17.03.2016

Rede zur Europapolitischen Strategie des Freistaates Thüringen

Regierungserklärung vom 17. März 2016 im Thüringer Landtag

Sehr geehrter Herr Präsident,

sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete,

verehrte Gäste,

„Europa ist ein paradoxes System – es hat das Höchstmaß an geistiger Einheit verwirklicht – und das Höchstmaß an Zerrissenheit in Hinsicht auf die Willenskräfte“. Das Zitat ist kein Kommentar zu einem der letzten Krisengipfel. Der französische Philosoph Paul Valéry sagte diesen Satz im Jahr 1924.

Heute und morgen werden die Staats- und Regierungschefs abermals in Brüssel um Fortschritte in der Flüchtlingspolitik ringen. Anknüpfend an den EU-Türkei-Gipfel vom 7. März sollen Beschlüsse zu den Vorschlägen gefasst werden, die die türkische Regierung kürzlich unterbreitet hat. Diese Vorschläge haben einerseits sichtbare Bewegung in die Diskussion gebracht. Sie haben aber auch neue Fragen aufgeworfen, die im Zuge einer europäischen Einigung geklärt werden müssen. Einer europäischen Einigung auf die wir alle setzen. Einer europäischen Einigung, die aber nicht dazu führen darf, dass europäische Werte im Asylrecht ausgehöhlt werden.  Einer europäischen Einigung, die die schwierige Balance finden muss zwischen pragmatischen Gesprächen zur Lösung bestehender Probleme und dem Anspruch, keine politischen Sonderkonditionen mit Blick auf elementare Grund- und Menschenrechte zu gewähren.

 

Sehr geehrter Herr Präsident,

sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete,

die Bewältigung der aktuellen Krise sollte Ansporn für uns alle sein, uns auf die europäischen Werte zurückzubesinnen und das Vertrauen der Menschen innerhalb und außerhalb Europas in eine starke und handlungsfähige europäische Gemeinschaft nicht aufs Spiel zu setzen. Die Europäische Union ist es wert, sich für sie einzusetzen!

Die Landesregierung bekennt sich in ihrer Europastrategie zu dieser gesamteuropäischen Aufgabe. Sie bekennt sich zur Freizügigkeit als einer der größten Errungenschaften der EU. Sie bekennt sich dazu, diese Freizügigkeit nicht als Bedrohung, sondern als Chance für Europa, Deutschland und Thüringen zu begreifen. Sie erteilt allen eine klare Absage, die den notwendigen Schutz der EU-Außengrenzen mit deren kompletter Schließung verwechseln.

Die Europäische Union wurde gegründet, um langfristig Frieden und Stabilität auf dem europäischen Kontinent zu sichern. Gemeinsame Konfliktlösungsmechanismen anstelle von nationalen Alleingängen – diese europäische Grundidee ist alles andere als überholt. Auf dieser Basis hat Europa schon so manche Krise erfolgreich gemeistert.

Gemeinsame Anstrengungen sind auch jetzt vonnöten. Die Landesregierung wird sich weiter für eine faire Verteilung der Flüchtlinge auf die Mitgliedstaaten einsetzen – diese Frage ist ungeachtet der türkischen Vorschläge weiter so aktuell wie problembeladen. Die Verteilungsdiskussion ist allerdings genauso wie die Diskussion über den Schutz der Grenzen eine Diskussion über Symptome.

Wir müssen viel intensiver darüber reden, wie wir die Bekämpfung der Fluchtursachen intensivieren und nachhaltigere Perspektiven in den Herkunftsländern schaffen können. Eine besser koordinierte Außen- und Sicherheitspolitik zur Vorbeugung ernster Krisen und eine nachhaltigere Europäische Entwicklungspolitik sind deshalb wichtige Anliegen dieser Landesregierung. Bessere Gesundheitsversorgung, hinreichende und gesunde Ernährung, Zugang zu Wasser sowie schulischer und beruflicher Bildung sind hier nur einige Stichworte.

 

Sehr geehrter Herr Präsident,

sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete,

Was die Europäische Union in guten wie in schwierigen Zeiten ausmacht, sind nicht allein die Institutionen, die demokratisch und transparent agieren, und nicht allein die Gipfeltreffen der Staatschefs, die Lösungen sorgfältig austarieren müssen – es sind die Bürgerinnen und Bürger und ihre demokratisch legitimierten Vertreter, die sich für das europäische Miteinander engagieren.

Wie geht es weiter in Europa? Dieser Frage haben sich in dieser Woche hier im Landtag bereits zahlreiche Bürgerinnen und Bürger auf Einladung des Europäischen Informationszentrums Thüringen und der Europa-Union Deutschland gewidmet. Es ist wichtiger denn je, dass wir offen und gesprächsbereit für die Fragen und Sorgen der Thüringerinnen und Thüringer zur Zukunftsfähigkeit Europas sind. Wir nehmen diese Aufgabe als Landesregierung sehr ernst. Und wir scheuen keine kritischen Fragen.

Wir stehen – lassen Sie mich das gerade mit Blick auf die Wahlergebnisse vom letzten Sonntag deutlich sagen – für Aufklärung, Transparenz und für das Aushalten von Komplexität im Interesse gesamteuropäischer Lösungen. Wir stellen uns gegen das Schüren von Ressentiments, gegen Abschottung und gegen den Rückgriff auf vermeintlich einfaches nationalstaatliches Handeln. Wir stellen uns gegen Scheinlösungen ohne jegliche Substanz.

Thüringen profitiert von einem starken Europa. Es profitiert von einer europaweiten Vernetzung in Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur, die zu mehr Innovation und Weltoffenheit führt. Es profitiert von den Binnenmarktfreiheiten. Es profitiert finanziell von europäischen Förderprogrammen. Es profitiert von einer Bündelung der Kräfte angesichts weltweiter Herausforderungen wirtschaftlicher, sicherheitspolitischer und umweltpolitischer Art. Damit das so bleibt und im Sinne Thüringens, seiner Bürgerinnen und Bürger, weiterentwickelt wird, hat die Landesregierung eine Europastrategie für die nächsten Jahre erarbeitet. Wir haben Ziele und Handlungsfelder definiert, aber auch Wege der Mitwirkung im europäischen Entscheidungsprozess benannt, um diese Ziele zu erreichen.

Thüringen voranbringen - demokratisch, sozial, wirtschaftlich und ökologisch – nach diesem Motto ist die Koalition auch bei der europapolitischen Strategie vorgegangen.

[Bürgerbeteiligung]

Wir hatten von Anfang an den Anspruch, die Thüringerinnen und Thüringer nicht nur „mitzunehmen“, sondern sie auch zu fragen, wohin es europapolitisch gehen soll. Wir können nicht für ein demokratisches, bürgernahes Europa eintreten, wenn wir hier im Land unsere eigene Europapolitik als bloßen Verwaltungsakt, als Akt der Exekutive begreifen.

Am vergangenen Sonntag hat  die Wahlbeteiligung spürbar zugenommen. Und am vergangenen Sonntag haben diejenigen, die statt Wahlen fortzubleiben sich an ihnen beteiligten einen Anspruch eingelöst: Nicht Betroffene, sondern Beteiligte zu sein. Diese Landesregierung macht Ernst mit direkter Demokratie. Anders als bei der AfD ist direkte Demokratie für Rot-Rot-Grün kein Vehikel gegen die vermeintlichen Eliten, sondern Ausdruck von Volkssouveränität im Sinne radikaldemokratischer Traditionen in Anlehnung an Kant, Wilhelm Liebknecht bis hin zu Ingeborg Maus.

Die Landesregierung ist aus dieser Überzeugung heraus neue Wege gegangen. Den Auftakt bildete eine große Bürgerveranstaltung mit dem Titel „Zukunftsdebatte Thüringer Europapolitik“. An ihr haben rund 150 Bürgerinnen und Bürger sowie Verbände und andere Multiplikatoren teilgenommen. Die Veranstaltung hat mit ihren vielen Beiträgen zu den unterschiedlichsten Themen sehr deutlich gemacht, wie groß die Zahl europäisch engagierter Menschen in Thüringen ist. Sie sind eine echte Bereicherung für die Europapolitik des Freistaats.

Die Zukunftsdebatte Thüringer Europapolitik haben wir auch zu einer schriftlichen Umfrage unter den Teilnehmerinnen und Teilnehmern zu einigen europäischen Themen bzw. zur Wahrnehmung der EU in Bezug auf bestimmte Politikfelder genutzt. Zusammen mit dem Thüringen-Monitor zur Europapolitik 2014 und aktuellen Eurobarometerumfragen sind die Ergebnisse in unsere Arbeit eingeflossen.

Darüber hinaus bestand und besteht für alle Bürgerinnen und Bürger die Möglichkeit zu schriftlichen Beiträgen.

Es liegt in der Natur der Europapolitik als Querschnittsthema, dass die Anregungen und Debattenbeiträge sehr heterogen ausgefallen sind und häufig eher landes- und bundespolitisch geprägt waren. Eine der wesentlichen Aufgaben bestand darin, die für eine mittelfristig angelegte Strategie geeigneten Anliegen an die europäische Ebene herauszufiltern, mit den eigenen Schwerpunkten der Koalition abzugleichen und auf den Punkt zu bringen. Im Ergebnis dieses Zusammenspiels aus Impulsen von außen und politischen Zielen der Landesregierung haben sich im Vergleich zu den vorangegangenen Europastrategien neue Schwerpunkte, neue Ansätze für die Thüringer Europapolitik entwickelt.

Auf einige wichtige Punkte, die sicher im Laufe der weiteren parlamentarischen Beratung noch vertieft werden, möchte ich eingehen:

[Soziales Europa]

Eine wichtige Erkenntnis, die sich sowohl aus dem Thüringen-Monitor zur Europapolitik als auch dem im Rahmen des Beteiligungsprozesses hergestellten Stimmungsbild entnehmen lässt, ist diese: Zwar herrscht, wenn man allgemein fragt, eine gewisse Skepsis vor, wenn es um weitere Kompetenzverlagerungen auf die europäische Ebene geht. Auf der anderen Seite wünschen sich viele Bürgerinnen und Bürger ganz konkret in einigen Bereichen „mehr Europa“. Dazu gehört die Sozialpolitik. Es wird Sie nicht verwundern, dass die Landesregierung hier im Rahmen der ihr gegebenen Einflussmöglichkeiten einen wichtigen Schwerpunkt setzt.

Der Begriff des „Sozialen Europa“ ist vielfältig. „Das“ europäische Sozialmodell gibt es nicht, sondern eine Vielzahl zum Teil sehr unterschiedlicher sozialstaatlicher Traditionen in den Mitgliedstaaten. Die eher schmalen Kompetenzen der EU im Sozialbereich entbinden uns nicht von der Aufgabe, mögliche und notwendige Handlungsfelder europäischer Sozialpolitik zu benennen. Europäische Sozialpolitik muss stärker als eigenständiger Politikbereich wahrgenommen werden. Sie darf nicht auf eine Rolle als Anhängsel der Wirtschafts- und Währungspolitik reduziert oder den Binnenmarktfreiheiten untergeordnet werden. In dieser Hinsicht bleiben die europäischen Institutionen nach meiner Überzeugung immer noch deutlich hinter den Möglichkeiten und Notwendigkeiten zurück. Häufig liegt die Betonung der EU 2020 – Ziele zu sehr auf dem Begriff des Wachstums und zu wenig auf den Zusätzen „nachhaltig“ und „integrativ“.

Ein anschauliches Beispiel dafür ist der sogenannte 5-Präsidenten-Bericht zur Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion. Während mögliche Schritte im Hinblick auf die Bankenunion oder die engere wirtschaftspolitische Koordinierung sehr detailliert beschrieben werden, bleibt es in Bezug auf die soziale Komponente überwiegend bei Floskeln und vagen Andeutungen. Nötig wäre stattdessen ein deutliches Bekenntnis – etwa zu gemeinsamen Mindestlohnstandards, zu Mindeststandards bei der sozialen Grundsicherung oder zur stärkeren Berücksichtigung sozialer Indikatoren im Rahmen der wirtschaftspolitischen Koordinierung.

Die Strategie enthält hierzu grundsätzliche Aussagen. Das ist gut, aber nicht ausreichend. In der Debatte über Europas Zukunft werbe ich dafür. Europa als Sozialstaat ist das wohl wirksamste Modell zur Zukunftsentwicklung, gegen Verlustängste der bedrohten Arbeitnehmer, der Wut abgehängten Prekariats, der Hoffnungslosigkeit European Underclasses.

In diesem Zusammenhang ist der Ansatz der Europäischen Kommission zu begrüßen, mit einer Säule sozialer Rechte der Sozialunion institutionelle Bedeutung zu verleihen und den Weg der warmen Worte zugunsten tatsächlicher rechtlich verbriefter Ansprüche zu verlassen. Wünschenswert nicht nur aus Thüringer Sicht wäre diesem Anspruch nun zügig Taten folgen zu lassen. Mit der gerade in der letzten Woche von der Kommission vorgestellten Revision der Entsenderichtlinie ist ein erster Schritt getan, auch wenn dieser noch in vielen Punkten verbesserungswürdig ist. Wir werden uns weiter dafür einsetzen, dass das Prinzip "Gleicher Lohn und gleiche Rechte für gleiche Arbeit am gleichen Ort" ohne Umgehungsmöglichkeiten eine europäische gesetzliche Grundlage erhält. Diesem Anspruch wird der Vorschlag der Kommission noch nicht gerecht. Und wir werden uns selbstverständlich am gerade begonnenen Konsultationsverfahren beteiligen, um den Bürgerinnen und Bürgern Thüringens und im Rest Europas die soziale Sicherheit zu garantieren, die die Mütter und Väter der Europäischen Idee sich erhofft haben.

Auch sollte es uns ein Anliegen sein, dass bisherige Errungenschaften im sozialen Bereich nicht ausgehöhlt werden.

[Wirtschafts- und Währungsunion]

Sehr geehrter Herr Präsident,

sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete,

Ich habe die Wirtschafts- und Währungsunion und den 5-Präsidenten-Bericht angesprochen. Zu einzelnen Elementen hat die Landesregierung sich im Bundesrat positioniert. Auch hier im Landtag haben wir wichtige Vorschläge wie das geplante europäische Einlagensicherungssystem schon kritisch erörtert. Jenseits dessen bedarf es aber mittel- und langfristig einer gemeinsamen Antwort auf die Frage der Kompetenzverteilung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten in der Wirtschafts- und Finanzpolitik. Das bedeutet auch, sich über die allgemeine Zielrichtung zu verständigen. Wir lehnen jedenfalls eine Politik ab, die neue Kompetenzen und Institutionen einseitig unter dem Aspekt der fiskalischen Disziplinierung einzelner Mitgliedstaaten betrachtet. Ich hoffe sehr, dass es gelingen wird, die Wirtschafts- und Finanzkrise im Geiste der Solidarität zu bewältigen. Dazu bedarf es neben einer Stärkung der sozialen Komponente und einer verbesserten Regulierung der Finanzmärkte auch einer verbesserten Einbeziehung des Europäischen Parlaments.

Ganz im Sinne von Robert Schuman, der im Zusammenhang mit der europäischen Einigung von einer „Solidarität der Tat“ gesprochen hat, wollen wir Solidarität nicht nur predigen. Deshalb hat Thüringen gegenüber Griechenland erst kürzlich ein deutliches Signal gegeben, dass wir bei der Bewältigung der erschreckend hohen Jugendarbeitslosigkeit Hilfe leisten wollen.

Die Thüringer Arbeitsministerin, Heike Werner, und die Präsidentin der griechischen Arbeitsmarktbehörde unterzeichneten am 19. Februar einen „letter of intent“ zur Ausbildung von Jugendlichen aus Griechenland im Freistaat Thüringen. Die Ausbildung in Thüringer Betrieben und Berufsbildungszentren soll nicht nur die Berufsperspektive einzelner junger Menschen verbessern, sondern auch den Aufbau eines modernen Berufsbildungssystems in Griechenland unterstützen.

[Nachhaltigkeit]

Sehr geehrter Herr Präsident,

sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete,

Kommissionspräsident Juncker hat bei seinem Amtsantritt angekündigt, sich verstärkt auf große, wichtige Themen zu konzentrieren. Zu diesen Themen mit dem vielzitierten „europäischen Mehrwert“ gehört ohne Zweifel die Nachhaltigkeit sowohl im sozialen und ökonomischen Sinne als auch die Klima- und Energiepolitik. Ihr widmet auch die Landesregierung besondere Aufmerksamkeit. Das zeigt sich im Koalitionsvertrag und jetzt auch in der europapolitischen Strategie. Thüringen leistet jedenfalls seinen Beitrag zum Gelingen der Energiewende. Bis zum Jahr 2040 wollen wir unseren Eigenenergiebedarf bilanziell durch einen Mix aus 100% regenerativer Energie selbst decken können. Gerade vor dem Hintergrund des positiven Signals, das vom Weltklimagipfel Ende des letzten Jahres in Paris ausgegangen ist, hätten wir uns auf EU-Ebene aber ehrgeizigere und zum Teil auch verbindlichere Ziele für die Zeit bis zum Jahr 2030 gewünscht.

Die EU sollte die geplante Energieunion stärker in den Dienst einer nachhaltigen Energieversorgung ohne Risiken für nachfolgende Generationen stellen. Erst vor wenigen Wochen ist Thüringen in diesem Sinne der „Allianz der Regionen für einen europaweiten Atomausstieg“ beigetreten. Das Netzwerk der Gentechnik-freien Regionen, dem Thüringen ebenfalls angehört, ist ein sehr erfolgreiches Beispiel der Zusammenarbeit über Ländergrenzen hinweg. Es dient als Vorbild, erneut einen internationalen Prozess, angeschoben auf subnationaler bzw. subföderaler Ebene, in Gang zu bringen.

Nicht zuletzt muss auch die europäische Energiepolitik die Bürgerinnen und Bürger einbinden. Eine europäische Energiewende braucht dezentrale Energiegewinnung mit Bürgerbeteiligung.

[Demokratie]

Allein daran zeigt sich aus Sicht dieser Landesregierung: Europa braucht die verstärkte demokratische Mitwirkung seiner Bürgerinnen und Bürger. Europa braucht mehr Demokratie. Was hier im Land bei der Debatte über die europapolitische Strategie gilt, muss erst recht auch auf europäischer Ebene gelten.

Die Massenproteste gegen TTIP bringen zum Ausdruck, dass so wichtige Themen wie die Zukunft des Welthandels nicht Expertenkommissionen überlassen bleiben dürfen. Die Proteste in vielen sogenannten „Krisenländern“ der EU speisen sich auch aus der Sorge, dass die eigenen nationalen Parlamente nichts mehr zu sagen haben.

Wachsende Euroskepsis hat viel mit dem Gefühl von Ohnmacht zu tun – im digitalen Zeitalter wollen die Bürgerinnen und Bürger nicht mehr länger nur zusehen, sondern aktiv eingebunden sein in die Gestaltung unserer Zukunft. In unserer europapolitischen Strategie zeigen wir verschiedene Ansatzpunkte für eine Stärkung der Demokratie in Europa auf:

 Wir unterstützen Forderungen des Europäischen Parlaments, als einziges direkt gewähltes EU-Organ mehr Rechte zu erhalten, zum Beispiel ein eigenes Initiativrecht, damit nicht nur die Kommission und der Rat die politische Agenda definieren.

Die Wahlen zum Europäischen Parlament sollten europäischer werden. Hier wurde mit der 2014 erstmals praktizierten Aufstellung von Spitzenkandidaten ein Weg gewiesen, der nun zum Beispiel mit einem einheitlichen Wahlrecht und Wahltag weiter beschritten werden kann.

Wenn wir über mehr Demokratie reden, gehört – ich bin bereits darauf eingegangen - die Stärkung direkt-demokratischer Elemente auf europäischer Ebene. Die Einführung der europäischen Bürgerinitiative mit dem Vertrag von Lissabon war ein richtiger Ansatz. Sie sollte allerdings einfacher, unbürokratischer und wirksamer gestaltet werden, damit sie auch gelebt wird. Wir müssen mutiger sein und Erfahrungen mit der direkten Demokratie auf EU-Ebene sammeln. Gleichermaßen halten wir eine Stärkung der europäischen Öffentlichkeit für erstrebenswert, um die Entscheidungsprozesse konstruktiv zu begleiten. Ich wünsche mir eine europäische Debattenkultur. In Thüringen leisten wir mit dem Europäischen Informationszentrum einen engagierten Beitrag, um die Debatte zur europäischen Politik weiter zu befördern.

Die nationalen Parlamente – in Deutschland Bundestag und Bundesrat - spielen eine wichtige Rolle, wenn es um die demokratische Legitimation europäischer Entscheidungen geht. Zwar sind sie heute bereits frühzeitig in den Gesetzgebungsprozess einbezogen, jedoch könnte auch ihnen  eine Art europäisches Initiativrecht zugestanden werden, um die Wirksamkeit der Mitgestaltung europäischer Politik zu erhöhen: Unter dem Stichwort „Grüne Karte“ wird das bereits diskutiert. Mit Blick auf das britische EU-Referendum hat der Europäische Rat Verabredungen getroffen, die es den nationalen Parlamenten leichter machen sollen, ein Regelungsvorhaben zu stoppen. Natürlich verfolgen wir diese Entwicklung mit Interesse, weil wir über den Bundesrat von ihr profitieren könnten. Lassen Sie mich aber auch klarstellen: solche Konstruktionen zugunsten nationaler Parlamente dürfen nicht dazu führen, dass die EU in ihrer Handlungsfähigkeit unverhältnismäßig eingeschränkt wird.

Die Entwicklung von Normen und Standards in Handelsabkommen wie TTIP, TiSAund CETA muss sich konsequent an demokratischen Prinzipien ausrichten. Die Definition dieser Standards und Zulassungsverfahren ist genauso wie ihre Weiterentwicklung allein Sache des demokratisch legitimierten Gesetzgebers. Die Landesregierung lehnt spezielle Investitionsschutzvorschriften und Streitbeilegungsmechanismen im Verhältnis Investor und Staat ab. Sollte ein vollständiger Verzicht nicht erreichbar sein, unterstützt Thüringen die Einrichtung eines dauerhaften, multilateral legitimierten und rechtstaatlichen internationalen Handelsgerichtshofs. Daran werden wir die Vorschläge der Kommission und auch etwaige Verhandlungsergebnisse messen. Dabei werden uns CETA, TTIP und andere Handelsabkommen wie das Dienstleistungsabkommen TiSA in einem Gesamtkontext beschäftigen.

Ich erinnere daran, dass nach Auffassung aller deutschen Länder TTIP und CETA der Zustimmung nicht nur des Europäischen Parlaments, sondern auch von Bundestag und Bundesrat bedürfen. Sie sind als sogenannte gemischte Abkommen einzuordnen, weil sie auch Gesetzgebungszuständigkeiten der Mitgliedstaaten betreffen. Beispiele sind der Investitionsschutz, das Verkehrsrecht, die Anerkennung von Berufsqualifikationen und der Arbeitsschutz. Aus diesem Grund bedürfen sie der mitgliedstaatlichen Ratifikation. In Deutschland wiederum ist nach unserer Überzeugung die Zustimmung des Bundesrats im Rahmen der Ratifikation erforderlich. Dies folgt entweder schon aus Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG, weil durch die Handelsabkommen Hoheitsrechte auch an die EU übertragen werden. Es folgt jedenfalls aber aus den nach Art. 59 Abs. 2 GG anwendbaren allgemeinen Regeln für die Ratifikation völkerrechtlicher Verträge.

Wir können unsere Mitwirkungsrechte bei TTIP nur dann voll wahrnehmen, wenn wir Zugang zu allen relevanten Informationen haben und wenn in Bezug auf die Verhandlungen größtmögliche Transparenz herrscht. Die Einrichtung des TTIP-Leseraums im Bundeswirtschaftsministerium ist kein Fortschritt sondern eine Mindestlösung. Sie reicht nicht aus für die Einlösung tatsächlicher Transparenz. Zudem ist der Zugang für die deutschen Länder derzeit auf Bundesratsmitglieder beschränkt.  Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Landesregierung bleibt der Zugang verwehrt. Das bedeutet eine bedenkliche Einschränkung unserer Informations- und Mitwirkungsrechte, die ungerechtfertigt ist. Mitarbeiter von Landesregierungen sind anders zu behandeln als beispielsweise Fraktionsmitarbeiter des Deutschen Bundestags. Kurzum: Macht die Türen des Leseraums weiter auf!

[EU-Haushalt und Kohäsionspolitik]

Ein anderer Themenkomplex, der in der laufenden Legislaturperiode für intensive Diskussionen sorgen wird, betrifft uns als Land finanziell ganz unmittelbar. Es geht um den nächsten Mehrjährigen Finanzrahmen der EU und dabei besonders um die Frage, wieviel Geld für die europäische Kohäsionspolitik nach 2020 nach Thüringen fließen wird.

Man muss kein Prophet sein, um Verteilungskämpfe von bisher unbekannter Härte vorherzusagen. Wir brauchen mehr Haushaltsflexibilität, um schneller auf neue Herausforderungen, wie sie jetzt die Flüchtlingspolitik darstellt, reagieren zu können. Die EU braucht eine stabile und gerechte Einnahmebasis. Von Seiten progressiver Ökonomen wird hierzu eine EU-Steuer ins Spiel gebracht. Und die Mitgliedstaaten werden nicht umhin kommen, einen neuen Konsens über die Schlüsselausgaben der EU zu finden.

Bislang fließt ein Großteil des EU-Haushaltes in die klassischen Ausgabenbereiche wie die Agrar- und die Kohäsionspolitik. Der Trend, diese Ausgaben weiter zurückzufahren, dürfte sich fortsetzen. Dabei müssen wir aufpassen. Wenn es mehr Geld für die europäische Flüchtlingspolitik oder für den Ausbau der europäischen Innovationspolitik geben soll – um zwei wichtige Beispiele zu nennen – sollten die Ausgaben nicht über zentrale EU-Programme fließen, sondern über dezentrale regionale Förderprogramme, wie den EFRE oder den ESF. Die europäische Strukturpolitik ermöglicht effektive regionale Lösungen für europäische Probleme. Das gilt auch für den ELER.

Die Thüringen aus den Struktur und Investitionsfonds zugewiesenen Mittel für die aktuelle Förderperiode sind erstmals stark rückläufig. Aber durch die Einordnung als sogenannte Übergangsregion fielen die Einschnitte weniger deutlich aus, als befürchtet. In dieser Förderperiode erhält Thüringen immerhin noch 2.344 Mrd. € aus den drei Struktur- und Investitionsfonds EFRE, ESF und ELER -  im Vergleich zu 2.853 Mrd. € in der vergangenen Förderperiode.

 Ziel der Landesregierung ist es, dass die ostdeutschen Länder auch in der nächsten Förderperiode eine Art Sonderstatus erhalten. Ja, wir haben wirtschaftlich stark aufgeholt, aber wir sind noch weit von einer selbsttragenden Wirtschaftsstruktur entfernt, die die stärker entwickelten Regionen kennzeichnet. Ich werde deshalb mit meinen ostdeutschen Kollegen alle Einflussmöglichkeiten nutzen, um eine übergangslose Absenkung der EU-Förderung auf das Niveau der stärker entwickelten Regionen zu verhindern.

[Europa braucht starke Regionen]

Sehr geehrter Herr Präsident,

sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete,

das zivil- und bürgerschaftliche Handeln basiert immer stärker auf regionalen Aktionsformen. Diese Entwicklung sollte eine europäische Region wie Thüringen als Chance und Auftrag begreifen. Wir alle – und damit meine ich Regierung und Parlament – müssen uns noch stärker als Mittler zwischen Europa und den Bürgerinnen und Bürgern engagieren. Denn starke Regionen sind ein weiterer wichtiger Baustein für ein demokratisches Europa. Unsere Verantwortung hat dabei zwei Seiten:

Erstens: Als Mittler haben wir den Auftrag, die Bürgerinnen und Bürger über Europa zu informieren, sie über komplexe Sachverhalte und Entscheidungsverfahren aufzuklären. Transparenz, Offenheit und Bürgernähe sehe ich als Leitbilder unserer europapolitischen Öffentlichkeitsarbeit. Das Europäische Informationszentrum (EIZ) nimmt hier eine zentrale Rolle ein. Es ist offen für alle Bürgerinnen und Bürger. Ich freue mich über jeden europakritischen Bürger, der den Weg in das EIZ findet. Denn nur wenn wir den Dialog suchen, können wir die Zukunft der europäischen Integration gestalten. Wir brauchen eine Diskussion über prägende Gemeinsamkeiten. Die schulische Bildung wird auch künftig ein Schwerpunkt der europäischen Informations- und Öffentlichkeitsarbeit sein – hier werden die Grundlagen für kulturelle Toleranz, Offenheit und Werteverbundenheit gelegt. Nur dann können EU-geförderte Austausch-, Partnerschafts- und Studienprogramme auf fruchtbaren Boden fallen. Sie sind gerade jetzt so wichtig wie nie zuvor.

Zweitens: Wir sind aufgefordert, den europäischen Einigungsprozess konstruktiv „von unten“ mitzugestalten und dem Subsidiaritätsprinzip als Beitrag zu mehr Bürgernähe in Europa Geltung und Achtung zu verschaffen. Der Thüringer Landtag und die Landesregierung haben das Subsidiaritätsfrühwarnsystem in Thüringen beispielhaft umgesetzt und damit Europa fest im parlamentarischen Alltag verankert. Lassen Sie uns gemeinsam daran arbeiten, dass die europapolitische Debatte hier im Parlament und im Land noch intensiver geführt wird.

[Mitgestaltung als gemeinsame Aufgabe]

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich versichere Ihnen, Thüringen wird engagiert für seine Interessen eintreten. Wir tun dies über den Bundesrat und die Europaministerkonferenz genauso wie über den Ausschuss der Regionen und über die Thüringer Landesvertretung in Brüssel. Unsere Möglichkeiten, Einfluss auf den Gang der Dinge in Brüssel und Straßburg zu nehmen, sollten wir nicht unterschätzen. Frühzeitiges, zielgerichtetes Agieren und die Suche nach strategischen Partnern bilden die Basis für erfolgreiches europapolitisches Handeln.

Dabei baut die Landesregierung auf die Unterstützung der demokratischen Kräfte in diesem Hohen Haus. Wir tun das in dem Bewusstsein, dass im Bereich der Europapolitik hier im Landtag in der Vergangenheit stets auch parteiübergreifend gedacht und gehandelt wurde. Die Arbeit des Europaausschusses und seines Vorsitzenden ist dafür exemplarisch. In diesem Sinne freue ich mich auf die Diskussion hier im Plenum und in den Ausschüssen. Ich würde es auch begrüßen, wenn der Landtag dabei den von der Landesregierung begonnenen Weg der Einbindung interessierter Bürgerinnen und Bürger fortsetzt.

Die Debatte zur Europastrategie fällt auch in die Zeit der britischen Brexit-Volksabstimmung. Lassen Sie uns hierfür streiten, dass Europa nicht ein Kuchen wird, von dem sich jeder ein Stück abschneidet, sondern ein Zukunftsversprechen, der Ort, der die notwendige Lehre aus dem Zeitalter der Extreme zieht, wie Eric Hobsbawm das kurze 20. Jahrhundert nannte: Völkerverständigung, Frieden, Freizügigkeit, Solidarität und Integration.

Vielen Dank!

Plenum online