23.01.2009

"totgeschwiegen 1933-1945. Die Geschichte der Wittenauer Heilstätten"

Grußwort zur Eröffnung der restaurierten Ausstellung im Haus 10 des Vivantes-Klinikum Gelände in Reinickendorf

Anrede,

im Namen des Berliner Senats begrüße ich Sie zur heutigen feierlichen Eröffnung der wichtigen Ausstellung totgeschwiegen 1933-1945. Die Geschichte der Wittenauer Heilstätten, seit 1957 Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik und danke den Veranstaltern für die Gelegenheit, ein kurzes Grußwort an Sie zu richten.

"Obwohl zumindest seit 1986 bekannt und belegt, ist es bis heute unbegreiflich, daß der Plan und die Durchführung des gesamten deutschen Völkermordprogramms das Werk von Ärzten war". Mit diesen Worten von Henry Kristal leitet Christoph Kopcke das vor einigen Jahren erschienene Buch "Medizin und Verbrechen" ein. Kopcke stellt dar, dass die Vielzahl von Veröffentlichungen der vergangenen Jahre über die Rolle der Medizin im Nationalsozialismus das Bild jener Epoche geschärft und sichtbar gemacht hat, wie umfassend Mediziner an den Verbrechen des Nationalsozialismus beteiligt waren und wie stark die Medizin von antihumanen, antisemitischen und antidemokratischen Denktraditionen und Haltungen durchdrungen war. Er legt dar, dass der Titel seiner Festschrift für Walter Wuttke "Medizin und Verbrechen" keine Gegenüberstellung suggerieren soll, sondern vielmehr die oft alltägliche Verbindung einer verbrecherischen Medizin, der Rolle von Medizinern nicht nur als Hitlers willige Helfer, sondern als Vordenker und Planer.

Hier verknüpfen sich Erfahrungen die Walter Wuttke, einer der wenigen Wissenschaftler, die frühzeitig und immer wieder auf die verbrecherische Rolle der Medizin und der Psychiatrie im Nationalsozialismus hingewiesen haben, mit den erschütternden Dokumenten, die die Arbeitsgruppe zur Erforschung der Geschichte der Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik, zu Tage gefördert haben.
Walter Wuttke stieß in den siebziger Jahren auf eine Mauer der Abwehr, der Tabuisierung und nicht selten auf aggressive Schuld- und Erinnerungsabwehr. Martina Krüger beschreibt in ihrem Beitrag über die Tötung behinderter Kinder in der Kinderfachabteilung Wiesengrund den Fall eines ehemaligen Patienten, der Strafanzeige gegen den Leiter der Kinderfachabteilung Dr. Hefter und weitere Mitarbeiter erstattet hatte. Nicht nur, dass es in diesem Verfahren nie zu Verurteilungen kam, reichte die personelle Kontinuität so weit, dass es einem ehemaligen Mittäter der Kinderfachabteilung, Dr. Kujath gelang, gemeinsam mit dem damaligen Bezirksamt Reinickendorf, das frühere Opfer, den ehemaligen Patienten, vorübergehend in eine psychiatrische Klinik in Düsseldorf zwangseinzuweisen.*** Die Krankenunterlagen des Patienten, die 1965 noch vorhanden waren, waren seitdem verschollen.

Angesichts dieser langen und erschütternden kollektiven Verdrängung ist es um so bedeutsamer, dass die Vivantes GmbH - als Rechtsnachfolgerin der ehemaligen Karl-Bonhoeffer-Klinik - sich in vorbildlicher Art und Weise der historischen Verantwortung dieser Einrichtung stellt. Sie trägt mit anderen dafür Sorge, dass die dunkle Epoche der Klinikgeschichte zwischen 1933 und 1945 nicht verdrängt wird und in Vergessenheit gerät.
Begonnen hat diese Aufarbeitung bereits vor 25 Jahren mit der Entscheidung des damaligen Leiters der Klinik, Dr. Bernd-Michael Becker, die Geschichte der Klinik in der NS-Diktatur in einer Arbeitsgruppe, die von Dr. Götz Aly begleitet wurde, aufzuarbeiten. 1988 wurde die Ausstellung erstmalig gezeigt. In einem ausstellungsbegleitenden Buch wurde dokumentiert, wie die ehemaligen Wittenauer Heilstätten in die Durchführung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses und in die "Euthanasie"-Verbrechen der NS-Zeit einbezogen waren.

Seit der zweiten Auflage des ausstellungsbegleitenden Buches wird die Kontroverse um die historische Bewertung von Karl-Bonhoeffer dokumentiert. Diese Kontroverse zeigt die Schwierigkeiten in der Bewertung von handelnden Akteuren. Bonhoeffer war, wie die Arbeitsgruppe darstellt, kein Vertreter nationalsozialistischer Rassenideologie, wie beispielsweise Ernst Rüdin, der 1939 vermerkte, dass es das Verdienst des Psychiaters gewesen sei, "Staat und Partei auf die ungeheuren Erbgefahren aufmerksam gemacht" zu haben. Die Bekämpfung dieser Gefahr sei eine "Großtat des deutschen Staates und Volkes".
An Bonhoeffer zeigt sich jedoch, wie nahtlos die herrschende Meinung in der Psychiatrie und deren Denkmodelle sich in die nationalsozialistische Ideologie einfügten, sie ergänzte und weiterentwickelte.
Viele Gedanken der Erb- und Rassenkunde waren bereits vor 1933 gedacht, die Grundlagen der Sterilisation - nicht nur in Deutschland - gesetzlich geschaffen, wenn auch die Begründungen wechselten. Selbst fortschrittliche politische Kräfte konnten sich der Attraktivität eugenischer Maßnahmen nicht entziehen. Auch in katholischen und besonders in protestantischen Kreisen wurde die rassenhygienische Sterilisierung propagiert. "Rassenhygienische" Überlegungen durchdrangen die Sozial- und Gesundheitspolitik und führten insbesondere in der Psychiatrie zur Entwicklung humanitätsabgewandter Vernichtungsprogramme. Die Nationalsozialisten haben in Ansätzen und Umrissen schon vorhandene Konzepte für die "Ausmerzung der Minderwertigen" radikalisiert und mit beispielloser Konsequenz in die Wirklichkeit umgesetzt.

Ich bin bereits auf die kollektive Tabuisierung, Abspaltung und Verdrängung nach 1945 eingegangen. Andreas Heinze von der Charité Berlin verweist in seinem Beitrag der Wuttke-Festschrift "Psychopathen und Volksgenossen - Zur Konstruktion von Rasse und Gesellschaftsfeinden" auf ein tieferliegendes Problem. Die alten Erklärungsmuster wirken untergründig fort und können je nach Bedarf reaktiviert werden. Manche Auswüchse der Debatte um die Zukunft des Sozialstaats, die Kosten des Gesundheitswesens und die Kriminalitätsbekämpfung zeigen uns dies.

Die gegenwärtige und zukünftige Psychiatrie kann nur begriffen, der gesellschaftliche Diskurs nur gestaltet werden, wenn die Vergangenheit nicht vergessen und ausgeblendet wird. Die Auseinandersetzung mit diesem Kapitel unserer Psychiatrie soll das Bewusstsein zukünftiger Generationen gegenüber der Gefahr einer möglichen Wiederholung schärfen. Die Präsentation der Ausstellung mit neuen medialen Darstellungsformen richtet sich daher vornehmlich an junge Menschen, Schüler, Studenten und Auszubildende.

Der Trägerverein "totgeschwiegen e.V." sieht es als seine zukünftige Aufgabe an, durch unterschiedliche Informations- und Bildungsveranstaltungen sowie die Einbindung in ein Vermittlungs- und Bildungsnetzwerk insbesondere junge Menschen an die Thematik der Vernichtung sog. "lebensunwerten Lebens" in den Jahren zwischen 1933 und 1945 heranzuführen.

Mit der restaurierten und heute eröffneten Ausstellung totgeschwiegen 1933 - 1945. Die Geschichte der Wittenauer Heilstätten hier auf dem Gelände wird ein einzigartiges Zeitdokument in modernisierter und aktualisierter Form präsentiert und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, dem ich viel Zuspruch, Aufmerksamkeit wünsche und von dem ich mir weitere Aufklärung erhoffe.
Ich komme damit zum Ende, danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und übergebe das Wort an Frau Bezirksbürgermeisterin Wanjura. Vielen Dank.

Weitere Informationen
Die Webseite der Ausstellung finden Sie hier

***"Neuere Informationen ergaben, daß Dr. Kujath an der Einweisung des Anzeigenden in eine psychiatrische Klinik nicht persönlich mitwirkte. Der betreffende ehemalige Patient hatte vielmehr einen auf Dr. Kujath bezogenen Drohbrief direkt an das Bezirksamt Reinickendorf (und nicht an Kujath persönlich) adressiert. Daraufhin wurde auf dem Amtswege seine Einweisung in Gang gesetzt." (Vgl. Arbeitsgruppe zur Erforschung der Geschichte der Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik (Hrsg.) 2002, totgeschwiegen 1933-1945. Zur Geschichte der Wittenauer Heilstätten. Seit 1957 Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik, S. 287)