsgefühl im Januar des laufenden Jahres mit 58% gegenüber dem Beginn des vergangenen Jahres erneut um 14 Prozentpunkte zugenommen.

Demgegenüber steht die Bewertung der wirtschaftlichen Lage in Deutschland: Insgesamt äußerten sich die von Infratest dimap im Januar 2016 Befragten weiterhin zu mehr als drei Vierteln optimistisch (sehr gut / gut: 79%) gegenüber jedem Fünften (weniger gut / schlecht: 20%). Diese Werte stimmen exakt mit denen aus dem Januar und dem Dezember 2014 überein.

Auch die Bewertung der eigenen wirtschaftlichen Lage stellte sich Ende des vergangenen Jahres aus Sicht der Befragten positiv dar. Ebenfalls rund drei Viertel der Befragten bewerteten die eigene wirtschaftliche Lage mit 76% als sehr gut / gut und 24% als weniger gut bzw. schlecht.

Wenn die soziökonomischen Rahmendaten keine Hinweise auf wirtschaftliche Einbrüche geben, aus denen gemeinhin Zustimmung von Wähler/-innen für rechtspopulistische oder rechtsextreme Parteien abgeleitet wurde, scheint eine »gefühlte« Gewissheit der gesellschaftspolitischen Debatte zur Disposition zu stehen. Wie Horst Kahrs darlegt, hemmen wachsender volkswirtschaftlicher Reichtum und Wohlstand bei abnehmender Arbeitslosigkeit hemmen den Aufstieg (rechts-)populistischer Kräfte nicht mehr in dem Maße wie früher – im Gegenteil.

Das „Rheingold“-Institut sprach im Vorfeld der Bundestagswahl 2013 vom »bedrohten Paradies«, als das die Mehrheit der Deutschen das Land sah. Drei Jahre später muss mittlerweile bei Teilen der Bevölkerung von einer erhöhten Bereitschaft zur aggressiven Verteidigung des »bedrohten Paradieses« ausgegangen werden. Die aktuelle Situation, des mehr oder weniger bescheidenen Wohlstandes, wird geschützt gegen eine offene und als unsicher empfundene Zukunft, angesichts externer Bedrohungsgefahren.

Bisher liegen, so Horst Kahrs, keine belastbaren empirischen Erkenntnisse darüber vor, welche Rolle die anhaltende Niedrigzinspolitik für diese Gefühlslage spielt. Niedrige Zinsen bedrohen zum Beispiel Spar- und Altersvorsorgepläne und schaffen so womöglich eine anhaltende Verunsicherung, die ein Klima der Besorgnis, der Nervosität und »unsichtbaren Bedrohung« nährt.

PEGIDA – Themenbeschleuniger der AfD

Mit der PEGIDA-Bewegung entstand ein Phänomen, das 2014 im bundesdeutschen politischen Raum auftauchte und über das Jahr 2015 hinweg dafür Sorge trug, dass die politische Agenda der AfD im öffentlichen Bewusstsein Beachtung und Repräsentanz fand.

Über die PEGIDA-Bewegung sind zwischenzeitlich ebenfalls nützliche Analysen[10] veröffentlicht worden, die im Rahmen der hier vorgelegten Betrachtung nur schwer nachgezeichnet werden können.

Eine empirische Untersuchung von PEGIDA-Demonstrant/-innen in Dresden durch ein Team der TU-Dresden erbrachte im Januar des vergangenen Jahres folgende Erkenntnisse, die die These stützen, dass auch wenn zwischen der AfD und PEGIDA keine offizielle Partnerschaft besteht, die PEGIDA-Bewegung in jedem Falle als Themenbeschleuniger und zivilgesellschaftlicher Koalitionspartner der AfD gewertet werden kann:

  • Die befragten Teilnehmer der Demonstrationen gegen die »Islamisierung des Abendlandes« sind nur zu knapp einem Viertel durch „Islam, Islamismus oder Islamisierung“ motiviert.
  • Das Hauptmotiv für die Teilnahme an PEGIDA-Demonstrationen ist eine generelle „Unzufriedenheit mit der Politik“. An zweiter Stelle wird die Kritik an Medien und Öffentlichkeit genannt; an dritter Stelle folgen grundlegende Ressentiments gegenüber Zuwanderern und Asylbewerbern, dabei sind Vorbehalte gegen Muslime bzw. den Islam besonders ausgeprägt.
  • In den Befragungen kommt die Wahrnehmung einer tiefen Kluft zum Ausdruck: zwischen den Massenmedien, der veröffentlichten Meinung und der etablierten Politik auf der einen Seite und den Problemen des Bürgers und dem „Willen des Volkes“ auf der anderen Seite.

Aus Sicht der Dresdner Wissenschaftler ließ sich daraus schließen: „Auch wenn sich PEGIDA dem Namen nach gegen die Islamisierung des Abendlandes wendet, sind die Kundgebungen für die Mehrheit der Teilnehmer in erster Linie eine Möglichkeit, tief empfundene, bisher nicht öffentlich artikulierte Ressentiments gegenüber politischer und meinungsbildender Elite zum Ausdruck zu bringen. Diese Gegenüberstellung von ‚Die da oben‘ und ‚Wir hier unten‘ in Kombination mit fremdenfeindlichen Einstellungen wird traditionell zum rhetorischen Arsenal rechtspopulistischer Strömungen gerechnet.“

Auch Infratest dimap ermittelte im Januar des vergangenen Jahres die politische Stimmung zu PEGIDA im Rahmen des Januar-DeutschlandTRENDS. Rund jeder fünfte Befragte äußerte damals Verständnis für die PEGIDA-Bewegung, in Ostdeutschland sogar jede Vierte.

Differenziert nach Parteianhänger/-innen bzw. Nichtwähler/-innen äußerten drei Viertel der AfD-Anhänger/-innen Verständnis für die PEGIDA-Bewegung und rund ein Drittel derjenigen, die angaben, nicht zur Wahl zu gehen. Der AfD-Anteil lag somit fast dreimal so hoch wie bei Linkspartei und CDU, von deren Anhänger/-innen je rund ein Viertel – zumindest zum damaligen Zeitpunkt – Verständnis für PEGIDA zeigte.

Die persönliche Bereitschaft, an einer PEGIDA-Demonstration teilzunehmen war in Gesamtdeutschland mit 7% im Januar des vergangenen Jahres gering ausgeprägt. Gleichzeitig macht der Ost-West-Vergleich deutlich, dass in Ostdeutschland mehr als jeder zehnte eine Teilnahme an den PEGIDA-Demonstrationen nicht ausschließen wollte.

Wie mit PEGIDA umzugehen sei, darüber herrschte im vergangenen Jahr genauso große Unklarheit innerhalb der Wahlberechtigten, wie im Umgang mit der AfD. Rund die Hälfte der Befragten vertrat Anfang des vergangenen Jahres die Meinung, dass die politischen Akteure der etablierten Parteien auf PEGIDA zugehen sollte, während etwas mehr als ein Drittel die Abgrenzungsposition vertrat. Eine absolute Minderheit meinte, dass es sinnvoll sei, die Bewegung zu ignorieren. Bezogen auf die PEGIDA-Anhänger/-innen selbst, sprachen sich 85% dafür aus, dass die Politik auf die Demonstration zugehen sollte. Mit welcher Erwartung dieses Zugehen verbunden wurde, lässt sich angesichts der manifesten und in zunehmendem Maße verbal gewalttätigen Positionierung gegenüber den etablieren Parteien und Institutionen des demokratischen und sozialen Rechtsstaates aus den Befragungsergebnissen selbst nicht ablesen.

Ausgehend von der Annahme, dass PEGIDA-Anhänger/-innen die Sicherheit der persönlichen Lebensumstände und die allgemeinen Umstände eher als unsicher bewerten würden, differenzierte Infratest dimap im DeutschlandTREND Januar 2015 die Antworten auf entsprechende Fragen zwischen allen Befragten und denjenigen, die sich als PEGIDA-Anhänger/-innen bezeichneten. Deutlich wurde, dass die Sichtweise auf die Sicherheit persönlicher und gesellschaftlicher Umstände zum Teil signifikant skeptischer als bei der allgemeinen Bevölkerung war und das Gefühl, dass die Bürger/-innen von der etablierten Politik ausgeschlossen seien, deutlich stärker ausgeprägt.

Dass die PEGIDA-Anhänger/-innen der Aufnahme von Flüchtlingen ebenfalls mit einer größeren Skepsis gegenüber standen, als die Gesamtbevölkerung dürfte angesichts der vorstehend dargelegten Erkenntnisse nicht überraschen und zeigte sich bereits im DeutschlandTREND Januar 2015.

In der Betrachtung von PEGIDA und AfD lassen sich über den Zeitraum des vergangenen Jahres bis zu den März-Wahlen aus den durchgeführten Befragungen, insbesondere von Infratest dimap im Rahmen des DeutschlandTREND für die ARD bzw. den LänderTRENDs im Vorfeld der Landtagswahlen Schlussfolgerungen ziehen, die im Wesentlichen die in den vorstehenden Abschnitten dargelegten Annahmen bestätigen, dass AfD-Wähler/-innen

  • ausgeprägter als andere Wähler/-innengruppen Unsicherheits- und Bedrohungsannahmen unterliegen,
  • deutliche Schnittmengen zwischen AfD-Wähler/-innen und PEGIDA-Anhänger/-innen bestehen
  • die AfD-Wähler/-innen in relevantem Maße sich dauerhaft von früheren Wahlpräferenzen verabschiedet haben, also keine kurzfristigen Protestwähler/-innen sind.

Eine Mehrheit von rund drei Vierteln der Befragten äußerte in einer bundesweiten Befragung vom März dieses Jahres die Auffassung, dass sich die AfD nicht genug von rechtsextremen Positionen distanzieren würde. Dass die AfD den Zuzug von Flüchtlingen stärker begrenzen will als andere Parteien fand wiederum die Zustimmung von einem Drittel der gleichen Befragungskohorte. Letzteres korrespondiert mit der bereits dargelegten Einschätzung von AfD-Wähler/-innen, nachdem von allen etablierten Parteien derzeit allein die CSU bei ihnen in relevantem Maße Zustimmung gefunden hätte.

Im LänderTREND Rheinland-Pfalz Januar 2016 ermittelte Infratest dimap 8% Wahlberechtigte, die in der Antwort auf die sogenannte Sonntagsfrage („Welche Partei würden Sie wählen, wenn am kommenden Sonntag in Rheinland-Pfalz Landtagswahl wäre?“) angaben, für die AfD zu stimmen. Als Gründe für die AfD-Wahl gaben die Befragten in absteigender Relevanz an:

  • Unzufriedenheit mit den etablierten Parteien
  • Flüchtlingspolitik der AfD
  • Unzufriedenheit mit der Politik der Bundesregierung / Kanzlerin
  • AfD vertritt meine Meinung / Interessen
  • AfD benennt die Probleme klar / kümmert sich um die Probleme der Bürger
  • Partei, die etwas für Deutschland tut
  • Europapolitik / Griechenland.

Obwohl Infratest dimap zu den Antwortkategorien keine Werte bereitstellte, lässt sich die Relevanz der Aussagen für die Befragten insoweit zusammenfassen, dass die ersten beiden Antwortkategorien die höchste Relevanz haben, die nachfolgenden vier Antworten eine mittlere bis niedrige Relevanz aufweisen und die letzte Antwort eine geringe Relevanz verzeichnet.

Interessant für die Frage, ob die AfD-Wähler/-innen sich dauerhaft von den anderen Parteien abgewandt haben, sind die Ergebnisse zweier Befragungen von Infratest dimap einerseits und der Forschungsgruppe Wahlen andererseits.

Gegenüber der Forschungsgruppe Wahlen gingen rund drei Viertel der Nicht-AfD-Wähler/-innen davon ausgehen, dass sich im Stimmverhalten für die AfD ein Denkzettel für die etablierten Parteien Äußerung verschaffen wollte. Demgegenüber stützen die Antworten der AfD-Wähler/-innen selbst eher die hier vom Autor vertretene Auffassung, dass die AfD-Wähler/-innen sich in relevantem Maße bereits endgültig von den etablierten Parteien abgewandt haben und die AfD nicht trotz sondern wegen ihrer politischen Forderungen und Positionen wählten.

Demgegenüber legten die Befragten bei Infratest dimap dar, dass rund ein Viertel (27%) aus Überzeugung für die AfD stimmte, während rund zwei Drittel, die AfD aus Enttäuschung über andere Parteien wählten.

Ein Vergleich zwischen den Sichtweisen auf die AfD von Wähler/-innen anderer Parteien und den AfD-Wähler/-innen zeigt zweierlei: Einerseits die hohe Bedeutung einer defizitären Sicherheitseinschätzung in Verbindung mit andererseits der enormen Bedeutung des Flüchtlingsthemas durch die AfD-Wähler/-innen. Zudem thematisieren diese eine vermeintlich unfaire Behandlung der AfD durch die Medien, die im Kontext steht zur bereits vorstehend aufgerufenen Skepsis gegenüber den etablierten Institutionen wie Medien und Politik.

Endgültige Abkehr vom wirtschaftsliberalen Gründungsmythos

In ihrer Anfangszeit wurde u.a. von Häusler u.a. begründet die Position vertreten, die AfD seit „geprägt von drei politischen Strömungen und Milieus: einem marktradikalen, einem nationalkonservativen und einem deutlich rechtspopulistisch affinen Milieu. Es gibt eine auffällige inhaltliche Zustimmung aus Parteikreisen zu den Thesen des Erfolgsbuchautors Thilo Sarrazin. Ein besonders Feindbild der AfD ist die so genannte Politische Korrektheit – die These, dass Medien und Politik vom angeblichen Diktat einer linksgestrickten ‚political correctness‘ beherrscht seien.

Mittlerweile kann und sollte diese Position nicht mehr vertreten werden. Aus zwei Gründen:

  1. Auch in ihrer Gründungsphase spielten Lucke, Henkel und Starbatty stets mit dem rechten Rand als notwendigem Elektorat, um die notwendige Masse an Zustimmung zu erreichen, die eine »Professorenpartei« allein nie erreicht hätte. Und speziell im Thüringer Landesverband war eine explizit rechte Strömung seit Anbeginn stark. Mit der Abspaltung der Wirtschaftsliberalen von der AfD nach dem Essener Mitgliederparteitag bewahrheitete sich freilich, was Michael Hanfeld bereits im Januar des vergangenen Jahres in der FAZ vorhersagte: „2015 wird […] das Jahr, in dem die AfD das Uneigentliche der Neuen Rechten ablegt und Klartext spricht. Sie tut nicht mehr nur so, sie sei der deutsche 'Front National'“.
  2. Die genannten drei Strömungen sind, wie Decker feststellt, „nicht nur miteinander vereinbar, sondern in gewisser Hinsicht […] aufeinander bezogen. Zusammen bilden sie die ‚Gewinnerformel‘ der neuen Rechtsparteien, in die sich auch die euroskeptischen Positionen problemlos einfügen. Der Populismus fungiert dabei als übergreifendes Scharnier. Er steht für die Anti-Establishment-Orientierung der Partei […] und für ihren Anspruch, das ‚eigentliche‘ Volk beziehungsweise dessen schweigende Mehrheit zu vertreten.“[11]

Selbst wenn man in Rechnung stellt, dass auch aus den nun entstehenden drei Landtagsfraktionen mit insgesamt 62 Landtagsabgeordneten analog zur Europafraktion, den Fraktionen in Bremen und Thüringen potenziell Abgänge durch Abspaltungen zu verzeichnen sein könnten, würde dies auf die Konstitution der Partei zunächst wenig Einfluss haben.

Die März-Wahlen verschaffen der Partei einen Rückenwind, der über die Landtagswahlen in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin mit hoher Wahrscheinlichkeit bis ins nächste Jahr zu den Landtagswahlen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen und anschließend bis zur Bundestagswahl reichen wird. Bei der Bundestagswahl 2013 wählten rund 2 Millionen Wahlberechtigte die AfD. Nun gaben allein in Baden-Württemberg rund 809.000 Wähler/-innen der AfD ihre Stimme.

Die Sogwirkung auf Rechtsextreme wird sich durch dieses Wahlergebnis verstärken. Dies kann zu einer De-Stabilisierung in der Wähler/-innenbindung führen. Wie wahrscheinlich dies ist, wird abzuwarten sein und sicherlich auch davon abhängen, inwieweit die Parteien der Bundesregierung weiterhin den erfolglosen Versuch unternehmen, sich mit der AfD durch Übernahme von Positionen des AfD-Diskurses auseinanderzusetzen.

Gleichwohl kann die AfD derzeit nur an sich selbst scheitern. Organisatorisch ist sie in einer Weise gefestigt, wie keine Rechtspartei vor ihr. Keiner außerparlamentarischen Kraft gelang in der Geschichte der Bundesrepublik ein solches Wahlergebnis. Finanziell wird die Partei, die bereits heute über nicht wenige Reserven verfügt, durch die Wahlkampfkostenrückerstattungen stattliche Rücklagen aufbauen können. Zumal sie die Mittel der Fraktionen indirekt zum Parteiaufbau nutzen wird.

AfD in Sachsen-Anhalt - wirkungsmächtiger parlamentarischer Arm der Neuen Rechten

Die AfD ist mit 25 Abgeordneten - durch Nachzählung erhöhte sich die Mandatszahl zu Lasten der Linkspartei (16 statt 17 Mandate) - im Landtag Sachsen-Anhalt zahlenmäßig nicht wesentlich stärker vertreten als im Landtag Baden-Württemberg (23 MdL). Aber anders als in Stuttgart und in Rheinland-Pfalz (14 MdL) ist sie in Sachsen-Anhalt mit Abstand die zweitstärkste Landtagsfraktion. Sie kann den Anspruch erheben, Oppositionsführerin zu sein, was sich bei der Verteilung von Redezeit, öffentlicher Wahrnehmung etc. auswirken wird. Sie wird einen Vizepräsidenten im Landtag stellen.

Wichtiger als dies ist jedoch, dass sie in der Parlamentarischen Kontrollkommission vertreten sein wird, in der die Geheimdiensttätigkeit kontrolliert wird. Sie wird Mitsprache haben bei der Besetzung des Verfassungsgerichtes, im Rundfunkrat des MDR und weiteren Gremien.

Kurzum die parlamentarische Stärke der sachsen-anhalter AfD eröffnet der organisierten Neuen Rechten in Deutschland erstmals die Chance, wirkungsmächtig in Verfassungsinstitutionen und Ankerpunkte der demokratischen Willensbildung sowie der Gewährleistung von Rechtsstaatlichkeit einzusickern.

Darin und weniger im parlamentarischen Auftritt der künftig 25 Abgeordnete umfassenden AfD-Landtagsfraktion besteht in den Augen der AfD-Chefs in Sachsen-Anhalt und Thüringen, André Poggenburg und Björn Höcke, der Erfolg bei der Landtagswahl.

Höcke und Poggenburg repräsentieren als Gallionsfiguren des rechtsnationalen Flügels in der AfD die Schnittstelle zwischen der Partei und rechtsextremen Netzwerken wie z.B. dem "Institut für Staatspolitik (IfS)". Die Thüringer AfD-Landtagsfraktion arbeitet im Wesentlichen als parlamentarischer Arm der Neuen Rechten, wie der Autor im vergangenen Jahr in diesem Blog bereits darlegte.

Wer Bernd Höckes Tätigkeit systematisch betrachtet, wird augenfällige Beispiele für die konsequente Ausrichtung am Konzept des »Gramcismus von rechts« finden. Also der instrumentell-strategischen Aneignung des Hegemoniekonzeptes des italienischen Marxisten Antonio Gramsci, wie sie vom neurechten Vordenker Alain de Benoist bereits Mitte der 1980er Jahre initiiert und dargelegt wurde.

Höcke wie Poggenburg nutzen die ihnen zur Verfügung stehenden Bühnen, um durch stetige Grenzüberschreitungen, die Achse dessen, was gesellschaftlich gesagt und gedacht werden darf, nach rechts zu verschieben. Wo sie auf Widerstand stoßen, weichen sie zurück, inszenieren sich als Opfer eines vermeintlichen Political-Correctness-Diskurses, der verhindere, dass das gesagt werden dürfe, was das Volk tatsächlich denken würde, um alsdann das rhetorisch bereits besetzte Terrain durch die nächste Entgleisung erneut versuchen zu erweitern.

Entzauberung der AfD notwendig und möglich

Dieses Muster zu erkennen, zu thematisieren und die gesellschaftspolitischen Konsequenzen ebenso offenzulegen, wie den vermeintlichen Opfer-Gestus oder die Unterschiede z.B. zwischen einer an radikaldemokratischen Prinzipien orientierten Befürwortung direkter Demokratie gegenüber der AfD-Befürwortung in der Tradition anti-demokratischen Elitenbashings ist im Umgang mit den beiden parlamentarischen Ankern der Neuen Rechten das wohl wirksamste Instrument.

Markus Linden führte 2010 in einem Kommentar in der taz zur Sarrazin-Debatte aus: „Häufig ist der Vorwurf des Populismus nicht mehr als ein stumpfer Ersatz für die alte Unterscheidung zwischen "guten" Demokraten und "bösen" Extremisten. Gruppenbezogenen Ressentiments in der Bevölkerung ist damit nicht beizukommen. Die allzu oft nonargumentative Selbstvergewisserung und Abgrenzungslogik der ‚politischen Klasse‘ ist vielmehr kontraproduktiv und kann bei vielen das Gefühl verstärken, es mit einem Machtkartell zu tun zu haben. […] Es gilt: Der argumentativ ausgetragene Konflikt bildet in der Demokratie die Conditio sine qua non, um Ansichten und Werthaltungen aller Betroffenen einzubinden. […] Der Populismus erhebt sich und politisiert die Gesellschaft. Wenn richtig auf ihn reagiert wird, schwindet aber auch seine Unterstützung in der Bevölkerung. Der Populist schafft quasi seine eigenen Grundlagen ab.“ Linden selbst räumt ein, dass dieser Prozess freilich kein Selbstläufer sei. Aber wer hat behauptet, dass Aufklärung – der Weg aus selbstverschuldeter Unmündigkeit – einfach zu haben sei.

[1] Frank Decker 2015, Die Veränderungen der Parteienlandschaft durch das Aufkommen der AfD – ein dauerhaftes Phänomen?, in: Andreas Zick/Beate Küpper, Wut. Verachtung. Abwertung. Rechtspopulismus in Deutschland, Bonn, S. 109.

[2] Decker 2015, ebd.; vgl. auch Frank Decker 2012, Warum der parteiförmige Rechtspopulismus in Deutschland so erfolglos ist, in: Vorgänge Nr. 1, S. 21-28.

[3] Vgl. n.v.a.: David Bebnowski 2015, Die Alternative für Deutschland. Aufstieg und gesellschaftliche Repräsentanz einer rechten, populistischen Partei, Wiesbaden mit ausführlichen Literaturhinweisen; Alexander Häusler/Rainer Roeser 2015, Die rechten >Mut<-Bürger. Entstehung, Entwicklung, Personal & Positionen der „Alternative für Deutschland“, Hamburg.

[4] Benjamin-Immanuel Hoff 2016, Progressive Politik statt Ausschließeritis, https://www.freitag.de/autoren/benjamin-immanuel-hoff/progressive-politik-statt-ausschliesseritis.

[5] Decker 2015, a.a.O., S. 109f.

[6] Decker 2015, a.a.O., S. 110.

[7] Andreas Zick / Anna Klein 2014, Fragile Mitte. Feindselige Zustände. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2014, hrsgg. für die Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn, S. 147.

[8] Zick/Klein 2014, a.a.O., S. 148.

[9] Decker 2015, a.a.O., S. 121f.

[10] Vgl. u.a. Hans Vorländer/Maik Herold/Steven Schäller 2015, PEGIDA: Entwicklung, Zusammensetzung und Deutung einer Empörungsbewegung, Wiesbaden

[11] Decker 2015, a.a.O., S. 113.

 

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