08.09.2013

Zur politischen Debatte über das unbedingte Grundeinkommen

Buchbeitrag von Benjamin-Immanuel Hoff zur Debatte um das Grundeinkommen

Im Rahmen der fünften Sommerakademie, die der Verein Academia Philosophia Iuris zusammen mit dem Leipziger Institut für Grundlagen des Rechts durchführte, referierte Benjamin-Immanuel Hoff "Zur politischen Debatte über das unbedingte Grundeinkommen".

Der Beitrag ist nunmehr unter dem Titel "Zur politischen Debatte über das unbedingte Grundeinkommen" erschienen in: Klesczewski/Müller-Mezger/Neuhaus (Hrsg.) 2013, Von der Idee des Gemeinbesitzes zum Projekt eines unbedingten Grundeinkommens.

Zur politischen Debatte über das unbedingte Grundeinkommen

Zwei kleine aufeinander aufbauende Vorbemerkungen seien mir gestattet:

1) Die Grundeinkommensdebatte ist kein ausschließliches Thema der Linken – im Gegenteil. In unterschiedlicher Form, genannt sei das Bürgergeld und die negative Einkommensteuer, haben sich auch Liberale oder ausgewiesene Neoliberale dieses Themas wohlwollend angenommen. Naturgemäß mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Innerhalb der Gewerkschaften wird das Thema Grundeinkommen wiederum sehr kritisch und insbesondere die Bedingungslosigkeit des Grundeinkommens sehr ablehnend diskutiert – auch wenn an der gewerkschaftlichen Basis andere Stimmen zu vernehmen sind.

2) Sie haben sich mit mir einen Referenten ausgesucht, der der politischen Linken nahesteht, dem Erich Fromm und André Gorz also näher sind als Milton Friedman und dessen Chicagoer Schule. Dies wird meine Ausführungen sicherlich prägen.

Ein kleiner Blick in meine berufliche und wissenschaftliche Vita zeigt – ich bin kein ausgewiesener Experte der Sozialpolitik einschließlich des Bedingungslosen Grundeinkommens. In allen Teilsysteme, in denen ich mich aufhalte, begegne ich dem Thema Grundeinkommen, das den politischen Diskurs zwar nicht hegemonial prägt aber aus diesem auch nicht wegzudenken ist. Was mich interessiert ist vor allem die Rolle des bedingungslosen Grundeinkommens in der politischen Debatte. Wer, wie ich, an radikalreformerischer Politik interessiert ist, muss eine Sympathie für diejenigen Themen haben, die geeignet sind, den Spielraum gegenwärtiger politischer Handlungsmöglichkeiten, z.B. gesellschaftlicher Umverteilung, immer weiter, Stück für Stück zu erweitern. Das Bedingungslose Grundeinkommen ist dafür nicht nur ein Beispiel, sondern Vorbild.

Soweit zu den Vorbemerkungen. In den nachfolgenden Ausführungen möchte ich mich der politischen Debatte über das unbedingte respektive bedingungslose Grundeinkommen in drei Schritten nähern.

Schritt 1: Wer über das Grundeinkommen sprechen möchte, kann von der Arbeitsgesellschaft nicht schweigen. Also von dem Typus, in dem jede gesellschaftliche Existenz immer als abhängig gedacht wird von Arbeit als Lohnarbeit und dies in einer spezifisch industriegesellschaftlichen Bestimmung. Dieser Typus steckt freilich in einer Krise, weil weder die in den seinen impliziten Regeln enthaltene Pflicht zur Arbeit, als auch das Recht auf Erwerbsarbeit nicht mehr eingelöst werden kann.

Dies führt zum Schritt 2: über diejenigen zu sprechen, die aus der Lohnarbeit ausgegrenzt sind. Solange die Arbeitsgesellschaft der Erwerbsarbeit fast anthropologische Qualitäten zuschreibt und das bloße Faktum des Arbeit-Habens eine geradezu umstandslose Positivierung erfährt, werden diejenigen, die aus strukturellen Gründen keine Arbeit finden können gesellschaftlich desintegriert und demoralisiert.

Damit ist der Verständnisrahmen gespannt, der uns die Möglichkeit gibt, im dritten Schritt die politische Debatte über das Grundeinkommen verstehen zu können, die sich im Wesentlichen um die Frage dreht: Alternativen jenseits und ggf. gegen den Mythos der Arbeitsgesellschaft oder als funktionale Anpassung der Arbeitsgesellschaft im Sinne von Nachhaltigkeit und Geschlechtergerechtigkeit.

Meine Hauptthese lautet also: Alle Debatten um die Höhe des Grundeinkommens, der Finanzierung seiner Einführung und die daraus folgenden steuerpolitischen Erfordernisse sind zwar wichtig, um ein Grundeinkommen tatsächlich politisch gestaltbar zu machen und gleichzeitig Ersatzdebatten bei denen bislang immer noch die Frage im Vordergrund stand, ob es opportun ist, Menschen zu bezahlen für die Nichtteilhabe an der Erwerbsarbeit. Ich werde darauf im dritten Schritt zurückkommen.

Was wir tun, wenn wir tätig sind

Im Jahre 1958 veröffentlichte Hannah Arendt ein Buch unter dem Titel »The Human Condition«, das in Deutschland als »Vita activa oder vom tätigen Leben« bekannt ist. Ich möchte am Beginn meiner Ausführungen auszugsweise aus dem Vorwort dieses Buches zitieren. Nicht weil Hannah Arendt auch zu den Protagonistinnen der Grundeinkommensdebatte gehört, sondern weil Vita activa uns auf die Frage nach der Zukunft der Arbeit und den Perspektiven einer Gesellschaft führt, die sich als Arbeitsgesellschaft definiert und ihre Teilsysteme, wie z.B. die Institutionen sozialer Sicherung auf die Erwerbsarbeit konstituierend ausgerichtet hat, diesem Selbstverständnis freilich nicht mehr Rechnung tragen kann.

Arendt formulierte: „Wir wissen bereits, ohne es uns doch recht vorstellen zu können, dass die Fabriken sich in wenigen Jahren von Menschen geleert haben werden und dass die Menschheit der uralten Bande, die sie unmittelbar an die Natur ketten, ledig sein wird, der Last der Arbeit und des Jochs der Notwendigkeit. (…) So mag es scheinen, als würde hier durch den technischen Fortschritt nur das verwirklicht, wovon alle Generationen des Menschengeschlechts nur träumten, ohne es jedoch leisten zu können. Aber dieser Schein trügt. Die Neuzeit hat im siebzehnten Jahrhundert damit begonnen, theoretisch die Arbeit zu verherrlichen, und sie hat zu Beginn unseres Jahrhunderts (also des 20. Jahrhunderts – BIH) damit geendet, die Gesellschaft im Ganzen in eine Arbeitsgesellschaft zu verwandeln. Die Erfüllung des uralten Traums trifft wie in der Erfüllung von Märchenwünschen auf eine Konstellation, in der der erträumte Segen sich als Fluch auswirkt. Denn es ist ja eine Arbeitsgesellschaft, die von den Fesseln der Arbeit befreit werden soll, und diese Gesellschaft kennt kaum noch vom Hörensagen die höheren und sinnvolleren Tätigkeiten, um deretwillen die Befreiung sich lohnen würde. (…) Was uns bevorsteht ist die Aussicht auf eine Arbeitsgesellschaft, der die Arbeit ausgegangen ist, also die einzige Tätigkeit auf die sie sich noch versteht. Was könnte verhängnisvoller sein?“[1]

Arendt schlägt angesichts dessen, wie sie meint, etwas „sehr Einfaches“ vor. „Es geht mir um nichts mehr, als dem nachzudenken, was wir tun wenn wir tätig sind.“

Bezogen auf unser Thema könnte in diesem Sinne formuliert werden, dass wer über bedingungsloses Grundeinkommen sprechen möchte, von der Arbeitsgesellschaft nicht schweigen darf. Wenn freilich über die Arbeitsgesellschaft gesprochen wird, ist in der Regel die Rede von den Umbrüchen der vergangenen dreißig-vierzig Jahre, also dem Ende des „kurzen Traum immerwährender Prosperität“[2] im fordistischen Akkumulationsregime hin zu demjenigen Akkumulationsregime, das bislang gemeinhin als Postfordismus bezeichnet wird.

»Arbeitslosigkeit in der Arbeitsgesellschaft«

Ich schlage einen anderen und für unser Thema fruchtbringenderen Weg vor: Über »Arbeitslosigkeit in der Arbeitsgesellschaft«[3] zu sprechen.

Es gehört zu den bislang ungelösten Widersprüchen unserer Gesellschaft, dass seit mehr als einem Vierteljahrhundert in Deutschland ein erheblicher Kernbestand an offener und verdeckter struktureller Arbeitslosigkeit herrscht, der – das ist allen Beteiligten, also Betroffenen, wie Unternehmen und staatlicher Arbeitsmarktpolitik resp. Arbeitsvermittlungsbürokratie klar – nicht aufgehoben werden kann. Eine Vollbeschäftigung im herkömmlichen Sinne wird es nach derzeitigem Ermessen nicht mehr geben (können).

Und obwohl die auf Vollbeschäftigung ausgerichteten sozialen Sicherungssysteme und arbeitsmarktpolitischen Integrationskonzepte angesichts der Erosion der Lohnarbeit ihre Funktionsbestimmung kaum noch erfüllen können, ist auch in den sogenannten Arbeitsmarktreformen jüngerer Zeit die Verpflichtung zur Arbeit konstituierend enthalten. Nach den Regelungen des ALG II müssen Langzeitarbeitslose jeden legalen Job annehmen. Die Ablehnung einer als zumutbar beschriebenen Arbeit oder Eingliederungsmaßnahme geht mit Sanktionen in Form von Leistungskürzungen einher. Diese indirekte Verpflichtung, verstanden als „Aktivierung“ der Arbeitslosen, ist ein über Deutschland hinausreichendes Phänomen des Wandels des Wohlfahrtsstaates „from Welfare to Workfare“.

Doch bereits 2004 stellte Opielka in den in ihrem Reader enthaltenen Literaturtipp die Frage: „Müssen tatsächlich 4,5 Millionen Arbeitslose ‚aktiviert‘ werden? Sind sie inaktiv, faul, träge? Davon kann nicht die Rede sein: Die Mehrheit der Langzeitarbeitslosen bemüht sich teils verzweifelt um einen Job und leidet – vor allem mit Kindern – unter der Stigmatisierung kaum weniger als unter der Geldknappheit.“[4]

Arbeitslosigkeit im heutigen Sinne ist ein relativ junges gesellschaftliches Phänomen, dessen Herausbildung mit der Entstehung der bürgerlichen Erwerbsgesellschaft verbunden ist. Hannah Arendt hat im zitierten Text den Beginn dieser Entwicklung auf das 17. Jahrhundert gelegt. Jene Zeit, in der die für die Herausbildung des Kapitalismus zwingend erforderliche Neubewertung der Arbeit, in Form von Zucht und Arbeitshäusern oft gewaltsam durchgesetzt und die Nicht-Arbeit mit Bezug auf die protestantische Ethik[5] sozial stigmatisiert wurde.

Die sich zu dieser Zeit herausgebildete Gleichsetzung von Armut, Arbeitsscheu und Arbeitslosigkeit wirkt unterschwellig bis heute fort.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stieß diese Gleichsetzung freilich auf Grenzen. Zwar war die Vergesellschaftung über Lohnarbeit zu diesem Zeitpunkt noch nicht überall durchgesetzt, doch gab es zunehmend „Lohnarbeitswillige“, die nicht auf traditionelle soziale Sicherungssysteme zurückgreifen, aber nur in konjunkturellen Spitzenzeiten auf die Beteiligung an Lohnarbeit hoffen konnten.

Im Ergebnis wurden seitdem Erwerbslose getrennt von den Armen erfasst und bei Aufrechterhaltung der Ächtung der Nichtarbeit, die Erwerbslosigkeit als erzwungenes zeitweises Phänomen betrachtet, die subjektunabhängige Ursachen habe und nicht allein auf „moralische Mängel“ reduziert werden konnte.

Von wesentlich größerer Bedeutung hingegen war die Einordnung von Arbeitslosigkeit als ein ordnungs- und sozialpolitisches Problem, das sowohl zur Linderung des faktischen Elends wie auch im Hinblick auf die Aufrechterhaltung der über Arbeit bestimmten Vergesellschaftung gelöst werden musste. Die Entstehung staatlicher Unterstützung der Arbeitslosen ist in diesem Sinne zu lesen.

Zur über Arbeit bestimmten Vergesellschaftung gehört freilich ein weiteres Moment, das die politische Debatte zum Grundeinkommen bis heute bestimmt: die emphatische Stilisierung der Arbeit als zentralem gesellschaftlichem Wert durch Gewerkschaften und Arbeiterbewegung. „Was aus Sicht des Bürgertums heilige Pflicht war, forderte alsbald die Arbeiterbewegung als ihr Recht. Das Recht auf Arbeit“,[6] bei dem nach Walter Benjamin „die alte protestantische Werksmoral (…) in säkularisierter Form (…) ihre Auferstehung feierte.“[7]

Insofern ist, überspitzt ausgedrückt, zwar die Kritik der Lohnarbeit als Herrschaftsinstrument, wie Marx sie formulierte, nicht aber die Kritik an der über Arbeit bestimmten Vergesellschaftung Gegenstand der Positionierung von Gewerkschaften und sozialdemokratischen wie sozialistischen Parteien. In ihrem Fokus steht der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit.

Dies freilich in ambivalenter Form, denn so wie auf der einen Seite, die Arbeit fundamentale Daseins- und Wesensbestimmung des Menschen sei, dem Beschäftigten im Übrigen auch Würde gibt, ist sie andererseits geprägt durch Arbeitsbedingungen, die vielfach zu Recht als unzureichend, krankmachend und unwürdig gekennzeichnet werden. Die gewerkschaftliche Kampagne „Gute Arbeit“ setzt an dieser Stelle die Erkenntnisse der vormaligen Projekte zur Humanisierung der Arbeitswelt fort.

Insofern überrascht es nicht, dass die Forschung über Arbeitslosigkeit ebenfalls im Wesentlichen in zwei Stränge unterteilt werden kann:

- Zum Einen die Forschung über die Konsequenzen von Dauerarbeitslosigkeit, die individuellen Verarbeitungsformen und gesellschaftlichen Konsequenzen dauerhafter „Aussteuerung“ aus dem als gesellschaftlich für normal erklärten Erwerbsarbeitsverhältnis,

- Zum Anderen die Diskussion von Maßnahmen zur Verhinderung bzw. dem Abbau von Arbeitslosigkeit, bei denen die „individuellen Folgen der Arbeitslosigkeit allenfalls als Kosten- und Legitimationsproblem“[8] behandelt werden.

Während der zweite Strang lange Zeit, in der Wahrnehmung und auch hinsichtlich der eingesetzten Forschungsförderungsmittel dominierte, wurde dem ersten Strang seit Ende der 1990er Jahre, wie bereits im Gefolge der Rezession von 1974/75 mehr Bedeutung geschenkt, wovon eine große Zahl an Publikationen zu den Themen Prekariat, Underclass und neuen Formen der Ausgrenzungen zeugt.[9] Auch die Arbeitslosigkeitsforschung ist, wie sich zeigt, konjunkturabhängig.

Neue Dimensionen von Arbeitslosigkeit und Ausgrenzung

Betrachten wir also die neuen Formen von Arbeitslosigkeit und Ausgrenzung in Form eines Zwischenfazits.

Arbeitslosigkeit ist eine Normalerscheinung kapitalistischer Akkumulation. Der Arbeitsmarkt muss, wie Ganßmann festhält, als Exklusionsmechanismus wirken, damit eine kapitalistische Ökonomie nach ihren eigenen Maßstäben, also im Sinne von Gewinnmaximierung und Akkumulation, normal funktioniert. Zum einen, weil mit Arbeitslosigkeit Lohnansprüche begrenzt und Arbeitsplatzdisziplin durchgesetzt werden kann und weil andererseits Innovationen mit Strukturwandel einher gehen, womit Freisetzungen und veränderte Beschäftigungschancen verbunden sind.[10]

Arbeit ist in der modernen Gesellschaft nicht nur Medium sozialer Integration, sondern auch Vehikel von Ausgrenzung und Diskriminierung.[11] Während für die einen die Verknüpfung von Lohnarbeit, materieller Reproduktion und gesellschaftlicher Statuszuweisung positiv gültig bleibt, wird sie für die zweite Gruppe allein negativ wirksam, nämlich als Abdrängung in eine Schattengesellschaft, die durch Armut und soziale Kontrolle bestimmt ist.

Wie die jüngere Ausgrenzungsforschung zeigt, ist diese Zweiteilung zu ergänzen. Diejenigen, die an der Erwerbsarbeit teilhaben, differenzieren sich im industriellen Sektor in Kern- und Randbelegschaften, bei denen letztere als »Working Poor« häufig von dieser Erwerbsarbeit nicht mehr leben können. Andere Forschungen beschreiben den neuen »Arbeitskraftunternehmer«[12] als Ergebnis des häufigen Phasenwechsels zwischen Erwerbsarbeit und Arbeitslosigkeit. Die Qualität dieses neuen Typus von Arbeitskraft, wird durch die Aspekte

- Selbstkontrolle,

- Selbstökonomisierung,

- Selbstrationalisierung

erfasst, wobei in der Debatte dieser Entwicklung weniger unternehmerische Selbstbestimmung im Mittelpunkt der Betrachtung steht, sondern vielmehr die Betreffenden als Tagelöhner ihrer eigenen Arbeitskraft.

Mit der Massenarbeitslosigkeit werden die Widersprüche innerhalb des Beschäftigungssystems ergänzt und überlager von einer Spaltung zwischen» innen und außen«, zwischen abgestufter Teilhabe an und weitgehendem Ausschluss von Gratifikationen der Arbeitsgesellschaft. Das »Oben und Unten« wird ergänzt und möglicherweise verschärft durch eine Trennung von »Drinnen und Draußen«.[13]

Nun hat es die »relative Überbevölkerung«, wie Marx die Gruppe der Arbeitslosen bezeichnet seit Anbeginn kapitalistischer Akkumulation gegeben, wie auch Ganßmann verdeutlicht hat. Als Reservearmee üben sie Druck auf die Beschäftigten und deren Ansprüche auf Verbesserungen bei Entlohnung, Arbeitsbedingungen und –zeiten aus. Neu ist deshalb, dass die Überflüssigen diese Funktion sukzessive nicht mehr ausüben können, weil sie als Reserve nicht mehr benötigt werden. Und neu ist, dass es strukturell verfestigte Bestandteile dieser Gruppe gibt, die Generationen übergreifend nicht mehr oder überhaupt nie die Chance einer Teilhabe am Erwerbsleben bekommen und in ihrer sozialen Isolation faktisch ohne Perspektive sind.

Kommen neben dauerhafter Armut, Phänomene der Entfremdung gegenüber der gesellschaftlichen Mehrheit, Ablehnung geltender Normen und Werte, abweichendes Verhalten und räumliche Zugehörigkeit zu Armutszonen hinzu, wird zum Teil von einer neuen »Unterklasse« gesprochen.[14]

Wege aus der Arbeitslosigkeit, Arbeitszeitverkürzung und Grundeinkommen

Wenn nun Vollbeschäftigung im traditionellen Sinne nicht mehr herstellbar sein wird und im Übrigen, worauf hier nicht weiter eingegangen werden soll – aus ökologischen Gründen im Hinblick auf das vorherrschende Wachstumsparadigma auch gar nicht wünschenswert ist –, erscheint es naheliegend, die enge Verknüpfung von Lohnarbeit und Arbeitsorientierung bzw. Lohnarbeit und materieller Absicherung zu lockern. Auf diesem Wege bestünde die Möglichkeit, die im bestehenden Sicherungssystem enthaltenen Ungleichheits- und Blockadesysteme aufzulösen[15] und darüber hinaus Antworten auf das zunehmend an Bedeutung gewinnende Bedürfnis nach verstärkter Zeitsouveränität zu finden.

Die in der politischen Debatte befindlichen Vorschläge tragen dem in unterschiedlicher Form Rechnung. Als Begriffe treffen wir dabei auf Grundeinkommen, Existenzgeld, Bürgergeld, Grundsiche­rung, Mindesteinkommen oder Mindestlohn.

Hinter diesen Begriffen verbergen sich vielfach recht unterschiedliche Vorstellungen davon, wie eine Mindest­sicherung im Sozialstaat künftig organisiert sein soll und inwieweit eine Abkehr von der impliziten Verpflichtung zur Arbeit damit verbunden ist:

- Wie hoch soll sie sein?

- Wie stark individualisiert?

- Bedarfsgeprüft oder nicht bedarfsgeprüft (und wenn ja wie)?

- Gekoppelt an Arbeitspflichten und die Ver­fügbarkeit für den Arbeitsmarkt oder bedingungslos?

- Ergänzend zu den anderen Sozialsystemen oder als Ersatz?

- Flankiert durch Mindestlöhne oder an deren Stelle?

Je nachdem wie diese Fragen beantwortet wer­den, stellt sich das daraus abgeleitete Modell einer Grundsicherung bzw. eines Grundeinkommens höchst unterschiedlich dar, verfolgt unterschiedliche – teilweise sogar konträre – sozial- und arbeitsmarktpoli­tische Zwecke und beinhaltet dementsprechend unterschiedliche gesellschaftspolitische Implikationen.[16]

Wollen die einen eine weitgehende Entkopplung von Arbeit und Einkommen, streben die anderen die Integration aller in Erwerbsarbeit – notfalls auch im Nied­rig- und Niedrigstlohnsektor – an. Geht es manchen zuvorderst um Armutsbekämpfung, streben andere ein Grundeinkommen als soziales Menschenrecht auf Teilhabe und als materielle Grundlage für die Wahlfrei­heit zwischen Erwerbsarbeit und anderen Tätigkeiten an. Wo die einen im Grundeinkommen einen Schutz gegen Lohnsenkung und Deregulierung sehen, betrachten die anderen ein an Arbeitspflichten gekoppeltes Mindesteinkommen als Vehikel zur Ausweitung des Niedriglohnsektors und zu weiterer Deregulierung.

Die Modelle der Grundeinkommenssicherung können analytisch auch nach den aus der internationalen Sozialpolitikdebatte bekannten Typen des Wohlfahrtsregimes unterschieden werden: dem liberalen Regime mit Fokus auf das Steuerungssystem „Markt“, dem sozialdemokratischen bzw. sozialistischen Regime, das auf staatliche Steuerung setzt, dem konservativen Regime, das gemeinschaftliche Steuerung bevorzugt und schließlich dem „garantistischen“ Regime, das auf soziale Grundrechte (als legitimierende Werte) abhebt.

Für ein Grundeinkommen, das allen in existenz­sichernder Höhe, als individueller Leistungsanspruch ohne Bedürftigkeitsprüfung und Zwang zur Arbeit, unabhängig von vorher geleisteten Beitragszahlungen gewährt wird, fordert das bundesdeutsche Netzwerk Grundeinkommen, das sich im Juli 2004 gegründet hat, um die Debatte um ein bedingungslo­ses Grundeinkommen in Deutschland zu befördern (siehe www.grundeinkommen.de).

Das Grundeinkom­men soll Armut überwinden und gesellschaftliche Teilhabe sicherstellen. Es soll eine soziale Absicherung unabhängig von Arbeitsmarkt- und Familienstatus gewährleisten. Es soll Phasen der Nichterwerbstätigkeit absichern, aber auch die Freiheit ermöglichen, dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung zu stehen und zwi­schen verschiedenen Tätigkeiten wählen zu können. Es strebt also eine weitest mögliche Entkopplung von Lohnarbeit und Tätigkeit an.

Dabei lassen sich zwei Varianten unterscheiden:

- die Sozialdividende, bei der jedem Mitglied der Gesell­schaft unabhängig von seinem bzw. ihrem Einkommen und Vermögen ein Grundeinkommen gezahlt wird, und

- die negative Einkommenssteuer, bei der nur diejenigen ein Grundeinkommen erhalten, deren Einkom­men unterhalb einer bestimmten Grenze bleibt.

Das Sozialdividendenmodell wird z.B. von der katholischen Arbeitnehmerbewegung (KAB) vertreten, die allen Bürgern (gestaffelt nach Alter) ein Grundeinkommen zukommen lassen will.

Die Bundes­arbeitsgemeinschaft der Sozialhilfeinitiativen (BAG-SHI) fordert ein Existenzgeld, das oberhalb des KAB-Grundeinkommens liegt und um die Warm­miete ergänzt wird.

Dem Eigentümer der dm-Drogeriekette Götz Werner, schweben bis zu 1.200 ¤ pro Person vor.

Unterschiede bestehen jenseits der Höhe darin, dass die einen (so etwa Götz Werner) den gesamten Sozialstaat (also auch die Sozialversi­cherungssysteme) durch ein Grundeinkommen ersetzen wollen, die anderen nur die bedarfsgeprüften Leistungen (so etwa die KAB und die BAG-SHI).

Abgesehen vom Modell der KAB, die als Gegenleistung von jedem/jeder BezieherIn 1500 Stunden Tätigkeit nach der so genannten Triade der Arbeit (Erwerbsarbeit, Familienarbeit oder ehrenamtliche Arbeit) jährlich erwartet, sind Sozialdividendenmodelle bedingungslos in dem Sinne, dass sie nicht an eine Gegenleistung durch Erwerbsarbeit oder andere Arbeit gekoppelt sind. Auch sind sie per definitionem nicht bedarfs- oder einkommensgeprüft.

Dagegen erhält bei der negativen Einkommenssteuer nur die Person ein Grundeinkommen, deren Ein­kommen unterhalb einer bestimmten gesetzlich zu definierenden Schwelle bleibt. Geringfügige Einkom­men werden bis zu dieser Schwelle durch eine steuerliche Gutschrift aufgestockt. Wie die Sozialdividende wird das Grundeinkommen nach der negativen Einkommenssteuer aber individuell gezahlt und ist nicht an Arbeitsbereitschaft geknüpft.

Negative Einkommenssteuern können aber nicht nur dem Zweck eines von Erwerbsarbeit entkoppelten Grundeinkommens dienen, sondern bei entsprechender Ausgestaltung auch als Kombilohnmodelle fun­gieren, die strikt auf den Arbeitsmarkt bezogen bleiben.

Das Bürgergeld der FDP stellt ein solches Modell dar. Zwar werden in diesem Modell alle bedarfsgeprüften Einkommenstransfers in einem zusammengefasst und die Verwaltung dieses Universaltransfers aus der Verantwortung der Sozialbehörden in die Hände der Finanzbehörden gegeben, was zu einer deutlichen Verringerung des Stigmas bedarfsgeprüfter Leistun­gen beitragen dürfte.

Das liberale Bürgergeld bleibt aber strikt an die Verfügbarkeit für den Arbeitsmarkt gebunden. Zudem ist es – wie Hartz IV – nicht existenzsicherend, so dass der Druck, eine Arbeit aufzuneh­men auch ohne administrativen Arbeitszwang hoch ist.

Im Gegensatz zu den vorgestellten Grundsiche­rungs- und Grundeinkommensmodellen, die das Angebot an Arbeitskräften durch eine von Erwerbsarbeit entkoppelte Absicherung verringern wollen, strebt das Bürgergeld – ähnlich wie die Grundsicherung für Arbeitssuchende – die Integration aller in Erwerbsarbeit durch eine Ausweitung des Niedriglohnsektors an.

Die Löhne, die dann in vielen Fällen nicht mehr zum Leben reichen, sollen durch das Bürgergeld auf­stockt werden. Es fungiert also weniger als Lohnersatz-, sondern eher als »Lohnergänzungsleistung«.

Einen anderen Ausweg aus der bestehenden Misere beschreiben die Gewerkschaften mit ihrer Orientierung auf eine radikale Arbeitszeitverkürzung, die freilich als Instrument zur Wiederherstellung von Vollbeschäftigung unter Einschluss einer Höherbewertung von Reproduktionstätigkeit zu verstehen ist und einen Lohnausgleich zumindest für die geringer entlohnten Berufsgruppen vorsieht.

Eine »kurze Vollzeit für alle« schlagen wiederum diejenigen umwelt- und entwicklungspolitischen Organisationen vor, die das Wuppertal Institut für Klima, Umwelt und Energie beauftragten, die Studie »Zukunftsfähiges Deutschland in einer globalisierten Welt« vorzulegen.[17]

Wohin wird die politische Debatte führen? Dies ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht abzusehen. Solange die Zentralität der Arbeit für das ganze Leben und die Verabsolutierung der Erwerbstätigkeit zur Arbeit schlechthin, zwei Seiten der gleichen Medaille darstellen, werden die Grundeinkommensbefürworter egal wie gut sie rechnen und argumentieren können, mit dem tief verwurzelten Bewusstsein konfrontiert sein, dass nicht essen soll, wer nicht arbeitet.

Wir reden folglich über das Alltagsbewusstsein der Bevölkerung. Also die Überzeugungen von Menschen als entscheidende Felder der Auseinandersetzung und zugleich materielle Kräfte, über die Hegemonie hergestellt werden kann. Die von Antonio Gramsci betonte Hegemonie als Konsens, der gesellschaftlich getragen wird, nimmt im Alltagshandeln Gestalt an. Menschen reproduzieren die als „normal“ anerkannten Verhältnisse durch ihr alltägliches Handeln in Repräsentation, Sprache, Ausgrenzungen etc. Die Tatsache, dass in jüngeren Umfragen einerseits staatliche Regulierung und Maßnahmen gegen die Boni von Managern breite gesellschaftliche Zustimmung finden, bedeutet andererseits keineswegs eine Abkehr von Zustimmung z.B. zu drakonischen Repressionen gegenüber Arbeitslosen, Hartz IV-Familien und Migrant/-innen, insbesondere ohne legalen Aufenthaltsstatus, als vermeintlichen Sozialschmarotzern.

Solange darüber hinaus die bestehenden Organisationen der Erwerbstätigen, also die Gewerkschaften, sich nicht auf eine politische Strategie verständigen, die eine Verknüpfung von Grundeinkommen und radikaler Arbeitszeitverkürzung vorsehen, fehlt diejenige Vermittlungsinstitution, die die Interessen der Erwerbslosen mit den Ansprüchen der Erwerbstätigen wirkungsmächtig verknüpft. Es ist derzeit nicht zu erwarten, dass die Akteure auf gewerkschaftlicher und Grundeinkommensseite sich in diesem Sinne verständigen möchten.

Nur in dieser Verknüpfung bestünde freilich m.E. die Chance, die bei aller Kritik in den geltenden Hartz IV-Regelungen enthaltenen aber nicht wirksamen emanzipatorischen Anknüpfungspunkte zur Geltung bringen zu können und im gesellschaftlichen Diskurs eine Bewusstseinsänderung im Hinblick auf den Arbeitsmythos zu erreichen.

Das aus den Wachstumsjahren der Nachkriegs-BRD stammende Instrumentarium der Bearbeitung von Arbeitslosigkeit ist in den 90er Jahren im Zuge der Vereinigung gescheitert: „Sein Funktionsprinzip ist nicht Re-Integration in die doppelt freie Lohnarbeit, die wird reiner Schein, sondern in ein Zwangssystem sozialer Segregation durch Maßnahmeschleifen, verordnetes Beschäftigungstraining (…) behördliche Kontrolle der Lebenswelt bei sinkenden Einkommen und Teilhabechancen“[18]. Aber Segregation als Prinzip sozialer Ordnung ist ein Rückfall hinter den universellen Anspruch der Moderne, wie Rainer Land hervorhebt.

Für anstrebenswert halte ich eine moderne Form des Rechts auf Arbeit: Alle haben ebenso ein Recht auf einen fairen Anteil an bezahlter Erwerbsarbeit wie auf einen fairen Anteil an disponibler Zeit. In diesem Sinne soll Grundeinkommen mit einem universellen und für jede und jeden gleichen faktischen Zugang zu Erwerbsarbeit verbunden sein. Ein solches Grundeinkommen würde das Prinzip der „kurzen Vollzeit“ stützen. Die so gewonnene Zeit würde aber nicht dem Staat oder über Subventionen den Unternehmen, sondern den Individuen selbst zur Disposition gegeben. „Dies würde die Kraft des lebensweltlichen Eigensinns der Menschen gegenüber der Welt des Wirtschafts- und Politiksystems in der Substanz stärken[19], wie Rainer Land formuliert.


[1] Hannah Arendt 1996 (1967), Vita activa oder Vom tätigen Leben, München-Zürich, S. 12ff.

[2] Vgl. Burkart Lutz 1989 (1984), Der kurze Traum immerwährender Prosperität. Eine Neuinterpretation der industriell-kapitalistischen Entwicklung im Europa des 20. Jahrhunderts. Frankfurt/Main / New York.

[3] Vgl. Wolfgang Bonß/Rolf G. Heinze (Hrsg.) 1984, Arbeitslosigkeit in der Arbeitsgesellschaft, Frankfurt am Main.

[4] Michael Opielka 2004, Grundeinkommen statt Hartz IV, in Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 9, S. 1082.

[5] Vgl. Max Weber 1996 (1904/05), Die protestantische Ethik und der „Geist“ des Kapitalismus, Weinheim.

[6] Johano Strasser 1982, Arbeit und Menschenwürde. Wohin geht die Leistungsgesellschaft, in: L`80, Heft 21, S. 5.

[7] Walter Benjamin (1940), Geschichtsphilosophische Thesen, zitiert in: Bonß/Heinze, a.a.O., S. 12.

[8] Bonß/Heinze, a.a.O., S. 15.

[9] Vgl. beispielhaft Sebastian Herkommer (Hrsg.) 1999, Soziale Ausgrenzungen. Gesichter des neuen Kapitalismus, Hamburg.

[10] Heiner Ganßmann 1999, Arbeitsmarkt und Ausgrenzung, in: Herkommer, a.a.O., S. 103.

[11] Ingrid Kurz-Scherf 1995, Krise der Arbeitsgesellschaft. Irrwege und Auswege, in: Dietmar Dathe (Hrsg.), Wege aus der Krise der Arbeitsgesellschaft, Berlin, S. 64.

[12] Vgl. Hans J. Pongratz/Günter Voß 2003, Arbeitskraftunternehmer: Erwerbsorientierungen in entgrenzten Arbeitsformen, Berlin.

[13] Herkommer, a.a.O., S. 12f.

[14] Kritisch dazu: Max Koch 1999, Ausbeutung und Ausgrenzung. Das Konzept der „Underclass“, in: Herkommer a.a.O., S. 35-59.

[15] Bonß/Heinze a.a.O., S. 36.

[16] Katrin Mohr, Grundsicherungs- und Grundeinkommenskonzepte in der aktuellen Debatte, http://www.archiv-grundeinkommen.de/mohr/Doku_Grundsicherung_Web.pdf.

[17] BUND/Brot für die Welt/Evangelischer Entwicklungsdienst (Hrsg.) 2008, Zukunftsfähiges Deutschland in einer globalisierten Welt. Ein Denkanstoß zur gesellschaftlichen Debatte. Eine Studie des Wuppertal Institut für Klima, Umwelt und Energie, Frankfurt am Main, S. 434ff.

[18] Rainer Land 2007, Grundeinkommen und Vollbeschäftigung, in: Berliner Debatte Initial, Heft 2/2007, S. 74.

[19] Land, a.a.O., S. 83.