19.09.2011

Die Ergebnisse der Abgeordnetenhauswahl in Berlin am 18. September 2011 – Wahlnachtbericht und erste Analyse

Zusammenfassung des Wahlergebnisses und erste Bewertung

Die Wahlbeteiligungist um 2,2% auf 60,2% angestiegen. Hierfür sind vor allem die Piraten verantwortlich. Im Abgeordnetenhaus sind nun knapp 92% der gültigen Stimmen vertreten. Bei der Vorwahl waren fast 14% der Stimmen auf Parteien entfallen, die den Einzug ins Parlament nicht schafften.

Das neugewählte Abgeordnetenhaus wird nach dem vorläufigen Ergebnis und aufgrund eines Anstiegs an Ausgleichsmandaten aus 152 Abgeordneten bestehen. Ein Koalition benötigt damit eine Mindestzahl von 77 Mandaten zur Mehrheitssicherung.

Bei den Erststimmen (Direktmandete) gab es erhebliche Veränderungen, CDU und Grüne errangen Direktmandate hinzu, SPD und LINKE verloren. Für die LINKE halbierte sich die Zahl der Direktmandate.

Die rot-rote Landesregierung erhielt von den Berlinerinnen und Berliner kein Mandat für eine dritte Legislaturperiode, so dass die Zusammenarbeit von SPD und DIE LINKE nach zehn Jahren beendet werden wird.

Anders als bei den Erdrutschwahlen wie z.B. in NRW 2010 oder bei der Bundestagswahl 2009 lief die Regierungskoalition aus SPD und LINKEN schleichend aus. Rot-Rot wurde von den Berlinerinnen und Berlinern nicht durch massive Stimmenverluste abgestraft, sondern es fand ein Präferenzwechsel statt.

Ursache für diesen Wechsel ist das fehlende Vertrauen der Wähler/-innen in die Fähigkeit von Rot-Rot, die neuen Probleme der Stadt zu lösen, da es weder der SPD noch der LINKEN jeweils für sich und demzufolge auch nicht als Koalition gelang, eine stadtpolitische Idee für die kommenden Jahre glaubhaft zu entwickeln und überzeugend vorzutragen.

Mit „Berlin verstehen“ (SPD) und als „das Soziale“ (LINKE) warben beide Parteien für die Fortsetzung des Bewährten und vernachlässigten dabei in den Augen der Wähler/-innen, was sich in der Stadt getan hatte und welche neuen Anforderungen daraus entstanden. Exemplarisch ist das erfolgreiche „Wasser-Begehren“ (Transparenz, Politikstil) oder die Mieten-Frage (soziale Ausgrenzung statt „eine Stadt“) zu nennen.

Last but not least verlor das amtierende Regierungsbündnis seine Mehrheit nicht durch die Zugewinne der Grünen, sondern vielmehr durch den Höhenflug der Piraten, die erstmals in einem Landesparlament vertreten sind.

Die SPD wird in einem rot-grünen oder rot-schwarzen Regierungsbündnis weiterhin den Regierenden Bürgermeister stellen. Der bisherige und wohl auch künftige Amtsinhaber Klaus Wowereit hat seinen Wahlkreis verloren und wird in der kommenden Wahlperiode dem Abgeordnetenhaus von Berlin nicht mehr als Parlamentarier angehören wird. Wahlrechtlich entstehen daraus keine Hürden, da der Regierende Bürgermeister weder vor noch nach der Wahl dem Parlament als Mitglied angehören muss.

Die Wählerinnen und Wähler bevorzugen ein Bündnis aus SPD und Grünen (vgl. IV.e.), das sich jedoch nur auf die denkbar knappe Mehrheit von einer Stimme stützen kann, während ein Bündnis aus SPD und CDU mit 87 Mandaten ein deutliches Polster zur Verfügung hat.

Das Bündnis aus CDU und FDP in Schleswig-Holstein zeigt, dass eine solche Landesregierung stabil regieren kann. Gleichzeitig werden neben inhaltlichen Aspekten in der Abwägung beider Parteien über die Chancen und Risiken eines solchen Bündnisses die Erfahrungen der laufenden Wahlperiode Eingang finden. Von der LINKEN wechselte ein Abgeordneter mit Mandat zur SPD, während eine SPD-Abgeordnete zu den Grünen übertrat, mit dem Ergebnis, das eine Grüne-Abgeordnete im Gegenzug die Reihen der SPD verstärkte, die wiederum einen Neuzugang aus der FDP begrüßen konnte, gleichzeitig aber einen Abgeordneten aus ihren Reihen ausschloss, der als fraktionsloser Abgeordneter das gleiche Schicksal teilte wie ein Abgeordneter, der aus der CDU-Fraktion ausgeschlossen wurde und zu denen sich ein weiterer Abgeordneter gesellte, der aus freien Stücken die CDU-Fraktion verließ.

Einem Bündnis aus SPD und CDU stehen die Erfahrungen der Großen Koalition der 90er Jahre gegenüber – die Widerstände innerhalb der Berliner SPD gegen ein solches Bündnis sind beträchtlich. Angesichts der Tatsache, dass vier von fünf Fraktionen aus dem Mitte-Links-Spektrum kommen, dürfte die stadtpolitische Akzeptanz einer neuen Großen Koalition gering sein.

Denkbar wäre theoretisch auch ein Bündnis aus den Parteien SPD, Grüne und LINKEN. Die drei Parteien würden mit 98 Stimmen eine deutliche Parlamentsmehrheit vereinigen. Ein Drei-Parteien-Bündnis, bei dem eine Partei nicht zwangsläufig zur Mehrheitssicherung gebraucht wird, gilt gemeinhin als unnötig und deshalb verzichtbar. Die Geschichte des Berliner Parteiensystems (vgl. III.a) zeigt, dass bis weit in die 1960er Jahre die SPD – trotz der Fähigkeit zu Alleinregierungen – mit CDU und FDP Bündnisse einging und das Parteiensystem damit auf Kooperation statt auf Konkurrenz ausrichtete.

Die Piraten sind der Wahlsieger des Abends. Erstmals ziehen sie in ein Landesparlament ein, und dies nicht zu knapp. Ihren Erfolg errangen sie im „linken Lager“, bei den kleineren Parteien und bei den Nichtwählern.

Der Erfolg hat zwei Gesichter: einerseits das Gesicht von Themen (Datenschutz, Urheberrecht u.a., Transparenz in der Verwaltung und Politik, Politikstil) und andererseits das Gesicht von Protest gegen die anderen Parteien, von etwas Neuem und Überraschenden und der sich ausbreitenden Lebens- und Wahrnehmungswelt der „digital natives“.

Die Piraten werden künftig mit 15 Abgeordneten (14 männlich, eine weiblich) im Abgeordnetenhaus von Berlin sowie mit 56 Bezirksverordneten in allen 12 Bezirksverordnetenversammlungen vertreten sein. Dabei ist zu beachten, dass 14 von den 15 künftigen Mitgliedern des Abgeordnetenhauses auch ein Mandat für Bezirksverordnetenversammlungen erworben haben. Da zwischen der Mitgliedschaft im Abgeordnetenhaus und der Mitgliedschaft in einer BVV eine Inkompatibilität besteht, die Landesliste der Piraten jedoch über keine Nachrücker verfügt, dürfte es – sofern in den Bezirken gleichfalls keine Nachrücker/-innen gewählt wurden – dazu kommen, dass in einzelnen BVVen theoretisch besetzbare Plätze frei bleiben. Im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg könnte dies dazu führen, dass die Piraten bei acht theoretisch zu besetzenden BVV-Mandaten, drei inkompatiblen Parallel-Mandaten im Abgeordnetenhaus im Falle fehlender Nachrücker/-innen nicht nur die Zahl der Mandate auf fünf absinkt, sondern der den Piraten zustehende Posten eines Bezirksstadtrates (Dezernenten) auf die LINKE übergehen würde, die auf diesem Wege den Verlust ihres bisherigen Stadtratsposten zu kompensieren in der Lage wäre (s.u.).

Die SPD sind von 30,8% auf 28,3%. Sie bleibt mit einem Vorsprung von nur noch fünf statt fast zehn Punkten stärkste Partei im Land, verliert jedoch im Saldo – entgegen dem eher Üblichen - leicht an den kleineren Regierungspartner, vor allem aber an CDU, Grüne und Piraten. Das wichtigste Ergebnis für die SPD stand schon vor dem Wahltag fest. Sie würde stärkste Partei bleiben und nicht von den Grünen verdrängt werden.

DIE LINKE hat gegenüber der Vorwahl gut 14.000 Stimmen verloren und erreichte statt 13,4% nur noch 11,7%. Die größten Verluste erlitt sie im Ostteil der Stadt (-17.000 Stimmen, -5,5%). Mit 22,6% der Stimmen erzielte sie ihr schlechtestes Ergebnis überhaupt in Ostberlin.

Verloren hat DIE LINKE nicht zu Gunsten des Regierungspartners – im Gegenteil. Sie konnte Stimmen von der SPD und den Nichtwähler/-innen gewinnen. Verloren hat sie an Grüne und CDU in geringem Maße, vor allem aber an die Piraten – vor allem im Ostteil der Stadt.

Vermutlich auch damit im Zusammenhang stehen die unterdurchschnittlichen Ergebnisse bei den unter 45jährigen Wähler/-innen und den Erstwähler/-innen. Insbesondere dies zeigt, dass die Partei die Bindung an eine jüngere Wählerschicht verloren zu haben scheint. Deren Anliegen spiegelten sich weder in der Wahlkampagne der Landespartei noch in den von der Bundespartei in die Medien transportierten Themen wider.

Gelang es der PDS bei den Wahlen 1995 bis 2001 in Ostberlin faktisch alle Wahlkreise zu gewinnen, verlor DIE LINKE bei dieser Wahl ihre Ostberliner Wahlkreishochburgen und schafft es in nur sieben Wahlkreisen direkt zu gewinnen. Der Spitzenkandidat und bisherige Wirtschaftssenator Harald Wolf und die Sozialsenatorin Carola Bluhm können ihre Wahlkreise verteidigen. Die Gesundheits- und Umweltsenatorin Katrin Lompscher schafft es hingegen nicht den Wahlkreis zu gewinnen und ist zum Einzug in das Abgeordnetenhaus auf ihren Listenplatz angewiesen. Die weiteren direkt gewählten Abgeordneten der LINKEN sind die bisherigen Abgeordneten Wolfgang Brauer, Wolfgang Albers und Gabriele Hiller sowie die Parlamentsneulinge Regina Kittler und Manuela Schmidt.

Bei den Zweitstimmen wurde die Partei in keinem Bezirk mehr stärkste Partei. Im gesamten Ostteil der Stadt setzte sich die SPD auf Platz 1 – mit Ausnahme von Friedrichshain-Kreuzberg, wo die Grünen diesen Platz eroberten.

In den westlichen Bezirken verbesserte sich DIE LINKE leicht von 4,2% auf 4,3% (plus 2.500 Stimmen) - vor allem durch die Zugewinne in Neukölln (5,6%). In den anderen Westbezirken blieb die Partei z.T. deutlich unter der 5%-Grenze.

Bei der Bezirksverordnetenwahl wurde DIE LINKE in Marzahn-Hellersdorf und Lichtenberg wieder stärkste Partei, aber mit deutlich geringerem Vorsprung. Insgesamt wird DIE LINKE in 11 der 12 Bezirksverordnetenversammlungen mit insgesamt 89 Verordneten vertreten sein. Davon entfallen allein 65 Mandate auf die Bezirke Pankow (11), Lichtenberg (20), Marzahn-Hellersdorf (19) sowie Treptow-Köpenick (15). Im Bezirk Mitte und möglicherweise in Friedrichshain-Kreuzberg wird DIE LINKE künftig keinen Dezernenten (Bezirksstadtrat) mehr stellen können. Insgesamt kann sie nur noch Anspruch auf sieben, höchstens acht Bezirksstadträt/-innen erheben.

Die Grünen verfehlen ihre Wahlziele deutlich. Renate Künast kann sich gegen Klaus Wowereit nicht durchsetzen, die Partei bleibt weit davon entfernt, stärkste Partei zu werden. Sie landet deutlich hinter der CDU. Gleichzeitig können die Grünen fast fünf Prozentpunkte hinzugewinnen. Die Kurskorrektur von Renate Künast – Absage an die CDU – hielt den Rückgang in den Umfragen nicht mehr auf.

Von allen Parteien hatten die Grünen den größten Abfluss zu den Piraten. Renate Künast und die Berliner Grünen standen für Vieles, nicht aber für die Themen der Piraten wie Netzsperren, Bürgerrechte, Datenschutz. Sie sind ebenfalls kein „Gegenmodell zu den pseudo-professionellen Parteien“ (L. Maroldt), von denen man sich als die „andere“ Partei die Politik zurückholen will.

Die Grünen setzen mittlerweile auf die Professionalität von Personen, das Gegenmodell der Piraten setzt auf die „Schwarm-Intelligenz“ der politischen Amateure und Dilettanten (der virtuellen politischen Heimwerker), also auf Einstellungen und Sichtweisen, die sich lange Zeit auch mit den Grünen verbanden.

Die CDU behauptet sich mit Frank Henkel als Spitzenkandidat. Ihm ist es gelungen, die CDU wieder in das politische Geschäft des Landes zurückzuführen, die Berliner Union gilt wieder als koalitionsfähig. Sie gewinnt, auch Dank Henkel, im Ostteil der Stadt hinzu (von 11,4% auf 14,2%).

Die FDP hat erneut eine katastrophale Niederlage erlitten. Ein weiteres Landesparlament wird ohne sie auskommen, wie in Berlin bereits zweimal in den neunziger Jahren. Die erneute Wahlschlappe der FDP wird vermutlich große bundespolitische Auswirkungen auf die Stabilität und Ausrichtung der Bundesregierung haben. Beide Regierungsparteien kommen in Berlin auf gerade ein Viertel der Wählerstimmen.

Parteichef Rösler hat in der Euro-Krise zehn Tage vor der Berliner Wahl eine Debatte mit erkennbar national-populistischem Hintergrund angefangen. Für den Ausgang der Berliner Wahl konnte sie kaum Wirkung entfalten, aber auf mittlere Sicht könnte hier ein Feld gefunden sein, auf dem sich die FDP mit Blick auf die nächste Bundestagswahl neu erfinden könnte, zumal sie am Wochenende Zuspruch von einigen angesehenen Ökonomen erhielt. Damit wären weitere Auseinandersetzungen in der Bundesregierung vorprogrammiert, zumal in den kommenden Tagen und Wochen ohnehin die Frage, wie eigentlich ein 2-3 Prozentpartei das Land gut mitregieren kann, an medialem Gewicht gewinnen wird.

Die rechten Parteien blieben auch in der Summe unter fünf Prozent. Allerdings erreicht die NPD immerhin wieder 2,1% (zuvor 2,6%), Pro Deutschland 1,2% und Die Freiheit von R. Stadtkewitz 1,0%.

Auf Ebene der Bezirksverordnetenversammlungen gelingt es der NPD trotz gesunkener Zustimmung mit jeweils 2 Bezirksverordneten in Lichtenberg, Marzahn-Hellersdorf und Treptow-Köpenick vertreten zu sein.