11.07.2012
Benjamin-Immanuel Hoff, in leicht veränderter Form erschienen in: Berliner Republik Heft 3+4/2012, S. 34-38

Abschied ohne Rückfahrkarte

Die Piraten-Wähler entziehen sich der Logik des kleineren Übels endgültig

[1]

Die Piratenpartei ist der Aufsteiger des bundesdeutschen Parteiensystems schlechthin und lässt derzeit alle anderen Parteien alt aussehen. Binnen weniger Monate zogen sie in vier Landtage in Folge ein. Erreichte die Partei bei ihrem ersten Wahlantritt im Januar 2008 in Hessen 0,3%, meinten im April 2012 im DeutschlandTREND von Infratest dimap rund 50% der Befragten, es sei gut, wenn die Piraten nach der Bundestagswahl 2013 im Bundestag vertreten wären. Den Wiedereinzug der FDP in das höchste deutsche Parlament befürworteten in der gleichen Umfrage nur 36% der Befragten.

Wer anfangs glaubte, der Einzug in das Berliner Abgeordnetenhaus sei die logische Artikulation der „creative people“ und die Piratenpartei somit eine großstädtische Milieupartei, sah sich bei den Wahlen im Saarland, in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen eines Besseren belehrt. Die Piraten können in gleichem Maße im ländlichen Raum Südwestdeutschlands oder zwischen Nord- und Ostsee gewinnen, wie auch in Nordrhein-Westfalen, das hinsichtlich der sozialräumlichen und Wählerbezogenen Strukturen gemeinhin als „Kleine Bundesrepublik“ bezeichnet wird. Gerade beim Landtag NRW, den die Piraten quasi im Handstreich enterten, handelt es sich nicht um irgendein Landesparlament, sondern dasjenige, das für neue Parteien traditionell schwer zu erstürmen war. Selbst wenn in Rechnung gestellt wird, dass die Einführung des Zweistimmensystems die Chancen kleiner Parteien bei Landtagswahlen in NRW verbessert hat, ist ein Ergebnis von 8% im bevölkerungsreichsten Bundesland keine Selbstverständlichkeit und gerade deshalb die wohl beste Ausgangsplattform der Piraten, um sich auch im Bundestag zu verankern.

Gleichwohl bleiben die Piraten ein schillerndes neues Phänomen in der deutschen Parteienlandschaft und daher als Projektionsfläche für vielerlei Motive geeignet. Eine Vielzahl von Publikationen, die in der jüngeren Vergangenheit erschienen sind bzw. seitens der Verlage angekündigt werden, zeugen vom verbreiteten Interesse, dieses Phänomen zu ergründen.[2]

Ein neues Milieu, geprägt durch die digitale Revolution

Anders als die PDS 1990, die WASG 2005 oder DIE LINKE 2007 entwickelten sich die Piraten nicht durch Transformation einer bereits bestehenden Partei, durch Abspaltung oder Fusion, sondern gänzlich neu und mit dem Ziel, eine bestehende Repräsentationslücke im Parteiensystem (Zolleis/Prokopf/Strauch 2010: 7) auszufüllen.

Der Aufstieg der Piratenpartei erinnert insoweit an den Aufstieg der Grünen Ende der 1970er Jahre. Besetzten diese von den anderen Parteien vernachlässigte Themenfelder wie Umweltschutz und Frauen- bzw. Gleichstellungspolitik, repräsentieren die Piraten in Folge der »digitalen Revolution« neu entstandene Themen wie Netzpolitik, Informationsfreiheit und Partizipation mit den Mitteln der digitalen Kommunikation.

Um langfristig erfolgreich zu sein, reicht es freilich nicht, als erster am Thementisch zu sitzen. Denn Themen suchen sich ihre Parteien und erfahrungsgemäß reagiert das Parteiensystem mittelfristig auf thematische Veränderungen. Durch eine geschickte Positionierung werden verschiedene gesellschaftliche Konfliktlinien kombiniert, um Machtchancen zu verbessern.

Dass zwischenzeitlich die Mehrheit der Umweltminister/-innen in Bund und Ländern von CSU bis LINKEN gestellt wird, hat den Grünen nicht geschadet, sondern verweist auf weitere Bestimmungsmomente für parteipolitische Durchsetzungsfähigkeit.

Der Etablierung der Grünen lag die Herausbildung der damals neuen »postmaterialistischen« gesellschaftlichen Konfliktlinie (»Cleavage«), zugrunde. Charakteristisch an dem neuen Cleavage war, dass es weniger durch sozialstrukturelle als vielmehr Einstellungs- und Lebensstilmerkmale geprägt wurde und in Form des Umweltthemas , aus dem sich der Gegensatz Materialismus-Postmaterialismus speiste, quer zu den bestehenden kulturellen und ökonomischen Konfliktlinien lag. (Decker 2011: 82) Ein Grund dafür, warum die Grünen anfangs auf der links-rechts-Skala – ebenso wie die Piraten heute – nicht eindeutig zu verorten waren.

Vieles spricht dafür, dass sich in der deutschen Wählerschaft ein durch die digitale Revolution geprägtes Elektorat herausgebildet hat, mit einer eigenen Lebenswelt, das in der Piratenpartei seinen parteiförmigen Ausdruck sucht, da das herkömmliche Parteienspektrum dieses Milieu nur unzureichend oder gar nicht zu erfassen in der Lage ist. Wie gezeigt werden wird, ist die Tatsache, dass die Piraten in dieser Konstellation eine »Single-Issue-Party« darstellen, keineswegs ein Manko, sondern vielmehr Teil ihrer Authentizität. Sie geben freimütig zu, dass sie zu vielen Themen keine Meinung oder mehrere haben und präsentieren Entscheidungs- und Programmfindungsprozesse als »Open-Source-Demokratie«, die durch Schwarmintelligenz fortentwickelt wird.

Jung, männlich und konfessionslos

In der bereits vor zwei Jahren und insoweit vergleichsweise früh bei der Hanns-Seidel-Stiftung (HSS) erschienenen und schon deshalb verdienstvollen Studie »Die Piratenpartei. Hype oder Herausforderung für die deutsche Parteienlandschaft?« ordnen die Autoren die Wählerschaft der Piraten sozialen Milieus unter Rückgriff auf die Arbeiten des Heidelberger Sinus-Instituts zu.

Die »Landkarte« der Sinus-Milieus besteht aus einer Neun-Felder-Tafel, deren vertikale Achse die drei sozialen Lagen: »Unterschicht/Untere Mittelschicht«, »mittlere Mittelschicht«, »obere Mittelschicht/Oberschicht« beinhaltet und die horizontale Achse Grundorientierungen: »traditionelle Werte«, »Modernisierung«, »Neuorientierung«. Auf dieser zweidimensionalen Karte finden sich zehn Milieus, von denen HSS-Autoren bei den drei auf der Linie der »Neuorientierung (Multi-Optionalität, Experimentierfreude, Leben in Paradoxien)« liegenden Milieus (»Moderne Performer«, »Experimentalisten«, »Hedonisten«) sowie dem von der Linie der »Modernisierung« in die »Neuorientierung« reichenden Milieu der »Postmaterialisten «, Übereinstimmungen mit der Piratenwählerschaft finden (Zolleis/Prokopf/Strauch 2010: 26).

Bevor dies genauer ausgeführt wird, soll daran erinnert werden, dass soziale Milieus eine Beschreibung der in gewisser Hinsicht »künstlich« abgegrenzten und benannten Gruppen Gleichgesinnter darstellen, die im Zeitverlauf nicht stabil bleiben, sondern wachsen, schrumpfen, sich teilen, absterben oder neu entstehen (Neugebauer 2007: 17). Gleichwohl werden die 2010 veröffentlichten Annahmen zur Piraten-Wählerschaft bestätigt durch die sozio-strukturellen Erkenntnisse der Wahlstatistik aus den vier jüngsten Wahlkämpfen, bei denen die Piraten in Landtage einzogen. Sie sind in der im Anhang abgebildeten Tabelle ausgewiesen.

Die HSS-Autoren sehen eine mittelstarke Übereinstimmung mit den Postmaterialisten insofern, als die Piraten sich als „kultureller Vorreiter für die Verfügbarkeit von Wissen und kulturellen Gütern“ verstehen und somit „Freizeitinteressen und Sozialstruktur (Kreative, Intellektuelle, Jugendliche, Studierende) dieses Milieus“ abdeckt (Zolleis/Prokopf/Strauch 2010: ebd.).

Mit dem von der mittleren Mittelschicht bis zur Oberschicht reichenden Milieu der Modernen Performer weisen die Piraten im Hinblick auf hohen Bildungsgrad, den Anteil von Studierenden und Selbständigen und dem hohen Anteil an den unter 30-jährigen Deckung auf. Für dieses Milieu ist die Nutzung moderner Kommunikationsmittel selbstverständlicher Bestandteil des Alltags. Sie selbst verstehen sich laut HSS-Studie als „unkonventionelle, technologische und kulturelle Elite“, die Reglementierung im privaten und privaten Raum tendenziell ablehnend gegenüber steht (Zolleis/Prokopf/Strauch 2010: 27).

Die dritte Gruppe, die Hedonisten, ist hinsichtlich ihrer sozialen Lage zum überwiegenden Teile der Unterschicht/unteren Mittelschicht zugeordnet. In der Grundorientierung teilt sich diese Gruppe fast hälftig in Modernisierung und Neuorientierung. Zu den hedonistischen Milieus zählen auch die Experimentalisten, worunter eine stark individualistische neue Bohéme zu verstehen ist, die hinsichtlich ihrer sozialen Lage zur mittleren Mittelschicht zu zählen ist. In beiden Milieus können sich die kreativen, kulturellen Vorreiter von den Piraten angesprochen fühlen, wobei der Protestwähleranteil mit der niedriger werdenden sozialen Lage ansteigt (Zolleis/Prokopf/Strauch 2010: 27).

Wie bereits dargelegt lassen sich eine Reihe von Erkenntnissen der HSS-Studie als Erläuterungsfolie auf die zu den Landtagswahlen veröffentlichten Umfragedaten legen. Am Beispiel von Daten der Schleswig-Holstein-Wahl soll dies nachfolgend exemplifiziert werden.

Die vier wichtigsten wahlentscheidenden Themen für Piraten-Wähler im Nordwesten waren Soziale Gerechtigkeit (34%), Netzpolitik (26%), Schulpolitik (24%) und Arbeitsmarktpolitik (21%). Gemessen am Durchschnitt aller Wähler fällt die „Netzpolitik“ als besonderes Thema der Piraten heraus. Lediglich für die Wähler von SPD und LINKEN waren die vier im Durchschnitt aller Wähler wichtigsten wahlentscheidenden Themen Wirtschaftspolitik, Schulpolitik, Soziale Gerechtigkeit und Arbeitsmarktpolitik ebenfalls die wahlentscheidend. Alle anderen Parteien hatten wie die Piraten mindestens ein „Sonderthema“, CDU und FDP etwa die „öffentliche Verschuldung“.

Hinsichtlich der Einschätzung ihrer wirtschaftlichen und sozialen Lage unterscheiden sich die Piraten-Wähler gleich mehrfach von denen anderer Parteien bzw. dem Durchschnitt:

- Während 17% aller Wähler sich „große Sorgen“ um ihre wirtschaftliche Situation machen, sagte dies ein knappes Drittel der Piraten-Anhänger über sich.

- Nur 29% der Piratenwähler gaben an, von der wirtschaftlichen Entwicklung zu profitieren, während 35% aller Wähler und knapp die Hälfte der CDU- und FDP-Wählerschaft dies von sich behauptete.

- Gut die Hälfte der Piraten-Anhänger sah sich bei der „gesellschaftlichen Entwicklung“ auf der „Gewinner“-Seite, deutlich weniger als bei CDU, FDP und Grünen, etwa gleichauf mit den SPD-Anhänger/-innen.

- Die Frage „Sind sie zufrieden mit der Demokratie?“ beantworten 80% der CDU-Anhänger mit Ja, auch 73% der Grünen-Anhänger. Lediglich bei den Piraten war es, laut Infratest dimap, mit 43% eine Minderheit – wobei die LINKE-Anhänger nicht ausgewiesen wurden.

Die Herkunft der Piraten-Anhänger aus Schleswig-Holstein bestätigte, ebenso wie die spätere NRW-Wahl, die Ergebnisse aus Berlin und dem Saarland: Überdurchschnittliche Ergebnisse bei männlichen Erstwählern (20%), Wählern unter 45 Jahren generell, insbesondere bei männlichen Wählern unter 35 Jahren.

Die Wählerschaft der Piraten ist „jung, männlich, konfessionslos“, fasste Daniel Deckers in der FAZ vom 22. April 2012 prononciert zusammen. Hinzuzufügen wäre, dass die Anhänger der Piraten unzufrieden mit dem vorhandenen Parteienangebot und dem Zustand des politischen Systems sind. Stärker als der Durchschnitt betrachten sie ihre soziale Lage als prekär und blockiert, verbinden dies aber nicht mit einer Präferenz für klassische Arbeitsmarkt- oder sozialstaatliche Politikangebote, sondern mit Fragen der „Netzpolitik“ und der Transparenz und Offenheit, also den Partizipationsmöglichkeiten des politischen Systems. Die Hypothese, dass es sich bei der Piratenpartei um den politischen Arm eines neuen »Generationen-Projekts« handeln könnte, erhält weitere Bestätigung (Kahrs 2012: 6).

Worin drückt sich dieses Generationen-Projekt freilich aus? Ist »Protest« ein die Wahlmotive der Piratenanhänger ausreichend beschreibendes Motiv?

Die Erkenntnisse von Infratest dimap, aus den im Oktober 2011 und im April 2012 für den DeutschlandTREND durchgeführten Befragungen scheinen dieses Motiv zu bestätigen: Rund zwei Drittel der Befragten stimmten der Aussage zu, dass bei der Wahl der Piraten das Motiv, anderen Parteien einen Denkzettel zu verpassen, im Vordergrund steht. Gleichzeitig war die Zustimmung zu dieser Aussage rückläufig, während die Nichtzustimmung zu dieser Aussage etwas stärker zunahm, als die Zustimmung dazu abnahm.

Wiederum rund zwei Drittel sahen in den Piraten eine Wahlalternative für diejenigen, die sonst gar nicht zur Wahl gehen würden, während ein Drittel diese Aussage ablehnte. Während nur weniger als jeder Fünfte im Oktober 2011 der Aussage zustimmte, dass die Piraten eine echte Alternative zu den Mitte-Links-Parteien SPD, Grüne und LINKE seien, stimmte im April 2012 ein Drittel der Befragten der Aussage zu, die Piraten seien eine Alternative zu den etablierten Parteien generell.

In diesen Kontext von Interesse ist die politische Verortung der Piratenpartei durch die Wähler generell und die eigene Anhängerschaft im Speziellen, ebenfalls im DeutschlandTREND vom April 2012. Infratest dimap legte dabei das »Links-Rechts-Schema« zugrunde, bei dem die Links-Rechts-Einstufung auf einer Skala von 1 „links“ bis 11 „rechts“ für insgesamt sieben Parteien (die fünf im Bundestag vertretenen Parteien, wobei CDU und CSU gemeinsam erhoben werden zuzüglich NPD und Piraten) vorgenommen wird.

Die Piratenpartei wird durch die Wähler mit 4,6 dem linken Parteienspektrum zugeordnet, in unmittelbarer Nachbarschaft zu den Grünen. Die Anhänger der Piratenpartei verorten die Partei dagegen mit 5,2 genau auf der durchschnittlichen Selbsteinstufung der Gesamtbevölkerung und sich mit 5,1 in unmittelbarer Nachbarschaft dazu.

Nur ein Drittel der von Infratest dimap Befragten wollte im April 2012 den Piraten eine dauerhafte Rolle im bundesdeutschen parlamentarischen System zugestehen. Knapp zwei Drittel hielten die Partei für eine Zeiterscheinung. Bei den Piraten-Anhängern ist dieses Quorum naturgemäß spiegelverkehrt. Immerhin 36% der Piraten-Anhänger glaubten freilich nicht an einen dauerhaften Wahlerfolg der eigenen Partei.

Von den Anhängern der anderen etablierten Parteien waren im Frühjahr des Jahres diejenigen der LINKEN mit 57% am wenigsten bereit, die Piraten als eine parlamentarische Zeiterscheinung zu sehen. Die Anhänger von SPD und CDU waren sich mit 67% bzw. 68% diesbezüglich deutlich sicherer.

Ohne Ahnung und Programm? Piraten-Wähler stört das nicht

Gewählt und nicht gewählt wird eine Partei auf der Basis der Vorstellungen, die die Wählerinnen und Wähler sich über die Partei machen. Vorstellungen über eine Partei entwickeln sich selten in Kenntnis der Programmatik einer Partei. Viel wichtiger ist die Vorstellung darüber, »wofür eine Partei steht«, sind ihr Habitus, ihre Kultur und ihre Werte. Weiter spielt eine bedeutsame Rolle, welches Verhältnis die Partei zu den anderen Parteien einnimmt und welche positiven, negativen, verärgerten oder anpassenden Reaktionen der anderen Parteien auf einen Erfolg der Partei erwartet oder erhofft werden. Schließlich spielen bei der Wahlentscheidung vor der Kenntnis der Programmatik die Annahmen und Vorstellungen darüber eine Rolle, ob die Partei in der gesellschaftlichen Wirklichkeit, im Alltag geerdet ist und realitätstaugliche Angebote hat, bei denen man sich vorstellen kann, »dabei« zu sein.

Dass die Piratenpartei zu vielen Themen keine Position oder mehrere Meinungen hatte war zwar in den Augen der politischen Konkurrenz ein Makel, in den Augen der Bürger stellte dies jedoch kein Manko dar, sondern die programmatische Offenheit, die den etablierten Parteien als Taktik ausgelegt worden wäre, wurde als Alternative zu den fertigen politischen Menüs der anderen Parteien wertgeschätzt. Wer Partizipation schätzt, sah in den Piraten die Option, Politik als offenen Prozess zu gestalten.

Die Erfolge der Piratenpartei können insoweit als das Bedürfnis in Teilen der Wählerschaft gelesen werden, Bewegung im politischen Feld zu erzeugen. Die Partei in den Landtag und im Herbst nächsten Jahres vielleicht in den Bundestag zu bringen ist bereits die entscheidende Veränderung, weil sie neu ist und weil die anderen Parteien gezwungen sind, auf diese neue Option zu reagieren. Dass die Piratenpartei bis zur NRW-Wahl rot-grüne Optionen eher verschlechterte, machte sie in den Augen der Mitte-Links-Parteien zum »Steigbügelhalter der Union«, wenn auch ohne Vorsatz. In den Augen der Piratenanhänger stellte dies keinen Nachteil dar, erscheinen die erstarrten, bekannten, ausrechenbaren Konstellationen und Optionen zwischen den parlamentarisch etablierten Parteien doch als ausgereizt. Für diese Rolle der neuen Partei braucht es weder umfangreiche Programme noch kompetentes Personal. Ihre Wahl als einen »Denkzettel« an die anderen Parteien zu verstehen – als Abschiedsgruß ohne Rückfahrkarte trifft die Motivation deshalb vermutlich besser als Etiketten wie »Protestwahl«, mit der die Zustimmung zu jeder neuen Partei simplifiziert wird oder das den frühen Grünen entlehnte Motto der »Anti-Parteien-Partei«.

Das Bedürfnis nach einer Veränderung scheint in der Gesellschaft, zumal bei den unter 40-jährigen, weit verbreitet und geprägt von ideologischer Richtungslosigkeit im klassischen Sinn. Drückte sich zuvor die Auffassung, dass es so, wie es ist, nicht weitergehen kann, in der Wahl von Parteien auf den Polen „Markt/Individuum“ (FDP) oder „Staat/Gesellschaft“ (DIE LINKE) aus, so steht die Wahlentscheidung für die Piraten gegen die Abschottung des politischen Systems vom Alltag, gegen das »Politsprech«, für die Freiheit des Individuums und für gesellschaftliche, gemeinschaftliche Einrichtungen (Kahrs 2012: 1).

Das wirft die Frage nach den gesellschaftlichen Konfliktlinien, nach den blockierten Entwicklungspfaden auf, auf die durch die Wahl der Piraten aufmerksam gemacht werden soll. Schaut man auf die Themen, die mit den Piraten seit ihrer Gründung verbunden werden, so handelt es sich um große Themen wie Eigentum, Rechte des Individuums, Rechte der Produzenten und Bürger in einer technologisch radikal veränderten Produktionsweise. In der Betonung und Voraussetzung von Gemeineigentümern und der Priorisierung sozialer Gerechtigkeit als wesentliches wahlentscheidendes Motiv, kann die Piratenpartei als Wiedergeburt des Sozialliberalismus unter neuen gesellschaftlichen Bedingungen betrachtet werden. Dieser Sozialliberalismus wäre insoweit ein mögliches »Abfallprodukt« der Legitimationskrise des Neoliberalismus, eine Antwort auf seine »Auswüchse«: die Entdemokratisierung und Ökonomisierung bzw. das uneingelöste Versprechen entfalteter Individualität. Ein Ausbruch aus der scheinbaren Alternativlosigkeit von »Markt versus Staat« (Kahrs 2011: 5).

Meinen die etablierten Parteien, durch die Benennung netzpolitischer Sprecher in den Parlamenten und die Einführung internetbasierter Mitbestimmungsinstrumente den Bedürfnissen, die sich in der Wahl der Piratenpartei ausdrückt Rechnung zu tragen, liegen sie falsch. Die Piraten repräsentierten eine soziale Schicht, die sich in den Personen und Themen der anderen Parteien nicht wiedererkennen, weil sie quer zum Mainstream liegt – und keinen Grund (mehr) sieht, sich unter denen für das kleinere Übel zu entscheiden. Hier geht es nicht um Forderungen und Interessen, sondern um Werthaltungen, um Einstellungen und Habitus, um kulturelle Codes. Und gleichzeitig um die Eigentumsfrage in neuer Gestalt, nicht weil der Kapitalismus am Ende ist, sondern weil sich die technologische Struktur der Wertschöpfung und der Gesellschaft radikal verändert hat, weil etwa neue technologisch gestützte Produktions-, Distributions- und Konsumweisen entstanden sind, die die Eigentumsfrage in neuer Gestalt akut machen.

Verwendete Literatur:

Decker, F. 2011, Regieren im „Parteienbundesstaat“. Zur Architektur deutscher Politik, VS Verlag für Sozialwissenschaft, Wiesbaden.

Infratest dimap 2012, „Kurs Backbord!“ – aus Sicht der Wahlberechtigten segeln die Piraten im linken Parteienspektrum- Eine Verortung im Links-Rechts-Kontinuum, http://www.infratest-dimap.de/uploads/media/LinksRechts2012_01.pdf

Infratest dimap 2012, ARD-DeutschlandTREND April, http://www.infratest-dimap.de/umfragen-analysen/bundesweit/ard-deutschlandtrend/2012/april/

Infratest dimap 2011, ARD-DeutschlandTREND Oktober, http://www.infratest-dimap.de/umfragen-analysen/bundesweit/ard-deutschlandtrend/2011/oktober/

Kahrs, H. 2012, Die Wähler/-innenschaft der Piratenpartei, in: Hoff, B.-I./ders., Die Piratenpartei nach der Wahl zwischen Rhein und Ruhr – Themenausgabe des Wahlnachtberichts zur Landtagswahl in NRW, Berlin.

Kahrs, H. 2011. Die Piratenpartei auf Level 3, in: http://www.horstkahrs.de/wp-content/uploads/2011/11/2011-12-01-Ka-Piraten-Level-3.pdf

Neugebauer, G. 2007, Politische Milieus in Deutschland. Die Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung, Verlag JHW. Dietz Nachf., Bonn.

Zolleis U./Prokopf, S./Strauch, F. 2010, Die Piratenpartei. Hype oder Herausforderung für die deutsche Parteienlandschaft?, aktuelle analysen Nr. 55, hrsgg. von der Hanns-Seidel-Stiftung, München.


[1] Der vorliegende Text basiert wesentlich auf den gemeinsam mit Horst Kahrs, Referent für Sozialstrukturanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung, publizierten Themenausgaben zur Piratenpartei der von uns herausgegeben Wahlnachtberichte. Ich bedanke mich für die Erlaubnis einige seiner Überlegungen mit verwenden zu dürfen.

[2] Eine Auswahl: Bartels, H. 2009, Die Piratenpartei: Entstehung, Forderungen und Perspektiven der Bewegung, Contumax-Verlag; Zolleis, U./Prokopf, S./Strauch, F. 2010, Die Piratenpartei. Hype oder Herausforderung für die deutsche Parteienlandschaft?, aktuelle analysen Nr. 55, hrsgg. von der Hanns-Seidel-Stiftung; Häusler, M. 2011, Die Piratenpartei – Freiheit, die wir meinen – Neue Gesichter für die Politik, Scorpio-Verlag; Schilbach, F. 2011, Die Piratenpartei: Alles klar zum Entern?, bloomsbury; Wilde, A.-L. 2011; Piraten ahoi: Warum junge Menschen die Piratenpartei entern, BWV-Verlag; Niedermayer, O. 2012 (i.E.), Die Piratenpartei, VS Verlag für Sozialwissenschaften.